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# taz.de -- US-Künstlerin Miranda July: „Langeweile ist für Kinderlose“
> Die Regisseurin und Schriftstellerin Miranda July bringt einen
> Coming-of-Age-Film heraus – und spricht über Kreativität zwischen
> Lockdown und Unruhen.
Bild: Die Künstlerin Miranda July probiert gern selbst die Dinge aus, die ihre…
Seit ihrem letzten Spielfilm „The Future“ sind über neun Jahre vergangen,
in denen [1][Miranda July sich anderen Projekten widmete]. Ihr Film
„Kajillionaire“ erzählt die Coming-of-Age-Geschichte der 26-jährigen Old
Dolio, die mit ihren ungewöhnlichen Eltern bei einem Versicherungsbetrug
eine Fremde kennenlernt, die ihr Leben verändert. Der Film beschäftigt sich
mit der Beziehung zwischen Eltern und Kind, mit Nähe, Liebe und der Frage,
was uns nach dem Tod erwartet.
taz: Wie war Ihr Jahr bisher, Frau July?
Miranda July: Es fühlt sich an wie viele Jahre in einem. Ich bin dankbar
dafür, alles zu haben, was mir wichtig ist. Aber alles über diese
essenziellen Dinge hinaus fand einfach nicht statt. Es ist interessant zu
sehen, wie man das eigene Leben komplett umformen kann.
Vermissen Sie die Langeweile, die Sie früher als so wichtig für Ihre Arbeit
empfunden haben?
Langeweile ist etwas für Leute ohne Kinder. Ich wünschte, ich hätte
Langeweile – aber das ist eine der Sachen, die ich loslassen musste. Ich
beschule momentan entweder mein Kind zu Hause oder versuche zu arbeiten,
und dann bin ich erschöpft. Das war’s.
Haben Sie denn in dieser Zeit auch irgendetwas Besonderes oder Gutes
entdeckt?
Auf jeden Fall erfüllt Technologie nun ihren Zweck. Ohne Social Media würde
ich überhaupt nicht mitbekommen, wie mein neuer Film beim Publikum ankommt.
Normalerweise wäre ich gerade unterwegs und würde auf Veranstaltungen über
„Kajillionaire“ sprechen. Auch für die abgeklärteste Person, die so tut,
als seien ihr Publikumsreaktionen egal, ist es schwierig, mit einem neuen
Projekt zu beginnen, wenn sie keine Ahnung hat, wie ihr vorheriges Werk
angekommen ist. Das ist ein Teil kreativer Entwicklung. Zum Glück bekomme
ich über Instagram viele Nachrichten, die teilweise sehr süß und persönlich
sind. Und über Instagram habe ich dann auch versucht, Dinge zu erschaffen,
die vielleicht nur in dieser Zeit entstehen konnten.
Was sind das für Dinge?
Anfangs haben mir junge Leute sehr leidgetan, die eigentlich gerade in die
Welt hinaustreten sollten. Für jemanden wie mich war das ein besonderes
Jahr – aber kein entscheidendes. Für junge Erwachsene stellen bestimmte
Jahre die Weichen für den Rest des Lebens. Es hat mir das Herz gebrochen,
mir vorzustellen, dass manche Menschen dieses Jahr vielleicht wirklich
verloren haben. Deshalb habe ich auch zu Beginn des Lockdowns auf Instagram
ein [2][Covid International Arts Festival] gestartet mit einem Aufruf an
Künstler und Künstlerinnen, ihre Arbeiten einzusenden. Einige Zeit später
habe ich [3][einen Film gemeinsam mit meinem Publikum gedreht], und dann
gab es diese Revolution der sozialen, der antirassistischen Gerechtigkeit,
worauf ich mich ganz konzentriert habe.
Also haben sich auch bei Ihnen 2020 viele Pläne geändert?
Ich ziehe Dinge eigentlich durch – aber man muss lernen loszulassen, wenn
Pläne keinen Sinn mehr ergeben. Das ist etwas Neues, das wir anstreben
sollten. Zu lernen, Ideen loszulassen und dann schnell neue zu haben.
Auch in „Kajillionaire“ geht es darum, mehr loszulassen, an nichts
festzuhalten, nicht einmal am Leben, wie die Protagonistin Old Dolio sagt.
Wenn Sie sich unsere heutige Welt anschauen, würden Sie sagen, das Leben,
wie wir es kannten, ist vorbei?
Ich glaube nicht, dass wir zum alten Status zurückkehren werden. Es wird
nicht so einfach ein Impfstoff entwickelt, und dann ist alles wieder
normal. Und ich hoffe auch ganz stark, dass wir in diesem Land nicht wieder
zu einer Akzeptanz weißer Vorherrschaft in verheerendem Ausmaß zurückkehren
werden. Es wurde einfach ein Schleier heruntergerissen.
In „Kajillionaire“ löst die Figur der eigentlich sehr abweisenden Old Dolio
ganz plötzlich die künstlichen Fingernägel einer fast Fremden ab, was für
einen eigentümlich magischen Moment sorgt. Solch unerwartete Brüche sind
typisch für Ihre Figuren – aber wie denkt man sich denn so etwas aus?
Ich stellte mir die Art von Frau vor, die solche Nägel trägt. Und
überlegte, wie es sich anfühlte und aussähe, wenn sie abgezogen würden. Das
erschien mir sehr intim. Von meinem Studio aus lief ich wie in Trance zur
Drogerie und kaufte Kunstnägel, probierte das an mir selbst und schrieb es
dann auf. Ich mache das oft so. Manchmal muss ich etwas immer weiter
ausprobieren, bis schließlich die Figuren diese Dinge statt meiner
umsetzen.
Sie haben „Kajillionaire“, nachdem die ursprüngliche Finanzierung geplatzt
war, mit der Produktionsfirma Focus Features produziert. Wäre eine
Streamingplattform dafür auch infrage gekommen, so, wie zum Beispiel Apple
TV+ den neuen Film von Sophia Coppola finanziert hat?
Für diesen Film habe ich so eine Finanzierung nicht in Betracht gezogen,
denn das war vielleicht eine der letzten Chancen, nur fürs Kino zu drehen.
Man muss sich entscheiden zwischen einer Kinoproduktion und dem doppelten
Budget, wenn man für Netflix oder andere Streamingdienste produziert.
Was hat für Sie sonst noch dagegengesprochen?
Ich habe die Vor- und Nachteile abgewogen. Ich bin keine Puristin, ich
arbeite in vielen verschiedenen Formen, selbst innerhalb des Mediums Film.
Nicht viele Kinofilmregisseurinnen würden einen Film auf Instagram
produzieren. Aber ich sehe so etwas nicht als weniger wertvoll an. Diese
Arten von Film haben einfach unterschiedliche Energien. Und: Film ist eine
vergleichsweise neue Kunst. Da erwartet man doch, dass sie sich wirklich
weiterentwickelt und nicht mehr genauso aussieht wie kurz zuvor.
Ist die Art der Finanzierung denn entscheidend für den Charakter eines
Films?
Streamingplattformen können gefährlich werden, weil sie Monopole schaffen.
Sie beeinflussen Filme mit sehr großen Geldsummen. Aber heutzutage
[4][prägen auch Kids mit Handykameras die Filmbranche] – besonders
dahingehend, welche Geschichten erzählt werden und welche Art von Menschen
sich als Filmschaffende sehen. Fast jedes Telefon hat eine gute
Videokamera, und jede*r kann solche Filme einfach und schnell verbreiten.
Man fragt sich: Was macht Filmschaffende überhaupt aus? Und können nur
Spielfilme die Welt verändern? Kann das nicht auch ein fünfminütiger Clip?
Welchen Unterschied macht es für den Dreh eines Films, wie viel Geld
hineingesteckt wird?
Wenn man einmal in den Bereich eines größeren Budgets kommt, ist man nicht
mehr so völlig frei wie ganz ohne Budget. Für „Kajillionaire“ hatte ich
mehr Geld zur Verfügung als für meine anderen Filme, auch wenn das immer
noch relativ wenig war. Ich musste nicht aus Geldmangel unangenehme Dinge
tun, sondern konnte einfach die Geschichte erzählen – so hat es besonders
viel Spaß gemacht. Das war wirklich irgendwie ein erstes Mal, und es war
großartig.
Welche Rolle spielt der Anspruch, den Sie an Ihre Arbeit stellen?
Ich glaube nicht, dass er sich ändert, wenn weniger Geld in ein Projekt
fließt. Die Herangehensweise ist vielleicht kreativer, weil ich spontaner
und etwas weniger vorsichtig sein kann. Aber etwas zu teilen, das weniger
durchdacht ist, ist dafür auf eine andere Art beängstigend. Für alles, was
ich tue, habe ich ungefähr die gleichen Maßstäbe, egal ob etwas sehr frei
und spontan ist oder ob es jahrelang gedauert hat. Das kommt mir dann fast
vor wie verschiedene Medien – aber sie müssen beide gut sein.
25 Nov 2020
## LINKS
[1] /Miranda-Julys-erster-Roman/!5242718
[2] https://www.instagram.com/p/B-GhsZ3BMO4/?hl=de
[3] https://www.instagram.com/p/CANzdn2BLiy/
[4] /Transgender-Komoedie-Tangerine-LA/!5316870
## AUTOREN
Marie-Claire Wygand
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