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# taz.de -- Konflikt in türkischer Regierung: Kündigung auf Instagram
> Berat Albayrak ist Schwiegersohn des türkischen Präsidenten – und tritt
> als Minister zurück. Der Fall zeigt das System illegaler Bündnisse auf.
Bild: Präsident Erdoğan und sein ehemaliger Finanzminister Berat Albayrak (r.)
Am 8. November tritt der türkische Finanzminister Berat Albayrak mit einem
Post auf seinem Instagram-Account zurück. Schnell wurde der
außergewöhnliche Rücktritt ein heiß diskutiertes Thema in der türkischen
Politik. Ein Rücktritt durch einen Instagram-Post kommt keinem ernsthaften
und offiziellen Rücktrittsschreiben eines Ministers der türkischen
Regierung gleich. Die Nachricht verbreitete sich schnell in den sozialen
Medien. Viele regierungsnahe Zeitungen wie Sabah und Takvim und das
staatliche Fernsehen TRT, das normalerweise die AKP rund um die Uhr
propagiert, berichteten jedoch nicht über diesen Vorfall. Interessant ist,
dass die Zeitung Yeni Şafak und der Fernsehsender TVNet, die der Familie
Albayrak gehören, den Rücktritt Albayraks ebenso nicht als erwähnenswertes
Ereignis betrachteten und beide lange Zeit zu diesem Thema schwiegen.
Es gab zwei Gründe für das Schweigen der Medien. Der erste war die
Möglichkeit, dass [1][der Rücktritt des Schwiegersohns von Erdoğan] – der
auch als sein engster Vertrauter gilt – auf einen innerfamiliären Konflikt
hindeuten könnte. Zweitens erfordert es Mut, einen solchen Vorfall in der
Türkei ohne Anweisung von Erdoğan zu melden. Der Rücktritt zeigt, dass die
Medien nach 18 Jahren AKP-Herrschaft ausschließlich auf die AKP
ausgerichtet sind. Laut Daten des Türkischen Journalistenverbands (TGS)
befinden sich derzeit 72 Journalisten wegen von ihnen veröffentlichten
Nachrichten im Gefängnis, in den letzten vier Jahren wurden in der Türkei
178 Nachrichtenmedien geschlossen. Im Laufe der Jahre haben Erdoğan und die
AKP nach und nach [2][Medien in der Türkei] unter ihre Kontrolle gebracht.
Nur drei der Dutzenden von Fernsehsendern berichteten über Albayraks
Rücktritt: Tele 1, Fox TV und der CHP-nahe Sender Halk TV.
Unter normalen Umständen sollte ein Rücktritt eines Ministers zur
politischen Normalität gehören, doch Albayraks Rücktritt löste fast eine
Krise des Regimes Erdoğan aus. Woran liegt das?
Mit einer Volksabstimmung im April 2017 wechselte das politische System in
der Türkei von einer parlamentarischen Regierung hin zu einer Regierung des
Präsidenten. In diesem System sind alle Machtbefugnisse des Staats in den
Händen einer einzigen Person vereint: Erdoğan. Präsident Erdoğan entlässt,
wen er will, und weist Personen nach eigenem Wunsch und Ermessen neue
Aufgaben zu. Dies bestätigt auch der AKP-Sprecher Ömer Çelik. Er sprach
nach Albayraks Rücktritt und beantwortete die Frage eines Journalisten, ob
der Rücktritt akzeptiert werde, so: „Es liegt im Ermessen unseres
Präsidenten. Es ist mir nicht möglich, dazu einen Kommentar abzugeben. Herr
Präsident wird die Öffentlichkeit auf eine Weise informieren, die ihm
gefällt.“ Und genau so ist es passiert. 27 Stunden nach Albayraks Rücktritt
durch einen Instagram-Post gab Erdoğan eine schriftliche Erklärung ab und
sagte: „Die Forderung des Finanzministers Berat Albayrak, von seinen
offiziellen Pflichten entbunden zu werden, wird akzeptiert.“
Erdoğans Erklärung gibt einige Hinweise auf die Ein-Mann-Herrschaft in der
Türkei. Besonders wichtig ist die Formulierung, „die Forderung, von der
Amtspflicht entbunden zu werden“. In dem Regierungssystem, das sich zu
einer Ein-Mann-Herrschaft entwickelt hat, wäre jedes Wort über einen
Rücktritt schädlich für Erdoğans Autorität. Deshalb formulierte es Erdoğan
explizit als „eine Forderung, von der Amtspflicht befreit zu werden“.
Bevor sich AKP-Politiker oder Medien dazu äußerten, kommentierte Alaattin
Çakıcı, Führer einer organisierten Verbrecherorganisation, den Rücktritt
über seinen Twitter-Account. Çakıcı saß fast zwanzig Jahre wegen Verbrechen
wie Mord, Anstiftung zum Mord, Erpressung und Körperverletzung [3][im
Gefängnis], bis er dieses Jahr entlassen wurde. AKP und MHP beschlossen
2019 ein Durchführungsgesetz, von dem nicht nur Çakıcı, sondern Hunderte
weitere Mitglieder krimineller Vereinigungen profitierten. Darunter ist
Çakıcı der wichtigste Name. Viele Politiker und Intellektuelle in der
Türkei interpretierten seine Freilassung als einen Hinweis auf ein Bündnis
zwischen der Mafia und der AKP.
Çakıcıs Twitter-Erklärung zum Rücktritt Albayraks ist keine gewöhnliche.
Çakıcı gilt als einer der Verbündeten Erdoğans und würde wohl nicht zöge…
sich für das Überleben des Systems zu opfern. Er sendete also eine
Botschaft an diejenigen, die gegen den Rücktritt Albayraks sind. Er
twitterte: „Das Finanzministerium ist die wirtschaftliche Garantie unseres
Staats und unserer Nation, und es wird keinen Bruch in den seit Jahren
bestehenden internationalen wirtschaftlichen Verbindungen geben. Während
die Welt in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckt, darf der für die
Finanzen verantwortliche Kapitän das Schiff nicht verlassen. Ihn kann nur
das Staatsoberhaupt entschuldigen.“
Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der ultranationalistischen Partei MHP,
ist einer der wichtigsten politischen Verbündeten Erdoğans. Während Bahçeli
zum Rücktritt Albayraks schwieg, zögerte Alaattin Çakıcı nicht, sich dazu
zu positionieren. Çakıcı unterhält eine bemerkenswert enge Beziehung zu
Bahçeli, daher ist durchaus denkbar, dass er in seiner Stellungnahme auch
für Bahçeli sprach. Zudem schuldet Çakıcı Erdoğan seine Freiheit, ohne das
von der Regierung erlassenen Gesetz hätte er noch Jahre im Gefängnis
bleiben müssen. All das weist auf die Verbindungen der Ein-Mann-Herrschaft
Erdoğans mit der Mafia hin.
Diese Ein-Mann-Herrschaft hat auf verschiedenste Weise illegale Bündnisse
geschmiedet, nicht selten hinter verschlossenen Türen. Das stärkt zunehmend
die autoritäre Struktur im Staat. Die Bündnisse, die die autokratische
Regierung mit der Mafia geschlossen hat, zeigen, dass der Staat in der
Türkei zu einem „Gangsterstaat“ verkommen ist, genau wie es der Journalist
Ahmet Şık oft betont.
26 Nov 2020
## LINKS
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[3] /Inhaftierter-Reporter-Nedim-Tuerfent/!5679688
## AUTOREN
Onur Öncü
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