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# taz.de -- Corona in Diyarbakır: Kultur oder Ökonomie?
> In Diyarbakır breiten sich die Corona-Neuinfektionen aus. Expert*innen
> sind uneins, ob wirtschaftliche Misere oder etwa kulturelle Andersheit
> der Grund sind.
Bild: Das Gesundheitsministerium gab für den 15. Juni die Zahl von 1.592 erfas…
Seit Lockerung der Einschränkungen sind in der Türkei auch die Corona-Fälle
wieder gestiegen. In der letzten Woche kam es zu einem dramatischen
Anstieg. Das Gesundheitsministerium gab für den 15. Juni die Zahl von 1.592
erfassten Neuinfektionen an.
Gesundheitsminister Fahrettin Koca wies daraufhin, dass im Juni
insbesondere in Zentralanatolien und im Südosten ein Anstieg der
Neuinfektionen zu verzeichnen sei. Bisher war Istanbul das Epizentrum der
Pandemie gewesen. Im April und Mai hatten die Fallzahlen in Diyarbakır
unter dem landesweiten Durchschnitt gelegen. Nach Ende des Ramadan seien
sie aber über den Durchschnitt gestiegen.
Diyarbakır hat mitsamt der umliegenden ländlichen Gebiete rund zwei
Millionen Einwohner*innen und gilt als eine der ärmsten Städte der Türkei
mit hoher Arbeitslosigkeit. Insbesondere in den Randbezirken der Innenstadt
leben oft große Familien auf engstem Raum miteinander.
Vor den zwei Pandemie-Krankenhäusern der Stadt bilden sich mittlerweile
lange Schlangen von Bürger*innen, die sich auf Corona testen lassen wollen.
Verschiedene Wohnviertel wurden unter Quarantäne gestellt. Polizeifahrzeuge
sorgen dafür, dass niemand die Viertel verlässt oder betritt. Die bekannten
Fälle werden zwar scharf beobachtet, die meisten Covid19-Erkrankten müssen
allerdings zuhause behandelt werden.
## Ungleichheit fördert Ansteckung
Recep Tekin arbeitet an der Virologie der Universitätsklinik Dicle. Derzeit
koordiniert er die intensivmedizinische Behandlung der
Corona-Patient*innen. Vor dem Zuckerfest waren dank erfolgreicher Maßnahmen
zur Eindämmung nur ein Viertel der bereitgestellten Betten belegt,
mittlerweile liegt die Auslastung bei 70%. „Letzten Monat hatten wir viele
ältere Patient*innen, die intensivmedizinische Betreuung brauchten“, sagt
Tekin. „Letzte Woche sind uns vor allem viele infizierte junge Menschen
bekannt geworden, die auch zuhause behandelt werden können.“
Für Tekin steht fest: Wo viele Menschen auf engem Raum zusammenleben, ist
das Ansteckungsrisiko besonders hoch. Das betreffe in Diyarbakır allerdings
nicht nur einkommensschwache Familien, sondern sei ein kulturelles
Phänomen.
Şeyhmus Gökalp ist da anderer Meinung. Er war Vorsitzender der Ärztekammer
von Diyarbakır und sieht die verbreitete Armut durchaus als einen Faktor,
der die Ausbreitung des Virus begünstigt. „Wo es Ungleichheit gibt, steckt
man sich schneller an“, sagt Gökalp. Man sehe das an einem Wohngebiet wie
Bağlar besonders deutlich. „Wer arm ist, muss sich mit mehreren Menschen
ein Zimmer teilen und hat weniger Zugang zu Hygiene“, sagt er. Es gebe
Familien, in denen fünf Kinder sich ein Bett teilen müssten.
Seit die von der Regierung ausgerufenen Vorkehrungen Anfang Juni gelockert
wurden, sei die Zahl der erfassten Fälle in der Stadt um 50 Prozent von 800
auf 1200 gestiegen. Gökalp macht die falsche Politik des provinziellen
Pandemierats dafür verantwortlich. Denn als Regierungsprovinz wird
Diyarbakır von einem Gouverneur der Zentralregierung geleitet, der sich mit
kommunalen Stellen schlecht koordiniert und die relevanten
Berufsorganisationen ebenso außen vor lässt wie die Zivilgesellschaft.
„Ärztekammer und Apothekerverband wurden weder in den Provinzen noch auf
zentraler Ebene hinzugezogen.“, sagt Gökalp. „Man bekommt nur Verordnungen
geschickt, die man gegenzeichnen muss.“
## Nominelle Hilfe
Virologe Tekin räumt zwar ein, dass der Pandemierat verbesserungsfähig sei,
spricht aber lieber von kulturellen Faktoren als von Politik.
Kondolenzbesuche, Moscheen und regionale Festlichkeiten seien Schuld an der
Ausbreitung des Virus. Den Verboten zum Trotz würden die Menschen von ihren
Gewohnheiten nicht abrücken und gemeinsam trauern oder beten.
Alican Ebedinoğlu von der örtlichen Industrie- und Handelskammer findet
hingegen die wirtschaftlichen Gründe ausschlaggebender. Denn die
Zentralregierung habe Betriebe und Geschäfte schließen lassen, ohne den
Betroffenen Hilfen anzubieten. „Die Schulden wurden zwar für drei Monate
gestundet, aber am Ende müssen sie eben doch bezahlt werden“, sagt
Ebedinoğlu. „Wir haben gefordert, dass die öffentliche Hand drei Monate
lang die Gewerbemieten bezahlt. Wir haben nämlich Tausende von
Gewerbetreibenden hier, die jetzt ihre Mieten nicht mehr zahlen können. Sie
haben jeweils 1000 Lira bekommen (rund 130 Euro), wozu soll das gut sein.“
Ebedinoğlu sieht unter diesen Umständen keine Alternative zur Lockerung der
Maßnahmen. Denn der Dienstleistungsbereich hat für Diyarbakır eine
Lokomotivkraft und von seiner Stilllegung waren mehr als 100.000 Menschen
unmittelbar betroffen. Wer in irregulären Arbeitsverhältnissen steht, könne
ohnehin keine staatliche Hilfe beanspruchen und sei besonders darauf
angewiesen, seine Arbeit nicht zu unterbrechen. „Mindestens 30 Prozent der
Menschen, mit denen unsere Mitglieder arbeiten, haben keinen Vertrag“, sagt
Ebedinoğlu. „Wir gehen von rund 30.000 Menschen aus, die von den
Schließungen betroffen sind, ohne Hilfe in Anspruch nehmen zu können.“
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
16 Jun 2020
## AUTOREN
Figen Güneş
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Türkei
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