# taz.de -- Arbeiten in der Coronakrise: Die Rechnung kommt wie immer | |
> Türkische Energiefirmen lassen trotz Pandemie monatlich die Zählerstände | |
> ablesen. Taz.gazete begleitete einen prekarisierten Ablesemitarbeiter | |
> durch Istanbul. | |
Bild: Mehmet Deniz* muss in allen 107 Häusern im Viertel die Gaszähler ablesen | |
In Büyükçekmece, einem Istanbuler Vorort westlich des Bosporus, gibt es ein | |
Viertel, das von einem Hang aus das Marmarameer überblickt. Hier stehen | |
Einfamilienhäuser, Villen und dreistöckige Mietshäuser. Der | |
Altersdurchschnitt ist hier sehr hoch. Doch in der Türkei ist es Menschen | |
über 65 Jahren verboten worden, auf die Straße zu gehen. Entsprechend sind | |
die Straßen so gut wie menschenleer. Dabei ist heute der letzte Tag vor der | |
nächsten Ausgangssperre – von Donnerstag bis Montag darf in ganz Istanbul | |
niemand außer systemrelevanten Berufsgruppen mit Sondergenehmigung die | |
Wohnung verlassen. Man sieht Menschen, die sich um ihre Gärten kümmern oder | |
auf dem Balkon Wäsche aufhängen. | |
Und es gibt Mehmet Deniz*, der in allen 107 Häusern im Viertel die | |
Gaszähler ablesen muss. Es sind mehr als 200 Gaszähler, deren Stand der | |
37-jährige Deniz an diesem Freitag abliest, in den meisten Fällen muss er | |
dafür die Wohnung betreten. Sein Lesegerät druckt die Rechnung vor Ort und | |
auf Kundenwunsch muss Deniz sie persönlich aushändigen. Rechnungssteller | |
ist der privatisierte Erdgasanbieter İGDAŞ, eine Aktiengesellschaft mit | |
städtischer Beteiligung. Deniz hat einen Hochschulabschluss und macht | |
diesen Job, weil er keine andere Arbeit fand. “Wir tun nichts für die | |
Gesundheit oder Sicherheit der Menschen. Wir decken nicht einmal ihre | |
Grundbedürfnisse“, sagt er. “Ich muss den Leuten ihre Gasrechnungen | |
lediglich zustellen. Ausgerechnet jetzt.“ | |
Mit Stand vom 23. April waren in der Türkei mehr als 100.000 Fälle von | |
Covid-19 bekannt, davon über die Hälfte allein in Istanbul. Seit die | |
Pandemie erschreckende Dimensionen angenommen hat, verfügt die AKP | |
periodisch komplette Ausgangssperren in Gebieten mit hoher Fallzahl. | |
Aktuell sind rund 30 größere Städte betroffen. Nur die als systemrelevant | |
eingestuften Berufsgruppen dürfen dann überhaupt auf die Straße. Mehmet | |
Deniz hat keinen regulären Angestelltenvertrag, rechtlich gesehen ist er | |
ein Tagelöhner bei einer Aktiengesellschaft, die Personal für Unternehmen | |
mit städtischer Beteiligung rekrutiert. Immerhin muss er an den Tagen mit | |
Ausgangssperre nicht arbeiten gehen. Dafür muss er an den | |
kontaktverbotsfreien Tagen umso mehr Gebäude betreten, um seine Zähler | |
abzulesen. Er bekommt dafür pro Tag 120 Lira (rund 16 Euro) inklusive | |
Pauschale für Verpflegung und Fahrtkosten. Noch hat er die monatliche | |
Zahlung nicht bekommen. Daher bangt er noch immer, dass die zwangsweise | |
arbeitsfreien Tage von seinem Lohn abgezogen werden, obwohl der Arbeitgeber | |
versprochen hatte, die normal übliche Arbeitszeit zu bezahlen. | |
Seit fünf Jahren geht Deniz sechs Tage pro Woche in ganz Istanbul Zähler | |
ablesen. Kurz vor Mitternacht erfährt er per Nachricht auf sein Telefon, wo | |
sein Einsatzort am nächsten Morgen ist. Deniz spricht nicht viel, er | |
arbeitet konzentriert. Er braucht kaum eine Minute, um eine Wohnung zu | |
betreten und den Gaszähler abzulesen. Das Tempo braucht er auch, denn seine | |
Kolleg*innen mit Vorerkrankungen oder Krankschreibungen fallen aus. | |
Beylikdüzü, Büyükçekmece und Esenyurt werden auf die verbleibenden | |
Ableser*innen aufgeteilt. | |
In anderen Teams seien bereits Covid-19-Fälle aufgetreten, aber noch nicht | |
in seinem. Ganz sicher weiß er es aber nicht. Er selbst hatte in den ersten | |
Tagen der Pandemie einige der einschlägigen Symptome bei sich bemerkt, | |
ebenso wie andere in seinem Team. Aber bei der Corona-Hotline des | |
Gesundheitsministeriums bekam er keine Hilfe. Manche Kund*innen wollen die | |
Rechnung persönlich überreicht bekommen. Falls eine dieser Personen ihn | |
infiziert haben sollte, hat Deniz bisher auf Hunderten von Türklingeln das | |
Virus hinterlassen. Er muss Türklinken berühren und Papierrechnungen | |
hinterlassen. | |
Istanbul Personalmanagement AG, kurz ISPER, nennt sich die börsennotierte | |
Firma, die von der Stadtverwaltung gegründet wurde und unter ihren 13.000 | |
Arbeitnehmer*innen auch rund 600 Zählerableser*innen führt. Einhundert von | |
ihnen traten am 1. April in den Warnstreik. Daraufhin erlaubte der | |
Erdgasanbieter İGDAŞ “flexible Arbeitszeiten“. Normalerweise sind die | |
Arbeitszeiten von 9 bis 17 Uhr einzuhalten, aber dank Corona dürfen die | |
Ableser*innen jetzt beginnen, wann sie wollen. Sie sind lediglich | |
verpflichtet, sämtliche Gaszähler in einem festgelegten Wohngebiet an einem | |
Arbeitstag zu erfassen. Eine Erleichterung bringt die Flexibilität nicht. | |
Es gibt schließlich auch Gebiete, in denen der Fußweg zwischen zwei Häusern | |
eine Dreiviertelstunde in Anspruch nimmt. “In den Siedlungen mit | |
Einfamilienhäusern legt man pro Tag schonmal bis zu 20 Kilometer zurück“, | |
sagt Deniz. “Ich bin auch schon an einem Tag über 30 Kilometer gelaufen.“ | |
Auf dem Weg in ein dreistöckiges Mehrfamilienhaus begegnet Deniz im Garten | |
ein bellender Hund. Er wartet kurz ab. Mehrmals schon sei er von Hunden | |
beinahe gebissen worden. Seither hat er Angst. Er trägt sogar für alle | |
Fälle einen Knüppel bei sich. Seit 9 Uhr morgens zieht Deniz von Tür zu | |
Tür. Es ist jetzt 12.30 und er möchte bei einem kleinen Laden Mittagspause | |
machen. Da hält ein weißer Kastenwagen vor seiner Nase. Der Fahrer mag | |
Mitte 50 sein, er möchte “in die Stadt“ fahren und fordert Deniz auf, eben | |
schnell noch seinen Gaszähler abzulesen. Deniz schaut auf die Karte in | |
seiner Smartphone-App. Er findet die Adresse. “Ja, das ist in meinem | |
Gebiet“, antwortet er. “Komm, wir erledigen das schnell.“ Er zieht los, um | |
den einzelnen Zähler abzulesen. Dann kehrt er zu dem Laden zurück. Er kauft | |
Wasser und Schokolade. Das ist sein Mittagessen. | |
Nach der kurzen Pause geht es weiter. Deniz versucht, ein Eisengitter vor | |
einem zweistöckigen Einfamilienhaus aufzudrücken und brüllt: “Erdgas!“ E… | |
Mann Mitte 50 schaut misstrauisch aus dem Fenster, dann kommt er an die | |
Haustür. “Ich dachte, das ist ausgesetzt?“, fragt er brüsk. “In den | |
Nachrichten hieß es, dass derzeit keine Rechnungen ausgestellt werden.“ | |
Deniz begnügt sich mit einem “Sie haben Recht“, liest eilig den Zähler ab | |
und händigt die Rechnung aus. In Dutzenden Haushalten hört er täglich | |
denselben Einwand. | |
## Energiemarkt als Gefährder | |
Tatsächlich hat die Energiemarktregulierungsbehörde EPDK am 3. April | |
angekündigt, “zur Prävention der Seuchenausbreitung und zur Unterstützung | |
der sozialen Isolation“ für die nächsten drei Monate den Verbrauch von | |
Strom und Erdgas auf Grundlage des vergangenen Verbrauchs zu berechnen. In | |
vielen Medien hieß es daraufhin, Gas- und Stromzähler würden ab sofort 3 | |
Monate lang nicht abgelesen. Im Text der Energiemarktregulierungsbehörde | |
steht allerdings, dass diese Maßnahme nur für Siedlungen gelte, die unter | |
Quarantäne stehen und für die “per Verwaltungsbeschluss das Ablesen von | |
Zählern ausgesetzt worden ist.“ Istanbul ist zwar Epizentrum der Seuche in | |
der Türkei, aber kein einziges Wohnviertel der Verwaltungsprovinz ist zum | |
Quarantänegebiet erklärt worden. Daher müssen Deniz und seine Kolleg*innen | |
tagtäglich sich selbst und alle Menschen, die sie besuchen, in Gefahr | |
bringen. | |
Süleyman Keskin ist Vorsitzender der Gewerkschaft Enerji-Sen. Seit Ausbruch | |
der Epidemie kämpfe die Gewerkschaft für eine Verbesserung der | |
Arbeitsbedingungen im Energiesektor, sagt Keskin. Sie ist im linken | |
Dachverband DISK organisiert. Für Keskin steht fest: Die | |
Energiemarktregulierungsbehörde schützt die Interessen der Energiefirmen, | |
während die Arbeiter*innen von Tür zu Tür ziehen müssen, ihre eigenen | |
Familien und die der Kund*innen unnötig in Gefahr bringen. Er erzählt von | |
der Aktiengesellschaft Energieversorgung Sakarya, die für den Zeitraum der | |
kompletten Ausganssperre vom 23. bis zum 27. April eigens eine | |
Sondergenehmigung eingeholt hat, um ihre Leute ins Feld schicken zu können. | |
Die Gesellschaft zieht sich darauf zurück, dass kritische | |
Infrastrukturleistungen wie Stromversorgung gewährleistet bleiben müssen | |
und daher ihr Betrieb ohnehin von der Ausgangssperre ausgenommen sei. Das | |
Statement der Firma bestreitet, überhaupt eine Erlaubnis beim Ministerium | |
beantragt zu haben. “Mit Ausnahme der Bereitschaftsteams für Störungsfälle | |
müssen sämtliche Arbeiter*innen im Energiebereich zuhause bleiben“, sagt | |
Keskin. Es könne nicht sein, dass die Pandemie ausgesessen werde, indem die | |
Arbeitslast der einzelnen Mitarbeiter*innen im Außendienst erhöht werde. | |
“Die Rechnungslegung für die Bürger*innen muss einfach aufgeschoben | |
werden.“ | |
Mehmet Deniz hat nur noch ein paar Häuser vor sich. Er geht durch eine | |
Straße, in deren Gärten Olivenbäume, Lorbeer und Granatapfelbäume wachsen. | |
Die Häuser sind zweistöckige Eigenheime. Deniz nähert sich zwei aneinander | |
angrenzenden Häusern. Aus dem einen kommt ein Mann über 60 und fragt, wie | |
hoch die Rechnung sei. 654 Lira (rund 87 Euro) muss die Familie für 36 Tage | |
bezahlen. “Ma’schallah“, beschwert sich der Mann und starrt lange auf die | |
Rechnung in seiner Hand. Dann fragt er seinen Nachbarn, wie hoch dessen | |
Rechnung ausgefallen sei. Deniz hat sie bereits ausgehändigt. “661 Lira“, | |
antwortet der Nachbar. “Dabei hieß es, während der Krise sollen keine | |
Rechnungen kommen“, sagt der Erste. “Dafür kommen sie ganz schön dicke.“ | |
Mehmet Deniz hat seine 107 Häuser für den heutigen Tag abgeklappert und | |
mehr als 200 Rechnungen ausgestellt. Auf dem Weg zur Bushaltestelle denkt | |
er an seine schwangere Frau. Sein Heimweg ist lang, und bevor er zuhause | |
ankommt, wird er wie jeden Tag bei ihr anzurufen und sie bitten, sich in | |
ein anderes Zimmer zurückzuziehen, bevor er die Wohnung betritt. Er wird | |
seine Kleidung ausziehen und in einer Plastiktüte auf den Balkon legen, | |
alles abwischen, was er berührt hat und sich duschen. Dann erst wird er sie | |
sehen. | |
* Name von der Redaktion geändert. | |
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
24 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Vecih Cuzdan | |
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