# taz.de -- Türkische Angriffe in Syrien: Erdoğans Vernichtungskrieg | |
> Antikurdischer Rassismus prägt die Türkei seit jeher. Mit „berechtigten | |
> Sicherheitsinteressen“ haben die Angriffe auf Rojava nichts zu tun. | |
Bild: Menschen fliehen vom Dorf in die Stadt, von der Stadt ins Dorf | |
Seit dem vergangenen Dienstag schlagen türkische Raketen im kurdischen | |
Gebiet Rojava in Syrien ein. Es ist ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung, | |
den wir in Medienberichten live mitverfolgen können: Menschen fliehen vom | |
Dorf in die Stadt, von der Stadt ins Dorf, je nachdem, wo gerade | |
bombardiert wird. Sie schlafen auf der Straße, auf öffentlichen Plätzen. | |
Das türkische Militär beschießt gezielt Konvois von [1][fliehenden | |
Zivilist*innen], Wohnviertel, Bäckereien und die Gefängnisse, in denen | |
IS-Kämpfer inhaftiert sind – die kommen frei. Auch wird von Exekutionen | |
durch das türkische Militär berichtet. Die kurdische Politikerin Havrin | |
Khalaf wurde regelrecht hingerichtet, ihr Körper von Kugeln durchsiebt. | |
Nachdem die kurdische Selbstverwaltung die internationale | |
Staatengemeinschaft vergeblich um Hilfe angefleht hatte, ging sie in ihrer | |
Not einen [2][Deal mit dem Assad-Regime] ein, um eine ethnische Säuberung | |
zu verhindern. | |
Die Kurd*innen haben in ihrer Geschichte eine lange Reihe von Massakern und | |
Genozide zu verzeichnen, beispielsweise die Operation Anfal des | |
Saddam-Regimes, bei der 180.000 Kurd*innen getötet wurden, und dem Genozid | |
an den êzîdischen Kurd*innen 2014, verübt vom IS. | |
Schon in der Staatsgründung der Republik Türkei war der antikurdische | |
Rassismus fest verankert. Aus „Kurden“ wurden damals „Bergtürken“ und | |
später „Osttürken“. Antikurdische Gesetze wurden eingeführt, vom Verbot … | |
Sprache bis hin zum Verbot kurdischer Kleidung. Assimilierung wurde | |
erzwungen. Gegen die, die sich nicht assimilieren ließen, ging man mit | |
brutaler Gewalt vor. | |
## Gewalttaten auch seitens der Zivilbevölkerung | |
In der Türkei gibt es eine entsprechend lange Geschichte von antikurdischen | |
Gewalttaten. Beispielsweise der Dersim-Genozid 1938, bei dem das türkische | |
Militär Massaker an den kurdischen Alevit*innen in Dersim im Osten der | |
Türkei verübte. Oder die 90er Jahre, als Tausende Zivilist*innen getötet | |
wurden, auf offener Straße erschossen, in Foltergefängnissen verschwanden, | |
und das türkische Militär Tausende kurdische Dörfer zerstörte. | |
Die Gewalttaten gegen Kurd*innen werden in der Türkei nicht nur von | |
Geheimdienst, Polizei und Militär, also staatlicher Seite, aus, sondern | |
auch von der Zivilbevölkerung verübt. Vor wenigen Tagen wurde laut | |
Medienberichten ein 74 Jahre alter Patient im Krankenhaus von anderen | |
Patient*innen verprügelt, weil er kurdisch gesprochen hatte. Letzten | |
Dezember schoss man einem Vater und Sohn in den Kopf, weil sie kurdisch | |
miteinander sprachen. | |
Als ich im vergangenen Jahr auf Recherchereise in der Türkei war, | |
berichtete mir ein kurdischer Student, der in der Westtürkei studiert | |
hatte, dass er von einem Mob aus türkisch-nationalistischen Student*innen | |
verprügelt worden war, nur aufgrund seines vermeintlich kurdischen | |
Aussehens. | |
Antikurdischer Rassismus tötet. Alle Parteien im türkischen Parlament, mit | |
Ausnahme der HDP, haben diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg | |
zugestimmt. Gegen die Kurd*innen sind sich alle einig. Nach der Niederlage | |
bei der Istanbul-Wahl schafft der türkische Präsident Erdoğan mit Hilfe des | |
antikurdischen Rassismus einen Schulterschluss: Gemeinsam gegen den | |
kurdischen Feind. | |
## Eine App zum Denunzieren | |
Dieser Krieg findet nicht nur in Rojava statt, sondern auch innerhalb der | |
türkischen Landesgrenzen. Bewohner*innen im Grenzgebiet berichten von | |
Evakuierungen. Kurdische Bürgermeister*innen werden festgenommen. | |
Menschen, die den Einmarsch kritisieren, werden ins Gefängnis gesteckt. | |
Auch in Ditib-Moscheen in Deutschland wird für den Sieg in Rojava gebetet, | |
die Fetih-Sure hat man noch parat vom letzten Krieg in Afrîn. Über eine App | |
namens EGM (zu finden auch im Appstore) können türkische | |
Staatsbürger*innen ganz bequem von ihrem Wohnzimmersofa in Hamburg-Altona | |
oder Weihenstephan aus andere türkische Staatsbürger*innen, die sich | |
kritisch über Erdoğan äußern, denunzieren. Unbürokratisch, schnell mal eben | |
auf der Arbeit: Die Kollegin hat in der Raucherpause den Einmarsch als | |
völkerrechtswidrig bezeichnet? Zack, denunziert. | |
Der Krieg findet seinen Weg in internationale Fußballstadien, wenn | |
türkische Fußballspieler militärisch grüßen, und ins Internet. So wurde der | |
Facebook-Account der kurdisch-österreichischen Politikerin Berivan Aslan, | |
die den Einmarsch kritisierte, in den letzten Tagen gleich zweimal von | |
türkischen Faschist*innen gehackt. | |
Ob Twitter oder Instagram: Beleidigungen, Hassnachrichten, Wolf-Emojis und | |
Türkeiflaggen erhalten gerade alle, die sich gegen Erdoğans Kriegspolitik | |
äußern. Kurdische Kritiker*innen dieses Krieges werden pauschal als | |
PKK-Anhänger*innen oder Islamhasser*innen diskreditiert. | |
## Eine Diskursverschiebung | |
Nicht zuletzt spielt sich dieser Krieg auch in der Sprache ab. Erdoğan | |
spricht von „Verteidigung“, wenn er Angriff meint, von „Terroristen“, w… | |
er Kurd*innen meint, und von „Sieg“, wenn er Vernichtung meint. Terroristen | |
darf man töten, sie stellen eine Bedrohung für das Allgemeinwohl dar. Mit | |
Terroristen kann man nicht verhandeln. Greifen sie an, muss man sich | |
verteidigen. | |
Feinde muss man mit allen Mitteln bekämpfen, auch wenn dies bedeutet, sich | |
mit anderen „zornigen Jungs“ (ein Zitat des ehemaligen türkischen | |
Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu während der Schlacht um Kobanê) wie dem | |
IS zusammenzutun. | |
Es ist also eine Diskursverschiebung, die stattfindet. Kurd*innen werden, | |
auch das ein alter antikurdischer Rassismus, mit Terroristen gleichgesetzt, | |
während Islamisten legitime Verbündete sind. Dabei sind diese | |
islamistischen Verbündeten eine Bedrohung – auch für Europa und alle, die | |
für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung einstehen. | |
Vor allem aber führt Erdoğan einen Vernichtungskrieg gegen die Kurd*innen. | |
Nicht etwa „berechtigte Sicherheitsinteressen“ sind hier der Antrieb, wie | |
es die Bundesregierung verlauten ließ, sondern Hass. | |
18 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Ronya Othmann | |
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