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# taz.de -- Macher des Berlinale-Films „Anmaßung“: „So denkt kein Mensch…
> Von Chris Wright und Stefan Kolbe stammt der Berlinale-Film „Anmaßung“.
> Ein Gespräch mit den Filmemachern übers Drehen mit Sexualmördern – und
> Puppen.
Bild: Die Puppenspielerlin Nadia Ihjeij mit einer Puppe von Stefan S., Protagon…
Seit 1997 machen Stefan Kolbe (Kamera) und Chris Wright (Montage) gemeinsam
dokumentarische Filme, die Maßstäbe setzen. Für „Anmaßung“ (englisch:
Anamnesis) begleiteten sie mehrere Jahre einen verurteilten Stalker und
Frauenmörder, der während des Films aus der sozialtherapeutischen
Abteilung der JVA Brandenburg entlassen wird. Stefan S. will im Film nicht
erkannt werden. Doch auch die Filmemacher nutzen verschiedene Methoden der
Distanzierung, um die entscheidende Frage zu umkreisen: „Was sehen wir,
wenn wir nichts sehen können?“
taz: Herr Wright, Herr Kolbe, Sie haben sich für Ihren neuen Film mit einem
einzelnen Menschen beschäftigt, einem inhaftierten Mörder und Stalker. Wie
kam es dazu?
Chris Wright: Nach unserem Film „Pfarrer“ hatten wir viele Zweifel an
unserem Tun und unserer Methode, mit Protagonisten umzugehen. Bisher hatten
wir immer viel mit Nähe gearbeitet. Das ist nicht gesund – für uns selbst
und vielleicht auch für unsere Protagonisten. Man kommt in ein Leben
hinein, kommt den Leuten ganz nah und verschwindet wieder. Das ist bei
Therapeuten ähnlich, die Idee, dass man Leuten sehr nahe kommt, doch in
einem beruflichen Kontext. Das interessierte uns: Wie gehen sie damit um,
was sie vom Leben anderer erfahren? Wir haben in vielen Therapiebereichen
Kontakte gesucht. Dann waren wir bei einem Kongress, wo über Täterarbeit
gesprochen wurde. Die Idee, dass man im Gefängnis mit Sexualstraftätern
arbeitet, war damals ziemlich neu und umstritten. In der JVA Brandenburg
wurde sie von dem Psychologen Dr. Steven Feelgood vertreten.
Stefan Kolbe: Die Therapeuten draußen wollten und konnten sich nicht bei
der Arbeit zugucken lassen. Komischerweise war das im Knast eher eine
Option, das ist wie ein Experimentierfeld, da geht vieles. Bei einer
zentralen therapeutischen Maßnahme durften wir aber auch dort nicht dabei
sein. Aber wir konnten ein Zusatzmodul mitmachen, „Männlichkeit und
Identität“, das wurde von einem externen Sozialpädagogen betreut. Über die
Taten konkret wird da zuerst einmal nicht geredet, du weißt so ungefähr, um
was es geht. Und dann sitzt du da und guckst die Gesichter an und hörst die
reden und versuchst dir vorzustellen, was sie gemacht haben. Das ist eine
interessante Selbstbeobachtung, was das mit einem macht.
Wright: Wir wussten von Anfang an, diese Selbstbeobachtung wollten wir im
Film haben. Auch, weil wir frustriert von der Rezeption unserer Filme
waren. Da mussten wir oft erklären, dass es uns nicht darum geht, die Dinge
objektiv darzustellen. Für uns erzählt Dokumentarfilm über unsere Erfahrung
in der Welt. Es geht um die Auseinandersetzung mit der Welt anhand der
Lebensgeschichten anderer Menschen. Das ist eine subjektive Erzählung. Doch
viele glauben, dass [1][Dokumentarfilm etwas mit Objektivität] zu tun hat.
Deshalb wollten wir in den Vordergrund stellen, dass es hier um unsere
Wahrnehmung geht.
Wie konkretisierte sich dann das Projekt?
Kolbe: Es war bald klar, wenn uns eine Person aus der Gruppe interessiert,
dann ist es Stefan, und vielleicht kann man mit ihm etwas machen. Dann kam
ein langer Überredungsprozess, bis heute weiß ich nicht, ob er je mit dem
Herzen Ja gesagt hat. Und es gab eine Bedingung: Er will nicht erkannt
werden.
Da kommen die Puppen ins Spiel …
Wright: Also ich wollte eigentlich nach dem letzten Film eine Komödie
machen …
Kolbe: Du wolltest nach den letzten drei Filmen eine Komödie machen!
Wright: Ja, etwas Leichteres, Spielerisches. Und dann kam dieses Thema,
also das Gegenteil. Und da habe ich mir gesagt, dann müssen wir versuchen,
trotzdem irgendwo dieses Spielerische einzubauen, damit wir es als Menschen
und als Filmemacher aushalten.
Kolbe: Wir hatten zu einem Einsatz von Puppen schon lange recherchiert,
bevor die Connection zu unserem Film da war. Als sich dann das Projekt
konkretisierte, dockte die Idee mit der Puppe da genau an und bot gleich
für mehrere Probleme eine Lösung. Wir dachten auch, anhand der Präsenz der
Puppenspielerinnen im Film lässt sich anschaulich zeigen, wie sich
Vorstellungen von Stefan S. entwickeln und verändern.
Sie arbeiten ja schon lange als Team zusammen. Wie entwickelte sich die
Zusammenarbeit bei diesem schwierigen Projekt?
Wright: Wir hatten schon sehr unterschiedliche Wahrnehmungen und
Toleranzgrenzen. Wir hatten eine bewusste Entscheidung am Anfang, Stefan so
kennenzulernen, wie er sich uns anbietet, und nicht nach ihm zu
recherchieren. Nach drei Jahren habe ich das aber trotzdem gemacht und im
Internet gesehen, dass sein Mord damals ein Riesenfall war. Das hat für
mich dann den Umgang mit ihm sehr erschwert.
Kolbe: Bei mir war es komischerweise genau andersrum. Was ich über ihn
gelesen hatte, hatte mit meiner Beziehung zu Stefan nichts zu tun. Mein
Interesse bezog sich auf seine Biografie vor der Tat. Weil er mir diese
offensichtlich aus eigenem Willen erzählt hatte, hatte es vielleicht für
mich besondere Relevanz für das Bild von ihm.
Wright: Das war eher eine private Beziehung, die du hattest. Ich hatte die
Begegnung eher über das Material, und später auch über die psychologischen
Gutachten zu seinem Fall und seiner Person. Da habe ich Dinge erkannt, die
mir bis heute nicht wirklich gelöst scheinen, besonders zu seiner
Sexualität. Ist es möglich, jemandem da wirklich weiterzuhelfen im Knast,
wo er keine Chance hat, sexuelle Erfahrungen zu machen? Er kann bis heute
so schlecht darüber reden, dass ich Angst habe, ob er da wirklich
Fortschritte gemacht hat. Und da ist die Frage, ob das noch mal passieren
könnte. Das wurde für mich zum Ende des Drehs immer schwieriger.
Wir haben auch bemerkt, dass unsere unterschiedlichen Erfahrungen sich auch
in Widersprüchen im Rechtssystem widerspiegeln. Als Außenstehende möchte
man glauben, dass dieses auf Objektivität beruht. Doch je tiefer wir uns
damit beschäftigt haben, desto schärfer haben wir erkannt, dass es so etwas
nicht gibt. Das System beruht auf subjektiven Blicken auf eine Person. Ein
Richter kann diese so betrachten, ein anderer so.
Und dann die Vorgabe, dass die ganzen mentalen Schritte des Täters, die zu
einer Mordabsicht geführt haben, im Urteil aufgeführt werden müssen: So
denkt kein Mensch, doch das Rechtssystem verlangt es, um zu suggerieren,
dass es diese Klarheit und Objektivität gibt. Die Idee, dass wir durch das
Leben gehen mit einem Plan und Absichten, die wir klar definieren können,
basteln wir uns doch im Nachhinein im Kopf zusammen, damit wir unser Tun
irgendwie begründen können.
Irgendwann gegen Ende der Dreharbeiten wurde Ihnen klar, dass Sie als
Filmemacher die Kontrolle über die Situation verlieren könnten. Wie haben
Sie reagiert?
Wright: Wenn wir merken, dass wir uns auf unsicherem Boden bewegen, dann
ist es ein Impuls, genau dahin zu gehen und zu untersuchen, wie der Boden
unter unseren Füßen sich bewegt. Wenn es unbequem ist, wissen wir, dass wir
am richtigen Ort sind und die richtigen Fragen stellen.
Kolbe: Man stößt auf Sachen, die sind einfach nicht auflösbar. Häufig zieht
ja eine Frage die nächste und dann wieder die nächste nach. Mit Brecht
gesagt: Der Vorhang zu und alle Fragen offen. Diese Vorstellung begründet
alle unsere Filme. Oft ging es uns deswegen nicht besonders gut. Jetzt
haben wir die Versuchsanordnung offengelegt. Und es ist interessant zu
sehen, wie sich dieses „Über-sich-Erzählen“ in den letzten Filmen immer
mehr in den Vordergrund geschoben hat. Doch ich weiß nicht, ob und wie man
das jetzt weitertreiben soll. Denn Filme übers Filmen zu machen, ist auf
die Dauer nicht wirklich sexy. Das ist das Dilemma.
Wright: Wir suchen trotzdem immer nach neuen Herausforderungen.
Also ich würde mich auf die vorhin angekündigte Komödie freuen. Haben Sie
denn bis jetzt schon Erfahrung mit Ihrem Film und Publikum machen können?
Wright: Nein, das kommt erst am Mittwoch. Ich habe den Film bis jetzt
zweimal im Kino gesehen, das eine mal mit meiner Frau, das zweite Mal
alleine. Das sind die Kinoerfahrungen in dieser merkwürdigen Zeit.
9 Jun 2021
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[1] /NDR-Doku-Lovemobil/!5757312
## AUTOREN
Silvia Hallensleben
## TAGS
Kino
Dokumentarfilm
Gefängnis
Schwerpunkt Berlinale
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