# taz.de -- Ethnologin zu Hass auf Jüdinnen*Juden: „Teil des deutschen Antis… | |
> Natürlich müsse man Hass auf Jüdinnen und Juden unter Migrant*innen | |
> klar benennen, sagt Ethnologin Sina Arnold. Man dürfe aber nicht in | |
> Rassismus abrutschen. | |
Bild: Berlin, 13. Oktober 2019, Gedenken an den Anschlag auf die Synagoge in Ha… | |
taz: Frau Arnold, gerade erst wurden in Berlin [1][auf einer | |
propalästinensischen Demonstration antisemitische Parolen gerufen]. So | |
etwas passiert leider öfter, und genauso oft wird dann über „importierten | |
Antisemitismus“ gesprochen. Gibt es so etwas? | |
Sina Arnold: Wir erleben in der Tat schon seit Anfang des Jahrtausends eine | |
stetige Wiederholung der Debatten. Die Fluchtmigration der Jahre 2015/16 | |
hat das noch verstärkt. Das ist gefährlich, weil dabei auch immer | |
mitschwingt: Hätten wir keine Migrant*innen oder Muslim*innen in | |
Deutschland, hätten wir auch kein Problem mit Antisemitismus. Das ist aber | |
falsch. Antisemitismus hat auch nach 1945 eine Kontinuität in Deutschland. | |
Wie mörderisch die sein kann, hat etwa [2][der rechtsextreme Anschlag in | |
Halle deutlich vor Augen geführt]. | |
Sie haben gerade für den Mediendienst Integration eine [3][Expertise zum | |
Thema Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund und unter | |
Muslim*innen] verfasst. Darin unterscheiden Sie zwischen „klassischem“, | |
„sekundärem“ und „israelbezogenem“ Antisemitismus. Können Sie die | |
Kategorien kurz erläutern? | |
Beim klassischen Antisemitismus werden Jüdinnen*Juden ganz bestimmte | |
Eigenschaften zugeschrieben, etwa Geiz, Gier oder Übermacht. Das geht teils | |
mit Verschwörungsideologien einher. Der sekundäre Antisemitismus besteht | |
aus einer Form von Schuldabwehr in der Auseinandersetzung mit dem | |
Nationalsozialismus. Er zeigt sich etwa als Relativierung oder gar Leugnung | |
des Holocaust und dem Wunsch nach einem „Schlussstrich“. | |
Dann gibt es noch den Fall, dass antisemitische Stereotype auf den Staat | |
Israel übertragen werden. Das kann sich in einer Gleichsetzung der Politik | |
Israels mit dem NS zeigen, oder darin, dass Jüdinnen*Juden auf der | |
ganzen Welt für Israels Politik verantwortlich gemacht werden. | |
Zu welchem Ergebnis kommen Sie? | |
Beim sekundären Antisemitismus zeigen die meisten Studien, dass es sowohl | |
unter Menschen mit Migrationsgeschichte als auch unter Muslim*innen | |
niedrigere oder vergleichbare Zustimmungswerte zu Antisemitismus gibt wie | |
in der Durchschnittsgesellschaft. Das überrascht nicht, wenn man bedenkt, | |
dass es dabei um eine Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte und auch | |
mit deutschen Familienbiografien geht. | |
Beim israelbezogenen Antisemitismus sind die Zustimmungswerte in beiden | |
Gruppen höher. Trotzdem ist es wichtig, sich die Daten genau anzuschauen. | |
Was sieht man dann? | |
Ob jemand Migrant*in oder Muslim*in ist oder nicht, ist nicht pauschal | |
aussagekräftig. Relevanter ist zum Beispiel, wie lange eine Person schon in | |
Deutschland lebt. Migrant*innen aus der EU haben niedrigere | |
Zustimmungswerte als etwa aus der Türkei. Aber auch mehrheitlich | |
muslimische Länder lassen sich nicht verallgemeinern: In Nigeria etwa | |
liegen die Werte deutlich unter dem globalen Vergleich, und in Ländern des | |
Nahen Ostens, wo es einen starken staatlichen Antizionismus gibt, sind die | |
Werte nicht nur unter Muslim*innen, sondern auch unter Christ*innen | |
deutlich erhöht. | |
Sunnit*innen in Deutschland stimmen antisemitischen Aussagen häufiger zu | |
als Alevit*innen. Das Gleiche gilt für Menschen mit einem konservativen und | |
autoritären Wertekanon – egal ob sie Muslim*innen [4][oder | |
AfD-Wähler*innen sind]. | |
Sind Begriffe wie „muslimischer“ oder „migrantischer Antisemitismus“ in… | |
Debatte angebracht? | |
Ja. Wenn jemand seinen Antisemitismus zum Beispiel mit dem Koran begründet, | |
ist es wichtig, das klar zu benennen – damit man entsprechend angemessene | |
Maßnahmen ergreifen kann. Genauso sollte man von arabischem Antisemitismus | |
sprechen, wenn das Feindbild „Jude“ auf einer arabisch-nationalistischen | |
Argumentation aufbaut. Mein Eindruck ist aber, dass diese Begriffe in der | |
gesellschaftlichen und medialen Debatte vorschnell verwendet werden. | |
Wie meinen Sie das? | |
Nicht jeder Antisemitismus einer muslimischen Person ist auch muslimischer | |
Antisemitismus. Das wird aber schnell gefolgert, wenn auf einem Schulhof | |
ein Kind, das in dritter Generation hier lebt, eine antisemitische Aussage | |
macht – ohne dass Details bekannt sind. | |
Vor allem aber müssen wir wegkommen von der Vorstellung, Antisemitismus sei | |
ein Problem „der Anderen“. Wer sind denn diese „Anderen“? Wir sind eine | |
Einwanderungsgesellschaft, alle diese Elemente sind Teil des deutschen | |
Antisemitismus. Die Vorstellung, man könne das Problem einfach abschieben, | |
ist fatal. Man kann Antisemitismus nicht mit Rassismus bekämpfen. | |
19 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Nach-judenfeindlicher-Demo/!5924679 | |
[2] /Nationale-Strategie-gegen-Antisemitismus/!5895572 | |
[3] https://mediendienst-integration.de/artikel/antisemitismus-unter-muslimen-u… | |
[4] /10-Jahre-AfD/!5910563 | |
## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Antisemitismus | |
Rechtsextremismus | |
Palästina | |
Muslime | |
Naher Osten | |
Halle | |
Al-Quds-Tag | |
wochentaz | |
Antisemitisch | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Vierter Jahrestag des Halle-Anschlags: „Es ist wichtig, wie wir erinnern“ | |
Der rechtsextreme Anschlag von Halle (Saale) jährt sich am 9. Oktober. | |
Angehörige und Unterstützer*innen wie Alma Roggenbuck kämpfen um das | |
Gedenken. | |
Nach judenfeindlicher Demo: Spranger will Recht und „Ordnung“ | |
Die Innensenatorin möchte den Begriff der „öffentlichen Ordnung“ wieder i… | |
Gesetz schreiben. Kritiker fürchten pauschale Demoverbote. | |
„Palestinian Stories“ auf Netflix: Komplexität ist nicht vorgesehen | |
Netflix bietet in der Filmreihe „Palestinian Stories“ eine Auswahl an | |
palästinensischem Kino. Antijüdische Zerrbilder beherrschen das Angebot. | |
Straßennamen mit antisemitischem Bezug: Umbenennen, aber schön langsam | |
Ein Jahr nach dem Dossier zu Straßennamen mit Antisemitismus-Bezug ist erst | |
wenig passiert. Immerhin Heinrich von Treitschke geht es an den Kragen. |