| # taz.de -- „Palestinian Stories“ auf Netflix: Komplexität ist nicht vorge… | |
| > Netflix bietet in der Filmreihe „Palestinian Stories“ eine Auswahl an | |
| > palästinensischem Kino. Antijüdische Zerrbilder beherrschen das Angebot. | |
| Bild: Einseitiges Opfernarrativ: Szene aus dem palästinensischen Film „3000 … | |
| Von der Bedeutsamkeit und Größe des palästinensischen Kinos, das es zu | |
| entdecken gilt, will die Filmauswahl „Palestinian Stories“ des | |
| Streamingdienstes Netflix erzählen. Auf den Internetseiten des | |
| Bezahlservice heißt es, dies sei eine Sammlung „herzlicher, humorvoller und | |
| fesselnder Filme“. | |
| Als fesselnd lassen sich einige der präsentierten filmischen Arbeiten | |
| tatsächlich beschreiben, in welcher Hinsicht, davon gleich mehr. Was genau | |
| an dem Spiel- und Dokumentarfilmprogramm der Reihe aber herzlich oder gar | |
| humorvoll sein soll, das erschließt sich vermutlich nur dem ominösen | |
| Netflix-Empfehlungs-Algorithmus höchstselbst. | |
| Ein Aushängeschild des Palästina-Programms ist „Farha“. Erzählt wird in … | |
| jordanischen Drama, der diesjährigen Oscar-Einreichung des Landes, die | |
| Geschichte eines palästinensischen Mädchens, das während des | |
| arabisch-israelischen Krieges 1948 von ihrem Vater zu ihrem eigenen Schutz | |
| in eine Vorratskammer gesperrt wird. Von einem Spalt aus ist das Mädchen in | |
| der Lage, das Kriegsgeschehen in ihrem Dorf zu verfolgen. | |
| In der Schlüsselszene des handwerklich schwerfälligen Films ist zu sehen, | |
| wie israelische Soldat:innen eine palästinensische Familie schikanieren, | |
| quälen und schließlich ermorden. Vater und Mutter werden mit Gewehrsalven | |
| hingerichtet, auf den am Boden liegenden Säugling der Familie soll ein | |
| israelischer Soldat auf Geheiß seines Vorgesetzten „keine Kugel | |
| verschwenden“. | |
| ## Israelische Soldaten in Nazimanier | |
| In der nächsten Einstellung ist der schwere Stiefel des Soldaten zu sehen, | |
| mit dem der Armeeangehörige droht auf den Schädel des Kindes einzutreten – | |
| der Soldat bringt diese Tat nicht über sich und lässt den Säugling | |
| stattdessen in der prallen Sonne zum Sterben zurück. Gezeichnet werden | |
| jüdische Soldaten im Debütfilm der Regisseurin Darin J. Sallam als | |
| Herrenmenschen in Nazimanier, als perfide Kindsmörder – gewalttätig, | |
| rachsüchtig, verlogen. Die tote Mutter des Kindes wird von einer | |
| IDF-Soldatin ausgeraubt. | |
| Einschlägige antijüdische Zerrbilder zeigt auch „3.000 Nights“. Das | |
| Gefängnisdrama der Regisseurin Mai Masri handelt von einer jungen | |
| Palästinenserin. Die schwangere Frau weigert sich, gegen einen jugendlichen | |
| Gefangenen auszusagen, und landet im israelischen Gefängnis. Die | |
| Wärterinnen der Einrichtung – gezeichnet werden sie von Masri durchwegs als | |
| sadistische Bestien – quälen mit Hingabe die arabischen Insassinnen, in der | |
| Mehrzahl junge, unschuldige Frauen. | |
| Bei ihrer Hafteinweisung wird die Protagonistin vom Wachpersonal mit einer | |
| Chemikalie eingesprüht – offenbar zur Desinfektion. Auf das schreckliche | |
| Bezüge weckende Bild setzt der Film noch einen drauf. Während eines | |
| Gefängnisaufstands leitet das israelische Militär einen chemischen | |
| Kampfstoff in das Gebäude. Leblose Körper säumen die Gänge und Zellenböden. | |
| In einem Dialog fällt folgender Satz: „Gas? – Habt ihr nichts aus der | |
| Geschichte gelernt?!“ Die fiktive Erzählung in „3.000 Nights“ vergleicht… | |
| das Schicksal heutiger palästinensischer Gefangener mit dem Leid jüdischer | |
| Opfer während der Shoa. | |
| ## Einseitige Sicht auf den Nahost-Konflikt | |
| Für die Programmabteilung von Netflix scheint eine solche Relativierung | |
| kein Problem darzustellen. Zuschauer:innen, die „Palästina“ in die | |
| Suchleiste der App eingeben, erhalten eine Reihe von Filmen über den | |
| israelisch-palästinensischen Konflikt angezeigt, Netflix-typisch ohne | |
| größere Einführung oder Kontextualisierung der Arbeiten. Spielfilme wie die | |
| oben genannten, aber auch Dokumentarfilme, die ein differenzierteres Bild | |
| der Lage in Nahost zeigen, vom Konflikt aber dennoch höchst einseitig | |
| berichten. | |
| Wie etwa „A World Not Ours“, der die heillose Situation von | |
| Palästinenser:innen im libanesischen Geflüchtetenlager Ain al-Hilweh | |
| schildert, oder die Doku „Born in Gaza“. Das Leid der im militärischen | |
| Konflikt zwischen [1][der israelischen Armee] und der im Gazastreifen | |
| herrschenden islamistischen Hamas an Körper und Seele versehrten Kinder | |
| lässt keine:n einfühlsamen Zuschauer:in kalt. Etwaige Kriegsverbrechen | |
| im Zusammenhang mit den israelischen Luftangriffen gehören aufgeklärt. | |
| Doch „Born in Gaza“ legt nahe, das israelische Militär hätte 2014 mit | |
| gezielten Angriffen beabsichtigt, Kinder zu töten. „Wenn sie (die Israelis) | |
| kommen, töten und zerstören sie. Sie zerstören alles, was sich ihnen in den | |
| Weg stellt“, hören wir einen Jungen sagen. | |
| ## Palästinensisches Nakba-Narrativ | |
| Durch „Born in Gaza“ und weitere Dokumentarfilme wie „Children of Shatila… | |
| und „A World Not Ours“ zieht sich immer wieder, auch kindlichen | |
| Protagonist:innen in den Mund gelegt, das palästinensische | |
| Nakba-Narrativ im Zusammenhang mit der Forderung nach Rückkehr der | |
| Vertriebenen von einst sowie deren Nachfahren in die alte Heimat – das | |
| heutige israelische Staatsgebiet. Regisseur Mahdi Fleifel spricht im | |
| letztgenannten Film in diesem Zusammenhang von „ethnischen Säuberungen“, | |
| die Israel an der palästinensischen Bevölkerung begangen habe. | |
| Vollends ausgespart werden in der Sammlung die Ereignisse, die zur | |
| Situation der palästinensischen Geflüchteten geführt haben. In keiner der | |
| Dokus und Spielfilme findet der Angriffskrieg arabischer Staaten auf den | |
| 1948 ausgerufenen israelischen Staat auch nur Erwähnung. Der | |
| palästinensische Terrorismus, der auch dieser Tage stets neue Opfer | |
| fordert, bildet eine Leerstelle oder wird wie in „A World Not Ours“ zum | |
| edlen Befreiungskampf verklärt. | |
| Immer wieder sehen wir junge bewaffnete Männer in angeberischen Posen sowie | |
| Kinder, die täuschend echt aussehende Schreckschusswaffen präsentieren. | |
| Eine Gewaltikonografie und -folklore, die eine tiefergehende künstlerische | |
| Auseinandersetzung und Gesellschaftsanalyse allemal lohnen würde. Doch | |
| diese wird weitestgehend verweigert. Stattdessen bedienen die „Palestinian | |
| Stories“ ein überwiegend einseitiges Opfernarrativ und brechen es nur in | |
| seltenen Fällen auf. | |
| Israelis erscheinen hier beinahe ausnahmslos als Missetäter, nicht selbst | |
| als Opfer ethnischer und antisemitisch bedingter Gewalt. Die | |
| palästinensische Gesellschaft hingegen wird als authentische Gemeinschaft | |
| imaginiert, ursprünglich und friedfertig im Unterschied zum unterstellten | |
| zionistischen Kolonialismus. Die historische Verbundenheit von Juden mit | |
| der Region findet keine Erwähnung. | |
| ## Permanente Schwarzweißzeichnung in den Filmen | |
| Die fortgesetzte Schwarzweißzeichnung des Konflikts erweist sich in jeder | |
| Hinsicht als ermüdend – auch in dramaturgischer. Wenn kurz so etwas wie | |
| eine vielschichtige Figurenzeichnung aufkommt wie etwa im Film „Omar“ über | |
| einen Attentäter auf dem Weg zum Doppelagenten, wird die aufkommende | |
| Ambivalenz umgehend abgewürgt. | |
| Der Verräter Omar darf am Ende bloß nicht als moralisch zwielichtiger | |
| Kollaborateur stehen bleiben. Er rächt sich am durchtriebenen israelischen | |
| Geheimdienstmann und knallt ihn ab, um wieder zum stolzen Heroen der | |
| palästinensischen Sache zu werden. | |
| Im Film „200 Meters“ von Ameen Nayfeh über einen Mann, der zu seinem | |
| verunfallten Sohn jenseits des Grenzzauns gelangen will, zeigen sich | |
| zumindest kurzzeitig innerpalästinensische Konfliktsituationen, als der | |
| Vater einen Schmuggler engagiert, um auf die israelische Seite der | |
| Grenzanlage zu gelangen. | |
| Thematisiert wird auch die zweifelhafte Rolle, die europäische | |
| Beobachter:innen des Konflikts einnehmen. Der Vater begegnet auf | |
| seiner Route einer naiv veranlagten deutschen Filmemacherin, die in ihrem | |
| Wohlmeinen mehr Schlechtes für die Palästinenser bewirkt als Gutes. | |
| ## Ausnahme in der „Palestinian Stories“-Reihe | |
| Die komplexe Grundanlage des Filmes bleibt eine Ausnahme in der | |
| „Palestinian Stories“-Reihe. Netflix betont gern, dass gezeigte Filme nicht | |
| notwendigerweise die Position des Unternehmens widerspiegeln, so auch im | |
| Fall des Lizenztitels „Farha“, der keine Eigenproduktion des Senders ist. | |
| Das Unternehmen zeige schließlich auch viele israelische Filme von | |
| jüdischen Regisseur:innen – man spreche sich gegen jeden Antisemitismus | |
| aus. Angesichts der in Teilen antisemitischen Darstellung der „Palestinian | |
| Stories“-Reihe klingt das im besten Fall nach einem Lippenbekenntnis. | |
| 10 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Chris Schinke | |
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