# taz.de -- Antisemitismus auf der documenta15: „Glorifizierung von Terror“ | |
> Das Kuratorenteam Ruangrupa verweigert kritische Kommentare zu | |
> antisemitischen Filmen, die in Kassel zu sehen sind. | |
Bild: Filmausschnitt aus „Tokyo Reels“ | |
Keine zwei Wochen wird sie noch andauern, diese so unglücklich verlaufene | |
[1][documenta], doch ein ruhiges Ende ist der Kasseler Weltausstellung, die | |
in den Medien schon zur „aktivista“ oder „antisemita“ verballhornt wurd… | |
nicht vergönnt. | |
In einer Pressemitteilung fordert nun das von den documenta-Gesellschaftern | |
eingesetzte Expertengremium – eigens einberufen, um die | |
Antisemitismusvorwürfe in Kassel aufzuarbeiten – propalästinensische Filme | |
aus den 1960er bis 1980er Jahren des Kollektivs „Subversive Film“ nicht | |
mehr zu zeigen. Zeugen sollen die Filme unter dem Namen „Tokyo Reels“ von | |
einer weitestgehend übersehenen „antiimperialistischen Solidarität zwischen | |
Japan und Palästina“. | |
Dabei offenbaren sie vor allem antisemitische Haltungen, [2][wie wir in | |
dieser Zeitung bereits vor vier Wochen beschrieben haben:] Israelische | |
Soldaten hätten angeblich Leichen auf einem christlichen Friedhof | |
geschändet, heißt es, zudem wird die Falschbehauptung verbreitet, dass die | |
israelische Armee das Massaker von Sabra und Schatila im Libanon begangen | |
hätte. | |
Nicht unerheblich ist auch, dass das Projekt von Masao Adachi, einem | |
ehemaligen Mitglied der Japanischen Rote Armee Fraktion, mit initiiert | |
worden war. Im Mai 1972 hatte die antisemitische Terrorgruppe im | |
israelischen Flughafen bei Tel Aviv 26 Menschen ermordet. | |
## „Potenziell aufhetzende Wirkung“ | |
Problematisch seien nicht nur die historischen Filmdokumente selbst, | |
sondern „die zwischen den Filmen eingefügten Kommentare der Künstler:innen, | |
in denen sie Israelhass und die Glorifizierung von Terrorismus des | |
Quellmaterials durch ihre unkritische Diskussion legitimieren“, teilte das | |
Gremium auf der Internetseite der documenta GmbH mit. | |
Eine eventuelle Wiederaufnahme der Vorführungen der Filme sei nur denkbar, | |
„wenn diese in einer Form kontextualisiert würden, die ihren | |
Propagandacharakter verdeutlicht, ihre antisemitischen Elemente klar | |
benennt und historische Fehldarstellungen korrigiert“. Das historische | |
Propagandamaterial werde nicht kritisch reflektiert, sondern „als | |
vermeintlich objektiver Tatsachenbericht affirmiert“. | |
Dadurch stellten die Filme in ihrer „potentiell aufhetzenden Wirkung eine | |
größere Gefahr dar als das bereits entfernte Werk ‚People’s Justice‘“… | |
Letzterem, einem Wandbild der Gruppe Taring Padi, [3][war unter anderem ein | |
Soldat mit Schweinsgesicht abgebildet, der mit Davidstern und | |
„Mossad“-Aufschrift gekennzeichnet war.] | |
## Im Kollektiv beleidigt | |
Das indonesische Kuratorenkollektiv Ruangrupa weist die Vorwürfe indes von | |
sich. „Wir sind wütend, wir sind traurig, wir sind müde, wir sind vereint�… | |
heißt es in einem von der „Lumbung-Community“ verfassten und von | |
zahlreichen Kollektiven und Künstler:innen unterzeichneten offenen | |
Brief. Die Mitteilung des Gremiums überschreite eine rote Linie. | |
Dabei lässt sich ahnen, dass nicht bloß die Forderung nach einem Stopp der | |
Filmvorführung für Empörung sorgte, sondern vor allem der Rundumschlag, zu | |
dem ein Teil des Gremiums in einer zweiten Erklärung ausholt: Nahezu alle | |
Werke, die sich mit dem arabisch-israelischen Konflikt beschäftigten, | |
brächten „einseitig kritische bis hin zu dezidiert israelfeindlichen | |
Haltungen“ zum Ausdruck, heißt es darin. | |
Tatsächlich ist der Israel-Palästina-Konflikt überaus präsent auf der | |
diesjährigen documenta, weit präsenter jedenfalls als andere Konflikte, | |
etwa der seit der Annexion der Krim 2014 eskalierende Krieg zwischen | |
Russland und der Ukraine. So widmet sich beispielsweise [4][das | |
palästinensische Kollektiv „The Question of Funding“ in seiner schon im | |
Vorfeld der Kunstausstellung kritisierten Bildserie „Guernica Gaza“] auf | |
einer ganzen Etage im Kasseler WH22 den Kämpfen in und um den Gazastreifen. | |
Während die Dämonisierung der israelischen Soldat:innen schon im Namen | |
anklingt, findet die islamistische und im Gazastreifen die Regierung | |
stellende Terrororganisation Hamas keine Erwähnung. | |
## Probleme der Organisation | |
[5][Kuratorische Unausgewogenheit] lautet ein weiterer Kritikpunkt, der in | |
der von fünf der sieben Mitglieder des Gremiums unterschriebenen Erklärung | |
am indonesischen Kuratorenkollektiv Ruangrupa vorgebracht wird. Die | |
„gravierenden Probleme der documenta“ würden nicht nur in der Präsentation | |
„vereinzelter Werke mit antisemitischer Bildsprache und antisemitischen | |
Aussagen bestehen, sondern auch in einem kuratorischen und | |
organisationsstrukturellen Umfeld, das eine antizionistische, | |
antisemitische und israelfeindliche Stimmung zugelassen hat“. | |
Ruangrupa und die „Lumbung-Community“ bezeichnen die Vorwürfe als | |
rassistisch, verstehen die Beschäftigung mit Antisemitismus auf der | |
Kunstausstellung als Art und Weise, „deutsche Schuld und Geschichte auf den | |
palästinensischen und andere antikoloniale Kämpfe zu projizieren und zu | |
übertragen“. Dieser Konflikt wird mittlerweile auch direkt vor Ort | |
ausgetragen: So wurden erst vor wenigen Tagen an zentralen Orten in Kassel | |
Plakate mit unzweideutigen Botschaften angebracht. | |
„Free Palestine from German guilt“, steht darauf oder auch, in Anlehnung an | |
die Boykott-Bewegung gegen den Staat Israel „Boycott, Divestment and | |
Sanctions“: „BDS: Being in Documenta is a Struggle“. Es scheint, als sei | |
die Aktion recht spontan geplant und ausgeführt worden zu sein. Als am | |
Samstag eine Aktivistin eines dieser Plakate im Fridericianum neben ein | |
großes Gemälde von Richard Bell klebte, eilte die Museumsaufsicht sofort | |
hinzu, konnte von der Richtigkeit des Vorgehens jedoch anscheinend | |
überzeugt werden. | |
## Vorwurf der Zensur | |
Die Anschuldigungen im Lumbung-Brief wiegen schwer. Kritiker seien von | |
vornherein dazu entschlossen gewesen, Hinweise auf Antisemitismus zu finden | |
und „jedes kritische Detail“ hin zu einer vereinfachten antisemitischen | |
Lesart zu drehen. Mainstream-Medien würden sich an „Cyberbullies“ und | |
rassistischen Bloggern orientieren, Politik und Wissenschaft würden deren | |
Narrativ unreflektiert aufnehmen. | |
Zusätzlich zum Antisemitismus solle sich die deutsche Gesellschaft doch | |
auch mit antimuslimischen, antipalästinensischen und antiqueeren | |
Ressentiments auseinandersetzen. Die Forderung, „Subversive Films“-Videos | |
nicht mehr zu zeigen, sei ein bösartiger Zensurversuch. | |
Während die Geschäftsleitung der documenta, [6][seit dem Rücktritt von | |
Sabine Schormann unter Führung von Alexander Farenholtz,] die Forderungen | |
des Gremiums lediglich „zur Kenntnis nimmt“, wie es das Kunstmagazin | |
Monopol vermeldet, schließen sich die Gesellschafter der documenta dem | |
Expertengremium an. Die Filme sollten nicht mehr gezeigt werden, | |
„mindestens bis eine angemessene Kontextualisierung vorgenommen wurde“, | |
teilten die Stadt Kassel und das Land Hessen am Dienstag mit. | |
Deutliche Kritik kam vom Präsidenten des Zentralrats der Juden in | |
Deutschland, Josef Schuster. „Die Ausstrahlung der Propagandafilme ‚Tokyo | |
Reels‘ muss sofort beendet werden. Mit ihrer Tirade zeigen die Kuratoren | |
und Künstler, dass sie wissenschaftliche Befunde nur respektieren, wenn sie | |
in ihr Weltbild passen“, teilte er mit. Es sei Aufgabe der Gesellschafter | |
und der politisch Verantwortlichen, deutliche Konsequenzen aus den | |
Ergebnissen des Expertengremiums zu ziehen. | |
13 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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