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# taz.de -- Erdoğans Führerstaat: Tagebuch eines türkischen Exilanten
> Kurdische Zivilisten werden aus dem Helikopter gestoßen. Journalisten,
> die darüber berichten, sind kriminell. Und die Ärztekammer? Voller
> „Verräter“.
Bild: Am 18.Oktober in Sirnak: AKP-Führer Erdogan lässt sich begrüßen
## 20. September
Ich habe mir Hochzeitsfotos angeschaut. Der Generalstaatsanwalt Yüksel
Kocaman hat im Sheraton in Ankara geheiratet. Der Vorsitzende des
Kassationshofs, der Justizminister, der Innenminister, der
Generalstabschef, der Vorsitzende der Wahlkommission und viele, viele
wichtige Männer mehr waren Gäste. Schon die Flitterwochen vor der Hochzeit
waren medial präsent: Per Helikopter in die touristische Küstenstadt
Bodrum, dort abgestiegen in einem Hotel, das 1.000 Euro pro Nacht kostet.
Im Anschluss an die Hochzeit ging es in den Präsidentenpalast. Tayyip
Erdoğan in der Mitte des Brautpaares. Der Fototermin mit dem Präsidenten
ist Hochzeitsgeschenk genug. Doch wie kann ein Oberstaatsanwalt, der sich
in der Vergangenheit ohnehin wie der ergebene Lakai des Tyrannen aufgeführt
hat, beim Dank noch einen draufsetzen? Noch mehr Festnahmen, noch mehr
staatlicher Terrorismus? Warum erinnere ich mich jetzt an einen Satz von
Innenminister Soylu, der ja auch Trauzeuge der Hochzeit war? „Sie können
uns nicht mit Hitler vergleichen. Wir haben niemanden in Gaskammern
umgebracht.“
Die Mesopotamische Nachrichtenagentur, deren Webseite in der Türkei
gesperrt ist, berichtet über einen Vorfall, der sich vor neun Tagen
zugetragen hat. In einem Dorf in der Provinz Van wurden die Dorfbewohner
von Soldaten zusammengetrieben und mussten sich niederknien. Zwei Männer,
der 55-jährige Servet Turgut und der 50-jährige Osman Şiban, wurden im
Militärhelikopter mitgenommen. Erst Tage später konnten Angehörige die
beiden in einem Krankenhaus, mehrere Hundert Kilometer vom Dorf entfernt,
auffinden.
Ihre Körper entstellt, liegen sie im Krankenhaus. „11 Knochenbrüche,
Gehirmblutungen, und Risse in der Lunge hat mein Vater“, sagt der Sohn
Turguts. Die Männer wurden vom Helikopter in die Tiefe gestoßen. Der Satz
ist menschenverachtend, aber wahr: „[1][Kein Hahn kräht nach irgendwelchen
armen kurdischen Bauern].“
## 25. September
Die exklusiven Flitterwochen, die pompöse Hochzeit und das Fotoshooting mit
dem Präsidenten tragen Früchte. In den frühen Morgenstunden schlugen
Anti-Terror-Einheiten der Polizei zu. 82 Spitzenfunktionäre der [2][HDP
(Demokratische Partei der Völker)] wurden festgenommen. Unter ihnen der
Bürgermeister der Stadt Kars, Ayhan Bilgen, und der ehemalige Abgeordnete
Sırrı Süreyya Önder, der einst mit der Regierung einen Friedensplan für die
kurdische Frage ausarbeitete.
Laut Staatsanwaltschaft stehen die Festnahmen in Zusammenhang mit den
Ereignissen im Oktober 2014, bei denen 46 Menschen starben. [3][Die
kurdische Grenzstadt Kobani in Syrien] stand damals kurz vor der Einnahme
durch die Dschihadisten des „Islamischen Staates“. Genüsslich feierte
Tayyip Erdoğan den bevorstehenden Fall der Stadt. Die Kurden in der Türkei
waren in Aufruhr und die HDP rief zum Massenprotest auf.
Die Festgenommenen werden [4][wohl jahrelang in Untersuchungshaft
verbringen], so wie der ehemalige Vorsitzende der Partei, Selahattin
Demirtaş. Der brillanteste Politiker, den die Türkei je gesehen hat, sitzt
seit vier Jahren im Gefängnis. „Mitgliedschaft in einer bewaffneten
Terrororganisation“ ist der Vorwurf. Die HDP erhielt bei den letzten
Parlamentswahlen fast 12 Prozent der Stimmen. [5][Vielleicht lässt der
Führer sie ja verbieten]. Tausende Parteifunktionäre sind ohnehin hinter
Gittern.
## 29. September
Ein Abgeordneter der Opposition hat ein internes amtliches Dokument über
Coronafälle in der Türkei publik gemacht. Es handelt sich um eine
detaillierte Bestandsaufnahme des 10. Septembers – Anzahl der genehmigten
Tests, Testergebnisse usw. Demnach wurden an diesem Tag 29.377 Personen
positiv auf Corona getestet. Das ist das Zwanzigfache, was offiziell
bekanntgegeben wurde. Die tägliche Verlautbarung des
Gesundheitsministeriums spricht für diesen Tag von 1.512 positiv
Getesteten.
Ich habe mit meiner Mutter telefoniert. „Diese Schurken lügen“, sagt sie
immer wieder. „Sie lügen bei allem. Warum sollten sie nicht bei den
Coronafällen lügen.“ In den vergangenen Monaten hatten immer wieder
Bürgermeister, Ärzte und Krankenhauspersonal, die vor Ort mit den Folgen
des Virus konfrontiert waren, die amtlichen Erklärungen angezweifelt.
## 1. Oktober
Die Tageszeitung Sözcü hat die sonderbare Wandlung eines
Deutsch-Schulbuches für Schüler der 9. Klasse dokumentiert. In der alten
Ausgabe des Jahres findet sich eine Deutschlandkarte, auf der „typisch
deutsche“ Symbole abgebildet sind. Zum Beispiel das Brandenburger Tor, die
Frauenkirche in Dresden, der Kölner Dom, ein Auto, eine Frau im Dirndl.
Auch ein Weinglas, ein Bierkrug und das Oktoberfest sind vertreten.
„Recherchiert! Welche Informationen findet ihr über Deutschland? Diskutiert
eure Ergebnisse in der Klasse!“, heißt es in dem Schulbuch. In der neuen
Ausgabe sind nun Bierkrug, Weinglas und Oktoberfest ausgemerzt. Dank der
Photoshop-Experten des Bildungsministeriums sind dort jetzt weiße Flecken.
Wer im nationalen Interesse Biergläser aus Schulbüchern verschwinden lässt,
kann sicher auch Corona-Fallzahlen manipulieren. „Beim Kampf gegen die
Pandemie muss unser Staat nicht nur die Gesundheit der Bevölkerung, sondern
auch die nationalen Interessen schützen“, tweetet gerade
Gesundheitsminister Fahrettin Koca. Zuvor verplapperte er sich nämlich auf
einer Pressekonferenz. Irgendwann habe man beschlossen, nicht mehr die
Fallzahlen der Infizierten bekanntzugeben, sondern nur die der Kranken, die
Symptome zeigen. Selbst der von ihm ins Leben gerufene Wissenschaftsrat zur
Bekämpfung der Pandemie wusste das nicht.
Ebenso wenig die Weltgesundheitsorganisation, die die türkischen Zahlen als
tägliche Infektionsfälle in ihre Statistiken übernahm. Auch auf der
Web-Seite des Gesundheitsministeriums fand sich kein Hinweis auf die
Veränderung der Erhebungsgrundlage: Von „Infektionen“, nicht von „Kranken
mit Symptomen“ war die Rede.
Was bringt es, dass die Ärztekammer protestiert? In den gleichgeschalteten
Medien kommt ihre Erklärung ohnehin nicht vor. Schon dutzendfach
appellierte die Ärztekammer an die Regierung, mit Daten transparent
umzugehen. In Kooperation mit Wissenschaftlern verfasste sie detaillierte
Berichte zur Entwicklung der Pandemie. An einem Aktionstag im September
protestierten Ärzte und Pfleger mit einer schwarzen Kordel gegen das
Versagen der Regierung.
Die gleichgeschalteten Medien verbreiteten hingegen die Erklärung von
Devlet Bahçeli, Vorsitzender der Nationalistischen Aktionspartei, dem
wichtigster Partner und Unterstützer von Präsident Tayyip Erdoğan: „Wegen
einem angeblichen Anstieg von Coronafällen will die Verräterbande namens
Ärztekammer schwarze Kordeln tragen lassen. Das ist ein giftiges und
demütigendes Komplott. Die türkische Ärztekammer ist so gefährlich wie das
Coronavirus.“
Ich habe die Wortbedeutung von „Delirium“ im Duden nachgeschlagen:
„Bewusstseinstrübung, die sich in Verwirrtheit und Wahnvorstellungen
äußert.“ Ich frage mich, ob nur Individuen ins Delirium fallen können. Oder
auch ganze Gesellschaften?
Ein Gericht in Van hat ein Verbot erlassen. Angesichts der laufenden
Ermittlungen darf nicht über die aus dem Militärhelikopter geworfenen
kurdischen Bauern berichtet werden. Einer der Männer, Servet Turgut, ist
inzwischen tot.
## 6. Oktober
Die vier Journalisten, die den Abwurf aus dem Helikopter nach Augenzeugen-
und Krankenberichten recherchierten, wurden festgenommen. Eine Frage der
Zeit, wann ihnen der Prozess wegen „Unterstützung einer terroristischen
Vereinigung“ gemacht wird.
## 13. Oktober
Die Tageszeitung Takvim schlagzeilt: „Unsere Worte an das
Verfassungsgerichtsmitglied Engin, dessen Fresse einem
Assassinen-Jammerlappen ähnelt: Du wirst am Galgen dieses Fahnenmasten
baumeln“. Das Verfassungsgericht hatte das Urteil einer Strafkammer gegen
Enis Berberoğlu, einen oppositionellen Abgeordneten, kassiert. Einmalig in
der Geschichte, hatte sich die Strafkammer geweigert, dem Urteil des
Verfassungsgerichts Folge zu leisten. Engin Yıldırım, einer der obersten
Richter, twitterte nach dem kassierten Urteil ein Nachtfoto des
Verfassungsgerichts mit dem Text „Unsere Lichter brennen“.
Yıldırım, ein Konservativer, in der Ära Erdoğan zum Verfassungsrichter
berufen, wurde daraufhin als „Putschist“ bezeichnet. „Unsere Lichter
brennen immer“ so der offizielle Twitter-Account des Innenministeriums. Der
arme Mann. Dass er den Tweet löschte und sich entschuldigte, wird ihm wenig
nützen. Jemand twitterte: „Wir sind Gefangene von Gewaltpornografie.“
Die Tageszeitung Takvim gehört dem Medienkonzern Turkuaz, geführt vom
[6][Bruder des Schwiegersohns von Tayyip Erdoğan, Berat Albayr]ak, der
wiederum Finanzminister ist. Der Medienkonzern Turkuaz (im Pool sind die
türkischen Ausgaben von Esquire, Cosmopolitan, Bazaar, House Beautiful und
viele mehr) gehört dem Baukonzern Kalyon. Der Konzern, der stets die
öffentlichen Ausschreibungen gewinnt.
Ich meine mich zu erinnern, dass es der Konzern zu Weltruhm gebracht hat.
Google, Webseite der Weltbank: Private participation in infrastructure
1990–2019. Kalyon gehört weltweit zu den zehn Top-Firmen, die öffentliche
Infrastrukturaufträge realisierten. Vier sind aus der Türkei, alle mit
Tayyip Erdoğan verbandelt.
## 14. Oktober
Erdoğan tobt gegen die Ärztekammer. „Wie können wir unsere Kranken denen
anvertrauen. Wie können wir Genesung erwarten? Können wir das von
Terroristen erwarten?“ [7][Ich muss an Şebnem Korur Fincancı denken.] Sie
ist Vorsitzende der Ärztekammer. Eine außergewöhnliche Frau. Professorin
der Rechtsmedizin. Sie hat an der Verfassung des Standardwerks der
Vereinten Nationen zur Untersuchung und Dokumentation von Folter
mitgewirkt. 1996 war sie für den Internationalen Strafgerichtshof in
Bosnien an der Exhumierung von Massengräbern und an Autopsien beteiligt.
Auf den Philippinen und in Bahrain konnte sie Mord und Folter nachweisen.
Einst war sie Abteilungsleiterin der Gerichtsmedizin. Sie konnte den Chef
der Abteilung für Organisierte Kriminalität der Folter überführen. Sie
dokumentierte die Ermordung des Gewerkschafters Süleyman Yeter. Viele
internationale Auszeichnungen, in Deutschland der Hessische Friedenspreis.
Vor wenigen Jahren warteten wir vor einem Istanbuler Gefängnis auf ihre
Entlassung aus der U-Haft. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, wann
die Ärztekammer zerschlagen wird.
## 15. Oktober
Özer Sencar, Professor und Leiter des Meinungsforschungsinstituts
Metropoll, ist eine vertrauenswürdige Quelle. Er spricht in einem Interview
davon, dass Präsident Erdoğans Partei stets eine Wählerzustimmung zwischen
30 und 35 Prozent habe. Die Partei, die seit 18 Jahren die Türkei regiert,
sei nie unter 30 Prozent abgesackt. Die Zustimmung für Tayyip Erdoğan liege
erheblich über diesem Prozentsatz. Wie kann das sein angesichts der
katastrophalen Entwicklung, dem Verfall der Lira, der Verarmung und dem
Missmanagement in der Coronakrise?
Reichen Nationalismus, religiöse Durchhalteparolen, eine expansionistische
und aggressive Außenpolitik aus, um das alles zu überspielen? Der
Professor, ein Mann der Empirie, der Statistiken und Zahlen, gibt eine
Antwort, die sich eigentlich nicht geziemt: „Es ist der Glaube an Tayyip
Erdoğan.“ Der Glaube. Es ist wie beim Glücksspiel: Hat man erst einmal auf
ein Pferd gesetzt, gibt es kein zurück mehr. Selbst angesichts der
Katastrophe mag man sich Fehler nicht eingestehen. Die Türkei ist
schließlich auf dem Weg zur Großmacht.
24 Oct 2020
## LINKS
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[2] /Kurden-in-der-Tuerkei/!5644800
[3] /Tuerkische-Angriffe-in-Syrien/!5631577
[4] /Haftbefehle-in-der-Tuerkei/!5716682
[5] /Doan-Akhanl-ueber-sein-neues-Buch/!5617069
[6] /Urteil-gegen-Deniz-Yuecel-in-der-Tuerkei/!5695102
[7] /Prozesse-gegen-tuerkische-Medienvertreter/!5371300
## AUTOREN
Ali Nail
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Doğan Akhanlı
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