# taz.de -- Biopics auf der Berlinale: Im Schwung der Lieder | |
> Auch 2021 werden auf der Berlinale neue Musikfilme gezeigt. „Tina“ und | |
> „Per Lucio“ porträtieren die Stars Tina Turner und Lucio Dalla. | |
Bild: Der Liedermacher sinnend am Gleis: Lucio Dalla in „Per Lucio“ | |
Dokumentarfilme boomen und mit ihnen biografische Werke, besonders über | |
solche Künstler, Sportler und andere Berühmtheiten, zu denen viel | |
Bildmaterial verfügbar ist. Hagiografisch sind diese Filme oft, was so | |
richtig wie banal ist: Welcher Filmemacher will schon mehrere Jahre seiner | |
Karriere mit einem Subjekt verbringen, das er nicht schätzt? | |
Was man biografischen Dokumentarfilmen viel häufiger vorwerfen muss, ist, | |
dass sie kaum mehr sind als verfilmte Wikipedia-Einträge: In möglichst | |
rasanter Montage werden die Stationen eines Lebens abgehakt, gesäumt mit | |
wohlwollenden Kommentaren von Wegbegleitern. So ein Film ist „Tina“ von | |
Daniel Lindsey und T. J. Martin, eine von zwei Musiker-Dokumentationen, die | |
als Berlinale Special zu sehen sind und künstlerisch kaum weiter | |
voneinander entfernt sein könnten. | |
Falsch macht „Tina“ nichts, gerade für Fans der inzwischen 81-jährigen Ti… | |
Turner bieten die zwei Stunden Karriererückblick reiches, oft mitreißendes | |
Bildmaterial, ausgetretene Pfade verlassen die Regisseure allerdings nie. | |
Penibel erzählen sie das Leben Turners nach, eine Karriere, die Ende der | |
50er Jahre an der Seite des Mannes begann, der ihr zum Ruhm verhalf und sie | |
schwer misshandelte: ihr erster Mann Ike Turner. Erst Mitte der 70er Jahre | |
konnte sich Tina Turner aus der Ehe lösen, [1][startete eine sensationelle | |
Solokarriere,] die sie zu einer der erfolgreichsten Sängerinnen aller | |
Zeiten machte. | |
## Eine sehr US-amerikanische Erfolgsgeschichte | |
Als Geschichte einer Emanzipation erzählen Lindsey und Martin diese | |
Geschichte, als Akt der Selbstbefreiung einer starken Frau, die sich gegen | |
alle Widerstände in Privatleben und Showgeschäft durchgesetzt und nun in | |
der Schweiz ihren Frieden gefunden hat. | |
Eine sehr amerikanische Erfolgsgeschichte ist das, die schon Vorlage für | |
einen Spielfilm war. Und man kann nicht anders, als Turner zu bewundern, | |
ihren Willen, zu überleben, sich durchzusetzen, ihre Energie auf der Bühne, | |
im Leben. | |
Was bei dieser Geschichte außen vor bleiben muss, sind Brüche, die nicht in | |
die klare Dramaturgie passen, das schwierige Verhältnis zu Turners | |
leiblichen und adoptierten Kindern etwa, von denen die Sängerin offenbar | |
seit Jahren entfremdet ist. Schlecht ist „Tina“ dadurch nicht, doch | |
gefällig und, ja, ein wenig hagiografisch. | |
So bekannt Tina Turner gerade in Deutschland ist, so unbekannt dürfte außer | |
bei Italienexperten der Sänger Lucio Dalla sein, den Pietro Marcello in | |
„Per Lucio“ porträtiert. Auch Marcello ist in Deutschland noch kaum | |
bekannt, was sich spätestens Ende Juli ändern sollte, wenn mit von der | |
Pandemie verursachter Verspätung [2][sein Spielfilm „Martin Eden“] ins Kino | |
kommt, der zu den Höhepunkten des Kinojahres zählt. | |
Auch wegen des Einsatzes von dokumentarischem Material, das Marcello zu | |
einer flirrenden Collage der italienischen Geschichte des 20. Jahrhunderts | |
montiert, ein Ansatz, den er ebenfalls in „Per Lucio“ verfolgt. | |
## Wenig bekannter Dalla war zunächst Jazzsänger | |
Geboren wurde Dalla 1943 in Bologna, versuchte sich als Jazzsänger, bevor | |
er zusammen mit dem Dichter Roberto Roversi in den 70er Jahren jene Lieder | |
schrieb, die seinen Ruhm begründeten. All das erfährt man eher nebenbei | |
oder gar nicht, denn Marcello hat anderes im Sinn als das Abhaken | |
biografischer Stationen. | |
Allein der Einsatz der beiden Interviewpartner – Dallas Manager Umberto | |
„Tobia“ Righi und sein enger Freund Stefano Bonaga – deuten den | |
unkonventionellen Ansatz Marcellos an: Sie sprechen nicht in die Kamera, | |
direkt zum Zuschauer, sondern miteinander, bei Pasta und Wein, reden über | |
Dalla, erinnern sich an Momente, die sie mit dem 2012 verstorbenen Sänger | |
erlebten. Anekdotisch ist das, impressionistisch und fügt sich nahtlos in | |
die Collage, die Marcello aus Archivmaterial entstehen lässt. | |
Nicht nur um Dalla geht es, sondern um das Italien der Nachkriegszeit, ein | |
Land, das sich noch viel mehr als andere europäische Länder von einer | |
Agrar- zur Industriegesellschaft verwandelt hat, eine Entwicklung, die auch | |
in Dallas und Roversis Heimatstadt Bologna gravierende Veränderungen | |
verursachte. | |
Spätestens in den 70er Jahren war die erste Phase der kapitalistischen | |
Euphorie vorüber, der Aufschwung vorbei, soziale Konflikte, | |
Arbeitslosigkeit, gerade in der jüngeren Generation, nahmen zu, mit ihnen | |
der Aufschwung der in Italien traditionell starken Kommunistischen Partei, | |
dazu Terrorismus von links und rechts, der am 2. August 1980 ausgerechnet | |
in Bologna zu einem der verheerendsten, nie restlos aufgeklärtem Anschläge | |
mit über 80 Toten führte. | |
## Mitbegründer des Autorengesangs | |
Keine leichten Sujets für einen Sänger, den man in Deutschland vermutlich | |
unter „Schlager“ eingeordnet hätte, in Frankreich vielleicht als | |
Chansonnier. In Italien gilt Dalla als Mitbegründer des canzone d’autore, | |
wörtlich übersetzt Autorengesangs, treffender vielleicht als Liedermacher. | |
Welche Bedeutung Lucio Dalla für viele Menschen im Italien der 70er Jahre | |
gehabt haben muss, deuten weniger Bilder von Liveauftritten an als solche | |
von Talkshows, in denen Dalla ganz selbstverständlich neben Politikern und | |
Intellektuellen sitzt. | |
Was später folgte, nicht zuletzt die erst posthum enthüllte Homosexualität | |
Dallas, spart Marcello aus, sein Fokus liegt auf den 70er Jahren, und auch | |
bei seinem Blick auf dieses wichtigste künstlerische Jahrzehnt Dallas steht | |
nie die Vollständigkeit im Mittelpunkt. | |
Aus den Erinnerungen seiner Freunde, historischem Archivmaterial und den | |
Liedtexten Dallas entsteht in den kaum 80 Minuten von „Per Lucio“ das Bild | |
eines Mannes und der Ära eines Landes. Überraschend ist das und vor allem | |
in einer Weise neugierig machend, wie man es gerade von biografischen | |
Dokumentarfilmen selten erlebt. | |
13 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Michael Meyns | |
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