# taz.de -- Nachruf auf Tina Turner: Simply the very best | |
> Gewaltig, unbezwingbar, kraftvoll und zugleich charmant. Tina Turner, | |
> Pop-Titanin spätestens seit den 80er Jahren, ist mit 83 Jahren gestorben. | |
Bild: Tina Turner bei einem Konzert in der Schweiz | |
Im Nachhinein, jetzt, im traurigen Moment, wenige Stunden nach ihrem Tod, | |
mit dem Signal, dass sie wirklich niemals mehr auf eine Stadionbühne | |
irgendwo in der Welt gehen wird, zur wirklich allerletzten Tournee, scheint | |
es, als hätte es ja so kommen müssen, so monströs erfolgreich und | |
lebenssatt. Am Ende ist alles wie zu einem harmonisch geschlossenen Kreis | |
geworden: So ließe sich Tina Turners Leben erzählen, und so war es | |
natürlich nicht. | |
Dass ihre Karriere so fulminant verlief, hat eben damit zu tun, dass sie, | |
geboren als Anna Mae Bullock in Brownsville im US-Südstaat Tennessee, durch | |
solch tiefe Täler (des Lebens schlechthin) gehen musste, um schließlich das | |
stets Unwahrscheinliche zu schaffen: zu überleben – und dabei zu zeigen, | |
was sie künstlerisch draufhatte. Und wie! | |
Am wenigsten hätte nur irgendjemand Anfang der achtziger Jahre darauf | |
gewettet, dass sie nochmal so richtig hochkommen würde. Da war sie eine | |
Frau von über 40 Jahren, eine Sängerin mit schon beeindruckender | |
künstlerischer Vita. | |
## Weg aus der amerikanischen Vorhölle | |
Aufgewachsen in einem Landstrich der USA, in dem schwarze Menschen | |
buchstäblich rund um die Uhr und Tag für Tag Gefahr liefen, von | |
rassistischer Gewalt behelligt zu werden, eine amerikanische Vorhölle für | |
Menschen mit nichtweißer Hautfarbe wie sie, eine Umwelt, in der kriminelle | |
Banden wie der Ku-Klux-Klan den Ton mit angaben. Als Tochter von keineswegs | |
armen Bauern, irgendwie, so sagte sie einmal in einem Interview, war sie | |
nicht dafür bestimmt, das alles auszuhalten – sondern wegzugehen, in die | |
Stadt. Weg aus der Provinz und den Baumwollfeldern, auf denen sie, in der | |
Obhut ihrer Großmutter in Nutbush, es hasste zu arbeiten. | |
Sie wurde Sängerin. Ihre Stimme, so hört es sich auf alten Aufnahmen an, | |
schon damals rau, röhrig, elektrisierend, wie viele ihre Vokalisen | |
beschrieben, jedenfalls ohne den Schmelz der Motown-Soulproduktion (mit | |
Diana Ross u. a.), Tina Turner war mehr Rock ’n’ Roll, von intensivster | |
Härte in allen Facetten ihres stimmlichen Ausdrucks. | |
## Darlings der hippiesk gesinnten Mainstream-68er | |
In Ike Turner, Bandleader einer schwarzen Rhythm ’n’ Blues-Formation, fand | |
sie ihren Anker: ein Musiker von Gnaden wie sie. Nicht gerade eine | |
Hitmaschine, aber er machte sie zu seiner Leadsängerin: Ike & Tina Turner, | |
so lautete das Label beider, mit dem sie ihre regionalen Limits | |
überschritten: [1][„Nut Bush City Limits“] hieß einer ihrer wenigen Hits, | |
an den alten CCR-Song [2][„Proud Mary“] trauten sie sich auch erfolgreich | |
heran – da und dort kleinere Chartnotierungen, ansonsten waren sie keine | |
Sonny and Cher, die Darlings der hippiesk gesinnten | |
Mainstream-Achtundsechziger in den USA. | |
Markant war in jener Zeit für Tina Turner, dass sie [3][dem Produzenten | |
Phil Spector] auffiel: Er wollte seine Idee vom „Wall of Sounds“, von der | |
Kraft der opulenten Arrangements, auch an Tina Turner exekutieren, nur mit | |
ihr, nicht mit Ehemann Ike: Mit [4][„River Deep Mountain High“], so sagte | |
Ms. Turner viel später, habe Spector ihr ein Juwel für lange Zeit in die | |
Schatulle des Lebens gelegt: Nie war Spector als Produzent einer Aufnahme | |
besser, selten bis dahin war Tina Turner in ihrem Potenzial erkennbarer: | |
ein Tondokument, das bis heute nichts an Verstaubtheit aufweist. | |
Anfang der Siebziger kriselte die Ehe der Turners stärker, so ist es in | |
Büchern zu lesen, triftiger zu sagen ist, dass Ike Turner, drogenabhängig, | |
ein Mann alter Schule, der es gewohnt war, Frauen zu misshandeln, zu | |
benutzen, sie als seinen Besitz zu verstehen, sie immer mehr einzwängte. Am | |
Ende, auch das gehört zur Geschichte der Kraft jener Anna Mae Bullock, aus | |
der Ms. Turner, dann Tina – The Best wurde, zählt, dass sie sich | |
entschloss, ihn zu entlassen, und das mit allen Konsequenzen, hohen | |
Schulden, wenigen Cents im Portemonnaie und einer Tankkarte für ihr Auto. | |
## „Es noch einmal schaffen“ | |
Sie wollte überleben, nicht einmal: „Es noch einmal schaffen“. Sie ging auf | |
die 40 zu, ein Alter, das für die meisten wie sie und ihre Kolleginnen | |
karriereperspektivisch den Tod verhieß. Aber sie sagte in ihrer Erinnerung: | |
Ich musste nicht überleben, denn ich war ja schon tot – ich wollte nur | |
meine Freiheit, über mich selbst bestimmen, herausfinden, was ich | |
eigentlich noch wollen könnte. | |
Sie unternahm so gut wie alles, um über die Runden zu kommen, auch, um sich | |
vor den Nachstellungen des verlassenen Ike Turner zu retten. Der sagte nur: | |
Mein Auto läuft nicht, mein Motor ist weg – soll ich jetzt schieben? Er | |
musste, Tina Turner war ihm buchstäblich überlegen: Versuchte es auch mit | |
Disco, hatte ein paar Plattenaufnahmen, aber vor allem Auftritte auf der | |
Bühne, manchmal vor kaum 100 Leuten. | |
Anfang der achtziger Jahre kam Roger Davies in ihr Leben, ein Musikmanager, | |
der an sie glaubte – und der von Freunden deshalb für bekloppt gehalten | |
wurde: Tina Turner? Ein Oldie, wenn überhaupt. Es war die Zeit beginnender | |
Syntheziserisierung des Pop, die Eurythmics, Yazoo, viele andere Bands | |
kamen nicht mehr mit Rockbombast, mit ästhetischem Pseudosiegel von | |
Echtheit versehen. | |
Davies schlug ihr zunächst vor, den alten Al-Green-Klassiker [5][„Let’s | |
Stay Together“] einzusingen: Und das genau war nicht ihr Ding. So’n | |
artifiziellen Mist soll sie singen – nicht die Nummer, sondern dieses Lied | |
in seiner zeitgenössischen Verschnulzung? No way! Er beharrte darauf, dass | |
sie sich trauen möge – und sie tat es. Der Rest ist Geschichte, der | |
Aufstieg, ohne dass dies schon ganz absehbar wurde, begann. Ihre Stimme auf | |
dieser Nummer – ein betörendes Angebot, eine Verführung, der gewissen | |
Traurigkeit nicht über den Weg zu trauen, denn sie, die da singt, kann auch | |
ganz anders! | |
Tina Turners Al-Green-Nummer wurde vernommen, nicht die Nummer 1 in den | |
Hitparaden, weder in den schwarzen noch in den weißen Charts, aber zur | |
Kenntnis genommen von der Musikindustrie und dem Publikum. | |
## „Pivate Dancer“ als Goldschatz | |
Das daraufhin produzierte Album [6][„Private Dancer“] wurde der Goldschatz | |
schlechthin für ihre Karriere: Sie inzwischen im modernen Style, eine, | |
gemessen an den jungen Frauen im Popgeschäft, alte Frau, frivol im Look, | |
auf High Heels, auf denen offenbar niemand so körperlich gehen konnte wie | |
sie auf allen Bühnen – trainiert ist trainiert! Hits wie [7][„What’s Love | |
Got to Do with It]“, [8][„Better Be Good To Me“], „Show Some Respect“… | |
der Klassiker [9][„I Can’t Stand The Rain“]. | |
Was wie grandioser Pop klang, hörte sich zugleich in den Gemütern ihres | |
Publikums wie pure Autobiografie in Liedern an: gewaltig, unbezwingbar, | |
kraftvoll und zugleich charmant. | |
Wer sie in jener Zeit direkt auf der Bühne sah, konnte auch immer nur | |
denken: Was für eine wahnsinnige Show da oben stattfindet, buchstäblich | |
mitreißend, „total und sofort“, wie es einmal in einer Besprechung in der | |
New York Times hieß. Prägnant ihre Moves, ihre Bewegungen, ihre tänzelnde | |
Dauerenergie, ohne Pause, dazu ihre hochkomplizierten Beinbewegungen, die | |
in ihrer Präzision das jahrelange Showtraining verrieten: Alle Kraft schien | |
in ihr – und sich aufs Publikum, dem weiblichen, dem schwulen zumal, wie | |
eine Geste der Dankbarkeit zu übertragen. Ihre Titel, auch später, hatten | |
Namen wie aus einer Coachingfibel für den Kampf gegen das Verschwinden und | |
das Überleben in rauen Zeiten: „Break Every Rule“, „We Don’t Need Anot… | |
Hero“ und vor allem die selbstsuggestive Formel namens [10][„(Simply) The | |
Best“]. | |
## Die souveräne Künstlerin | |
Ihr Erfolg holte auch andere Goldies der sechziger Jahre aus den Tälern des | |
beginnenden Vergessens: die [11][Rolling Stones] oder auch [12][David | |
Bowie]. Tina Turner, sie war der Beweis, dass da im Pop- und Rockgeschäft | |
jenseits der jungen Jahre noch viel geht: Sie in der Rolle auch der | |
erotisch selbst aufgeladenen, sich auf der Bühne genießenden, souveränen | |
Künstlerin, die Ende 60 bei ihrer allerallerletzten Tournee war – und damit | |
dreimal so alt wie ihre Mittänzerinnen auf der Bühne, wobei Letztere nach | |
den Shows erschöpfter wirkten als Ms. Turner selbst. | |
Ein pralles Leben, öfter als nötig auferstanden aus Ruinen, eine | |
[13][feministisch unbedingt naheliegende Ikone], eine Königin mit selbst | |
geschaffenem Reich, eine Frau, die das Maracana-Stadion in Rio de Janeiro | |
mit 180.000 Leuten füllte, die in erfolgreichen Blockbuster-Filmen | |
mitspielte („Mad Max“) – eine Institution der globalen Popwelt, eine | |
Signaleurin, die anzeigte, dass sich aus dem Schutt des Lebens, der sich | |
bisweilen vor einem auftürmt, sehr viele schöne Häuser bauen lassen. | |
In Zürich lebte sie die letzten Jahre, immer kränker werdend, an den Folgen | |
eines Schlaganfalls laborierend, dem Buddhismus intensiv zugeneigt, in | |
dieser Religion einige Alben mit anderen noch aufnehmend. Sie hatte in dem | |
Kölner Musikmanager Erwin Bach, wie es überliefert wird, einen Mann, der | |
sie nicht schurigelte. | |
In Küsnacht, auf ihrem Anwesen in Zürich, ist sie am Dienstag [14][im Alter | |
von 83 Jahren gestorben]. | |
25 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://youtu.be/I07249JX8w4 | |
[2] https://youtu.be/hzQnPz6TpGc | |
[3] /Nachruf-auf-Phil-Spector/!5744630 | |
[4] https://youtu.be/ULw1RHHPv5g | |
[5] https://youtu.be/faPTOxUD1Xw | |
[6] https://youtu.be/d4QnalIHlVc | |
[7] https://youtu.be/oGpFcHTxjZs | |
[8] https://youtu.be/qyU7BbQSm98 | |
[9] https://youtu.be/5SSIWRrfTmkv | |
[10] https://youtu.be/GC5E8ie2pdM | |
[11] /Ein-Museum-fuer-Rolling-Stones-Fans/!5859217 | |
[12] /Nachlass-von-David-Bowie/!5902891 | |
[13] /Zum-Tod-von-Tina-Turner/!5933675 | |
[14] /Reaktionen-auf-Tina-Turners-Tod/!5936894 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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gestorben. |