# taz.de -- Das war die Berlinale: Viele Worte für die eine Sache | |
> Die Wettbewerbsbeiträge waren kaum der Rede wert. An der | |
> Programmgestaltung lässt sich für die neue Leitung also durchaus ein | |
> Profil entwickeln. | |
Bild: Dieter Kosslick (re.) ein letztes Mal als Chef auf der großen Bühne | |
Bevor es losging, hieß es erst einmal Abschied nehmen. Die Leinwand auf der | |
Bühne im Berlinale-Palast zeigte für ein paar Minuten das riesige | |
Schwarz-Weiß-Konterfei des Schauspielers Bruno Ganz, dessen Tod wenige | |
Stunden vorher vermeldet geworden war. „Wir denken an alle, die heute nicht | |
hier sein können“, hatte die Moderatorin Anke Engelke das Gedenken an den | |
großen Schweizer Darsteller angekündigt. Zuletzt war er 2017 in gleich zwei | |
Filmen bei der Berlinale zu sehen gewesen, im Wettbewerb in Sally Potters | |
Sozialsatire „The Party“ und in Matti Geschonnecks Literaturverfilmung „In | |
Zeiten des abnehmenden Lichts“. | |
Doch nicht nur Bruno Ganz fehlte oder war „im Himmel über Berlin“, wie | |
Engelke in den Worten des scheidenden Berlinale-Direktors Dieter Kosslick | |
sagte. Auch der chinesische Regisseur Zhang Yimou war nicht unter den | |
Gästen der Abschlussgala am Samstag. Sein Film „One Second“ war, als erster | |
Film in der Geschichte der Berlinale, aus dem laufenden Wettbewerb | |
„entfernt“ worden. Die „technischen Gründe“, von chinesischer Seite als | |
Grund genannt, haben mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu tun, dass der | |
Film zu Zeiten der chinesischen Kulturrevolution spielt und daher | |
politische Befindlichkeiten zu dem kurzfristigen Rückzieher geführt haben. | |
„Wir vermissen diesen Film zutiefst hier auf der Berlinale“, hieß es in | |
einer Erklärung, die die Jury-Präsidentin Juliette Binoche verlas, bevor | |
die Bären vergeben wurden. Dass der Hauptpreis, der Goldene Bär, dann an | |
Nadav Lapids israelischen Beitrag „Synonymes“ ging, war dabei | |
wahrscheinlich gewesen – so viel ernstzunehmende Konkurrenz gab es dieses | |
Jahr nicht, jedenfalls nicht mit allzu großen Erfolgsaussichten. Dennoch | |
hinterließ die Entscheidung einen gemischten Beigeschmack. | |
Der Filmemacher Nadav Lapid, der selbst nach Paris gezogen ist, hat einen | |
zum Teil autobiografischen Spielfilm über einen jungen Israeli, Yoav, | |
beigesteuert, der in Frankreich seiner israelischen Identität zu entkommen | |
versucht. Yoav wird dazu eingangs in einer surrealen Szene in einer | |
riesigen leeren Wohnung in eine Art Wiedergeburt „gestoßen“: Nachdem er | |
geduscht hat und die Kamera währenddessen sehr deutlich markiert, dass Yoav | |
beschnitten ist, sind plötzlich seine Sachen weg. Nachbarn aus dem Haus | |
finden ihn halb erfroren in der Badewanne, retten ihn. | |
## Alles prallt aufeinander | |
Von da an bewegt sich Yoav, mit traumatisiert staunendem Blick und | |
kraftvoll federnder Körperlichkeit gespielt von Tom Mercier in seiner | |
ersten Leinwandrolle, scheinbar ziellos durch Paris. Er trägt die von | |
seinen Rettern geschenkte Kleidung, lernt mit einem Wörterbuch Französisch | |
– Hebräisch will er nie wieder sprechen –, und studiert mit Vorliebe die | |
titelgebenden Synonyme für verschiedene Dinge. Die negativen Adjektive, die | |
er für Israel findet, stehen da ziemlich an erster Stelle, doch auch für | |
Essen oder andere alltägliche Dinge hat er ein reiches Vokabular an | |
alternativen Benennungen parat. | |
Die Entschlossenheit, mit der Yoav das eine Land hinter sich lassen und das | |
andere, die Grande Nation, sich gleichsam wie seine neue Kleidung | |
überstreifen will, hat bei Lapid Methode. Auf maximal vordergründige Weise | |
lässt er die Gegensätze oder Gegenstücke seines allegorischen Films | |
aufeinanderprallen, macht die Konfrontation zur Versuchsanordnung, mit der | |
er gern für Verwirrung sorgt. | |
Das ist in seiner Konsequenz nicht immer erkennbar durchgehalten, weshalb | |
es am Ende schwerfällt zu entscheiden, ob „Synonymes“ als Film so | |
überzeugend ist, wie die Jury der Berlinale befunden hat. Auch seine | |
Botschaft ist mehr als unklar. Dass der Hass auf Israel, den die Hauptfigur | |
überdeutlich mit sich herumträgt, nicht die Haltung Lapids wiedergeben | |
dürfte, wie dieser denn auch bei der Entgegennahme des Preises eigens | |
hervorhob, lässt sich schon aus der groben Überzeichnung des Films ablesen. | |
Doch dass Yoav gegen Ende seinen französischen Rettern vorwirft, sie | |
könnten sich nie vorstellen, wie es sei, wenn das eigene Land keine eigene | |
Zukunft habe, ist als Schlusspointe zumindest heikel. | |
## Schlichte Kunstfertigkeit | |
Tatsächlich gab es dieses Jahr aber vor allem Filme im Wettbewerb, die kaum | |
der Rede wert oder allenfalls interessant waren. An einigen konnte man | |
durchaus Lobenswertes finden, etwa die dynamische, im besten Sinn immersive | |
Inszenierung der Natur in Hans Petter Molands norwegischem Beitrag „Out | |
Stealing Horses“, für die der Kameramann Rasmus Videbæk den Silbernen Bären | |
für eine herausragende künstlerische Leistung erhielt. Auch dass die | |
Italiener Claudio Giovannesi, Maurizio Braucci und Roberto Saviano einen | |
Silbern Bären bekamen für das Drehbuch zu „La paranza dei bambini“, für | |
einen vertrauten Stoff – Jugendliche in Neapel erliegen der Faszination der | |
Mafia – mit gleichwohl etwas anderem Akzent, nämlich dem Augenmerk auf das | |
Heranwachsen von Jugendlichen mit ihren Bedürfnissen nach Konsum und Liebe, | |
geht in Ordnung. | |
Die zweit- und drittwichtigsten Preise gingen an zwei der | |
bemerkenswertesten Filme des Wettbewerbs, Angela Schanelecs sehr eigene, | |
kontrollierte Bildwelten, die sie in „Ich war zuhause, aber …“ entfaltete, | |
wurden zu Recht mit dem Silbernen Bären für die Beste Regie geehrt. Wie ein | |
ästhetischer Gegensatz dazu wirkt François Ozons hochaktuelle Aufarbeitung | |
des Missbrauchsskandals der französischen katholischen Kirche, „Grâce à | |
Dieu“, mit dem er sich praktisch im laufenden Verfahren zu Wort gemeldet | |
hat. Die schlichte Kunstfertigkeit, mit der Ozon sich in den Dienst seiner | |
Figuren und ihres Schicksals stellt, ergibt einen so offenkundig politisch | |
gemeinten wie berührenden großen Film. | |
Dass einer der Vorab-Favoriten, der verbliebene chinesische Mitbewerber „So | |
Long, My Son“ von Wang Xiaoshuai, eine große Erzählung über Chinas | |
Ein-Kind-Politik, ausschließlich, dafür allerdings gleich alle beide | |
Darstellerpreise erhielt, mag einerseits ein Bekenntnis der Jury zum Film | |
gewesen sein, andererseits kann es zugleich gerade vor dem Hintergrund der | |
politischen Brisanz des abgezogenen anderen Films aus China ein Zeichen der | |
Zurückhaltung sein, den anderen Landsmann nicht allzu offensichtlich zu | |
würdigen. | |
Bleibt ein letzter Jahrgang unter Dieter Kosslick, der den Wunsch nach | |
Veränderungen im Wettbewerb noch einmal bekräftigt hat. Dass es auch dieses | |
Jahr wieder viele sehr starke Ausweichmöglichkeiten in den anderen | |
Sektionen, namentlich Forum und Panorama gegeben hat, ist kein Grund, von | |
den Schwächen des Wettbewerbs abzusehen. Vielmehr macht die Auswahl des | |
Gesamtprogramms eher deutlich, dass es für die künftige Leitung allemal | |
Dinge gibt, die sich ändern lassen. | |
Dieter Kosslick wurde mit reichlich persönlichen Grußworten, von | |
Kulturstaatsministerin Monika Grütters bis zu Anke Engelke, als Direktor | |
verabschiedet – sogar der Berlinale-Trailer zum Abschluss erhielt einen | |
Bären mit Hut und rotem Schal verpasst, der von der Leinwand winkte. Das | |
war oft rührend, selbst Kosslicks bemühter, gleichwohl irgendwie gelungener | |
Lacher „I can’t bear it anymore!“ saß. Ansonsten schien auch bei ihm die | |
Trauer über den Tod von Bruno Ganz die Spaßlaune zu überwiegen. | |
17 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Dieter Kosslick | |
Monika Grütters | |
Bruno Ganz | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Spielfilm | |
Bruno Ganz | |
Schwerpunkt #metoo | |
Schwerpunkt Berlinale | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wochenvorschau für Berlin: Cineasten, auf ins Lichtspielhaus! | |
Die Berlinale bestimmt ab 20. Februar das Geschehen in der Stadt für zehn | |
Tage. Und auch jenseits der 70. Filmfestspiele dreht sich alles ums Kino. | |
Spielfilm über chinesische Geschichte: Keine Erlösung vom Vergangenen | |
In seinem Film „Bis dann, mein Sohn“ erzählt Wang Xiaoshuai von den Folgen | |
der Ein-Kind-Politik. Und von Schmerz, Beharrlichkeit und Tod. | |
Schauspieler Bruno Ganz ist tot: Auch die Berlinale trauert | |
Er war ein bedeutender Schauspieler: der Schweizer Bruno Ganz. Auf der | |
Bühne und in Filmen hat er den Grübler, den Stillen gegeben – und den | |
Diktator. | |
Gendergerechtigkeit auf der Berlinale: Strukturen, Strategien, Signale | |
Verbände und Filmschaffende tauschen sich über Gendergerechtigkeit aus. Sie | |
suchen Lösungen für den Sexismus in der Branche. | |
Berlinale „Marighella“: Die Guerilla hat immer recht | |
Im Berlinale Wettbewerb, aber außer Konkurrenz: Wagner Mouras Spielfilm | |
über den Erfinder des „Konzepts Stadtguerilla“. |