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# taz.de -- Neues Rekordtief für Währung: Türkische Lira stürzt weiter ab
> Weil die Devisenreserven aufgebraucht sind, verliert die Lira weiter an
> Wert. Grund ist neben dem Griechenland-Konflikt vor allem Erdoğans
> Politik.
Bild: Türkische Lira wechseln sich ab mit US-Dollar-Scheinen
Istanbul taz | Die türkische Lira fällt und fällt. Kostete ein Dollar vor
einer Woche noch 6,85 Lira, wurden in der Nacht zum Montag 7,40 Lira
gezahlt – [1][so viel wie noch nie]. Etwa zeitgleich erreichte ein Euro
einen Spitzenwert von 8,72 Lira, vor wenigen Tagen waren es noch 8,0 Lira
gewesen.
Während es der türkischen Zentralbank im letzten Jahr noch mehrfach
gelungen war, den Dollarkurs von Ausschlägen nach oben durch
Devisenverkäufe immer wieder etwas zu drücken, scheint das jetzt nicht mehr
der Fall zu sein. Der Grund ist simpel: Die Devisenreserven sind mehr oder
weniger aufgebraucht. Milliardenteure Stützungskäufe finden deshalb nicht
mehr statt.
ExpertInnen sind sich über die Gründe für den Absturz einig: Kurzfristig
ging es in den vergangenen Tagen wegen neuer Spannungen mit Griechenland im
Streit um Erdgas im Mittelmeer erneut nach unten. Grundsätzlich geht es
aber darum, dass die Zinsen mit 8,5 Prozent weit unter der Inflationsrate
von 12 Prozent liegen, für die Lira herrscht also ein negativer Zins.
Am Dienstag verschaffte sich die Zentralbank kurzfristig etwas Luft: Sie
verfügte, dass sich Primärhändler ab diesem Mittwoch nicht mehr zu
Zinssätzen unterhalb des Leitzinses von 8,25 Prozent mit Geldspritzen
versorgen können. Daraufhin legte die Lira zum Dollar zeitweise zu, weil
durch den Schritt die Finanzierungskosten zulegen.
## Erdoğan feuerte Chef der Zentralbank
Wohl nur eine kurzfristig wirksame Maßnahme: „Die Strategie, alles, was
möglich ist, zu unternehmen, um eine formelle Zinserhöhung
hinauszuschieben, ging 2018 schief. Warum sollte es 2020 gelingen?“,
twitterte Tim Ash, Anleihestratege beim Investmenthaus BlueBay Asset
Management. Dadurch könne die Zentralbank eine Zinserhöhung lediglich
hinauszögern. Wie Ash sehen viele einen Ausweg aus der Währungsmisere nur
in einer kräftigen Anhebung der Zinsen.
Die Folge der schwachen Lira: Alle tauschen ihr türkisches Geld in Dollar,
Euro oder Gold um. Ausländische Anleger flüchten erst recht aus der Lira.
Diese Zinspolitik geht direkt auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip
Erdoğan zurück. Erdoğan will niedrige Zinsen, damit Kredite günstig sind
und die Leute konsumieren. Um das zu erreichen, hat er jahrelang Druck auf
die Zentralbank ausgeübt.
Als Zentralbankchef Murat Çetinkaya sich weigerte, die Zinsen zu senken,
hat Erdoğan ihn kurzerhand vor genau einem Jahr gefeuert und ihn durch den
willfährigen Banker Murat Uysal ersetzt, der denn auch in den vergangenen
zwölf Monaten die Zinsen von über 20 Prozent auf 8,5 Prozent senkte.
Das hat zwar den Immobilienmarkt befeuert, weil viele Leute mit billigen
Krediten Wohnungen kaufen konnten. Doch die türkische Regierung nimmt dafür
eine steigende Inflation in Kauf, weil immer mehr Geld gedruckt wird und
die Lira dadurch immer weiter an Wert verliert.
## Bizarre Pressekonferenz
Was Erdoğan im Moment nicht ganz so schlecht dastehen lässt, ist die
Coronakrise. Nicht nur in der Türkei, auch in allen anderen Industrie- und
Schwellenländern bricht die Wirtschaftsleistung ein, die Arbeitslosigkeit
steigt. Da fällt die Türkei nicht so auf. Etliche türkische Unternehmen
sind mit vielen Milliarden Dollar verschuldet. Noch letztes Jahr hieß es,
falls der Dollar über 7 Lira steigt, können viele Unternehmen ihre
Devisenschulden nicht mehr bedienen. Jetzt hofft die türkische Regierung
auf Schuldenmoratorien wegen Corona.
Die Unruhe in der Türkei allerdings wächst. Die Kritik an Finanzminister
Berat Albayrak, dem Schwiegersohn Erdoğans, wurde so laut, dass sich
innerhalb der regierenden AKP eine Unterstützergruppe in den sozialen
Medien organisierte, um Albayrak zu schützen. Vorsitzende diverser
Wirtschaftskammern wurden genötigt, öffentlich ihre Unterstützung für
Albayrak zu erklären.
Erdoğan verteidigte am letzten Freitag seine Wirtschaftspolitik bei einer
bizarren Pressekonferenz. Hier erklärte er, er sei deshalb erfolgreich,
weil in der Türkei bei seinem Amtsantritt 2003 nur 1 Million Kühlschränke
im Jahr verkauft wurden, jetzt seien es schon 3,1 Millionen. Schon vor
einigen Monaten hatte Fadi Hakura, der Türkei-Experte des britischen
Thinktanks Chatham House, gewarnt, Erdoğan sei so fixiert auf billiges Geld
für den Konsum, dass das zum Zusammenbruch der Wirtschaft führen könnte.
Noch hält die Regierung in Ankara die Fassade aufrecht, indem sie mit
frisch gedrucktem Geld Unternehmen unterstützt und selbst der wachsenden
Zahl an Arbeitslosen noch ein geringes Zubrot zukommen lässt.
Doch diese „mangelnde Inflationsbekämpfung“, sagt Antje Praefeke von der
Commerzbank, werde die Lira immer weiter fallen lassen. Da auch der
Tourismus in der Türkei in diesem Jahr dramatisch eingebrochen ist und kaum
Devisen in die Staatskasse bringt, ist eine Trendumkehr nicht in Sicht.
12 Aug 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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