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# taz.de -- Hagia Sophia wird Moschee: Sophia, die Weisheit der Polis
> Der türkische Präsident Erdogan bezeichnet die Umwandlung als „Vollendung
> der Eroberung“. Er meint die Eroberung der absoluten Macht.
Bild: Die Hagia Sophia in den 30er Jahren
Ich bin aus jener Stadt, die ursprünglich als Konstantinopel gegründet
wurde und heute, über tausend Jahre später, Istanbul heißt. Zwischen diesen
beiden hatte die Stadt mehr als zwei Dutzend Namen. Sie trotzte beinahe
zwei Dutzend Belagerungen, zwei Pestpandemien, etwa zehn starken Erdbeben,
überlebte zahllose Kriege, Schlachten, Intrigen, Kämpfe, sah hunderte
Könige kommen, regieren und gehen und hat etliche Sprachen, Religionen und
Monumente willkommen geheißen.
Für mich, eine Einheimische der Polis, wie die Griechen sie nannten, gibt
es ein unbestreitbares Symbol für die Einzigartigkeit und Weisheit dieser
Stadt: St. Sophia. Ein Denkmal, so eindrucksvoll und einzigartig, für mich
zumindest, wie die ägyptischen Pyramiden.
Ich habe mich oft gefragt, ob Europa bei der Suche nach den eigenen
historischen Wurzeln auch Byzanz anständig behandelt hat. Konstantinopel
war römisch, griechisch, christlich und einiges mehr. Hier stießen das
Mittelmeer und das Schwarze Meer aneinander, die zwölftausend Jahre alten
Kulturen Kleinasiens trafen auf Thrakien und die griechische Halbinsel,
Persien und „der Osten“ begegneten dem Westen.
Doch bei einem zweitägigen Spaziergang durch das heutige Istanbul zeigt
sich, dass die Osmanen ihrerseits Byzanz, von dem sie viel gelernt und
assimiliert haben, alles andere als anständig behandelten. Verfallene
Paläste, Kirchen, die in Moscheen umgewandelt wurden, tausend Jahre Byzanz,
denen großenteils nicht gestattet ist, einen Schatten auf den
anschließenden Ruhm der Osmanischen Epoche zu werfen.
Das Osmanische Reich als Vorbild der heutigen Türkei
[1][Die Rückumwandlung von St. Sophia in eine Moschee] ist gewiss ein
Schlag ins Gesicht all derer, die immer noch glauben, dass die Türkei ein
säkulares Land ist. Das vom Staat eingeführte säkulare System des
Kemalismus – vielleicht ist laizistisch das bessere Wort, da die Türkei
eher dem französischen Vorbild als dem angelsächsischen Säkularismus folgte
–, einer der wenigen Versuche dieser Art in der gesamten islamischen Welt,
ist für hinfällig erklärt worden.
Obwohl die Mehrheit der türkischen Öffentlichkeit diese Umwandlung als ein
politisches Manöver betrachtet, das von der Wirtschaftskrise ablenken soll,
reagierten die Oppositionsparteien, insbesondere die CHP, die dem
Kemalismus weiterhin die Stange hält, entweder mit recht schwachem
Einspruch oder komplettem Schweigen und in ein oder zwei Fällen geradezu
mit Zustimmung. Niemand wagt es, die religiösen Gefühle der Menge zu
verletzen, obwohl niemand die Menge gefragt hat, ob sie so eine Umwandlung
überhaupt will.
Präsident Recep Tayyip Erdoğans eigenen Äußerungen nach zu urteilen soll
nicht bloß den Kemalisten und dem Kemalismus eine Lektion erteilt werden.
Indem er die Umwandlung als „Vollendung der Eroberung“ bestimmt, erklärt er
sich zum stolzen Nachfolger von Mehmed dem Eroberer und anderen osmanischen
Herrschern. „Eroberung“ ist ein Ausdruck aus der Terminologie oder
Ideologie eines vergangenen Zeitalters, in dem der Sieger die Besiegten
ohne moralische Bedenken besetzen und vernichten konnte.
Die Zerstörung oder Umwandlung der Tempel der Besiegten war in der
Vergangenheit übliche Praxis. Das Erdoğan-Regime erklärt damit das
Osmanische Reich zum neuen Vorbild der heutigen Türkei. Dieses Regime wird
sich nicht länger belasten mit moralischen Werten, die dem Westen oder
modernen Gesellschaften zugeschrieben werden oder im weiteren Sinne der
Moderne und „dem Westen“, und es wird sich ganz gewiss nicht von solchen
Kleinigkeiten wie Gesetzen oder Demokratie und dergleichen von seiner
größten „Eroberung“ abhalten lassen: der Eroberung der absoluten Macht.
Aus dem Englischen von Tim Caspar Boehme
15 Jul 2020
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## AUTOREN
Asli Erdogan
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