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# taz.de -- Regisseur über LGBT in Tschetschenien: „Diese Angst ging mir seh…
> Durch Deepfakes schützte David Frances die Protagonist*innen seines
> Dokumentarfilms„Achtung Lebensgefahr LGBT in Tschetschenien“. Nun läuft
> die Dokumentation auf Arte.
Bild: Mit Deepfake-Technologien veränderte France die Gesichter der Protagonis…
taz: Mr. France, als 2017 erstmals Berichte über die Verfolgung von
Homosexuellen in Tschetschenien die Runde machten, beschlossen Sie da
gleich, das zum Thema Ihres nächsten Dokumentarfilms zu machen?
David France: Nein, ich muss gestehen, dass es nicht diese schreckliche
homophobe Politik dort war, die mein Interesse als Filmemacher weckte. Auch
wenn ich natürlich tief erschüttert war davon, wie viele [1][queere
Menschen dort offensichtlich verschleppt, gefoltert und getötet] wurden.
Aber als Geschichtenerzähler wurde ich dann wirklich hellhörig, als ich von
den vielen Menschen in Russland hörte, die mehr oder weniger aus dem Nichts
heraus zu Aktivist*innen wurden und den Betroffenen zu helfen
versuchten. Dass sich diese Privatpersonen solchen Gefahren aussetzten, in
der Hoffnung, ihnen fremde Menschen schützen zu können, fand ich
phänomenal. Ich spürte geradezu die Verpflichtung, ihre Geschichte zu
erzählen und die Welt darauf aufmerksam zu machen, was diese Menschen da
leisten.
In Ihren bisherigen Filmen widmeten Sie sich sehr amerikanischen und nicht
zuletzt historischen Themen, dem Beginn der Aids-Krise etwa in „How to
Survive a Plague“ oder dem Leben der [2][trans Aktivistin Marsha P. Johnson
in „The Death and Life of Marsha P. Johnson“]. Inwieweit war es nun anders,
sich einer Sache am anderen Ende der Welt anzunehmen, die noch dazu längst
nicht abgeschlossen ist?
Als Filmemacher war das für mich etwas Neues, aber nicht als Journalist.
Sie dürfen nicht vergessen, dass ich als Reporter zwei Jahrzehnte lang in
der ganzen Welt unterwegs war. Thematisch fügt sich [3][„Achtung
Lebensgefahr! LGBT in Tschetschenien“] nahtlos in meine Filmografie ein,
denn auch die ersten beiden Filme handelten von Außenseiter-Aktivisten, von
Menschen, die in eine Bewegung hineingezogen wurden, ohne dass sie das
anfangs eigentlich vorhatten, aber dann unglaubliche Veränderungen
bewirkten.
Hatten Sie einen Bezug zu Russland oder Tschetschenien?
Nein, ich war noch nie dort gewesen und spreche auch die Sprache nicht. Ich
kannte mich ein bisschen aus mit der Sowjetunion vor ihrem Zusammenbruch,
aber das war es auch. Ich war also wirklich auf vollkommen fremdem Terrain
unterwegs und musste erst einmal lernen, was die Mittel und Wege waren, wie
ich dieses Projekt mitsamt der Identitäten aller Beteiligten und natürlich
der Lage ihrer Safe Houses schützen konnte.
Wer hat Ihnen dort geholfen?
Mir wurde der Filmemacher Askold Kurov empfohlen, der sich in seinem Film
„Children 404“ mit queeren Jugendlichen und dem Anti-Homo-Propaganda-Gesetz
in Russland beschäftigt und zum Beispiel auch den Film „The Trial: The
State of Russia vs Oleg Sentov“ gedreht hatte. Ohne ihn hätte ich meinen
Film sicherlich nicht drehen können. Nicht nur, weil er mit allen
Beteiligten kommunizieren konnte und wusste, wie man dort einen solchen
Film überhaupt in die Tat umsetzen kann. Sondern auch, weil seine bloße
Anwesenheit etwas so Beruhigendes auf jeden in seinem Umfeld hat, dass er
enorm dabei half, diesen Menschen überhaupt so nahe zu kommen.
Wessen Vertrauen war schwieriger zu erlangen: das der russischen
Aktivist*innen oder das der jungen Schwulen und Lesben aus
Tschetschenien, die von ihnen versteckt wurden?
Unter den Menschen in den geheimen Schutzunterkünften gab es einige, die
mitwirken wollten an dem Film, und andere, die dazu nicht bereit waren.
Aber auch die hatten kein Problem damit, dass ich in ihrem Umfeld drehe,
solange sie dann eben nicht im Raum waren. Also unterteilten wir das Haus
in zwei Zonen, eine mit Drehgenehmigung und eine ohne. Komplizierter war es
mit den beteiligten Aktivist*innen selbst. Olga Baranova vom Moscow
Community Center for LGBT+ Initiatives war sehr daran interessiert, dass
ich den Film drehe und Aufmerksamkeit auf das Thema lenke. Sie sorgte
dafür, dass es immer genug Sicherheitsprotokolle gab und wir nie aus
Versehen irgendetwas auffliegen ließen.
Aber?
Die andere beteiligte Organisation, das Russian LBGT Network, hatte größere
Schwierigkeiten mit meiner Anwesenheit. David Isteev und seine Leute sind
es, die die nächtlichen Aktionen koordinieren, die Opfer aus Tschetschenien
herausholen und im Safe House unterbringen. Seine bemerkenswerte Arbeit
wollte ich natürlich begleiten, aber David empfand das als viel zu riskant.
Acht Monate lang verhandelten wir und suchten nach Wegen, wie wir das
hinkriegen würden, ohne dass meine Kamera und ich im Weg sind. Geschweige
denn alles gefährden. Dass wir uns am Ende doch einig wurden, lag auch
daran, dass die Organisation erkannte, dass ich im Zweifel sogar eine
willkommene Ablenkung sein würde. Schließlich zieht ein Amerikaner in
Tschetschenien erst einmal alle Blicke auf sich.
Dass Sie im Film nun am Ende niemandes Identität preisgeben, für den das
gefährlich werden könnte, liegt an einer Art Deepfake-Technologie, die Sie
verwenden. Den Betroffenen wurden nachträglich fremde Gesichter verpasst,
was zum Teil täuschend echt aussieht. Wie haben Sie das geschafft?
Ich wusste natürlich, dass ich diesen Film nur würde drehen können, wenn
ich den Beteiligten Anonymität zusichern würde können. Ich hatte gehört,
wie weit die Fortschritte bei dieser Art KI-Technologie inzwischen waren.
Im Netz kursierten ja schon erstaunliche Deepfake-Videos.
Mir erschien das die ideale Lösung für dieses Projekt zu sein. Es fand sich
nur erst einmal niemand, der das auf Spielfilmlänge, in HD und zu einem
Dokumentarfilm-Budget für umsetzbar hielt. Bis ich auf den ehrgeizigen
VFX-Tüftler Ryan Laney stieß, der überzeugt davon war, seine Software in
diese Richtung weiterentwickeln zu können. Doch ob das alles wirklich in
der Form machbar war, wie es mir vorschwebte, wusste ich noch nicht, als
wir den Film drehten.
Es stand also immer die Gefahr im Raum, dass der Film am Ende gar nicht das
Licht der Welt erblickt?
Selbstverständlich, und das habe ich auch unseren Geldgebern gegenüber
immer so kommuniziert. Schließlich ging es hier um Menschenleben. Allen
Menschen, die mutig genug waren, vor meiner Kamera zu erscheinen, habe ich
versprochen, dass ich am Ende nicht bloß die Gesichter verwische und die
Stimmen verzerre. Mir ging es wirklich darum, dass selbst die eigene Mutter
sie nicht mehr erkennt. Alles andere wäre zu riskant gewesen und war keine
Option.
Stichwort Gefahr: Wie groß war das Risiko für Sie selbst? Sowohl als
schwuler Mann als auch als Dokumentarfilmer ist man ja sicherlich in
Tschetschenien nicht gern gesehen …
Wir hatten uns wirklich extrem gut vorbereitet. Ich hatte mir nicht nur
eine detaillierte, fiktive Biografie zur Tarnung überlegt, sondern wir
haben alle möglichen gefährlichen Szenarien mehrfach durchgespielt und
geprobt. Für jede Aktion hatten wir genaue Verhaltensprotokolle, für den
Fall, wenn wir angehalten, verraten oder verhaftet werden. Das gab mir ein
gewisses Gefühl von Sicherheit. Worauf ich allerdings nicht vorbereitet
war, war die Angst, die jeder Einzelne von uns ausgerechnet in diesen Safe
Houses spürte.
Außerhalb dieser vier Wände lauerte allzeit die Gefahr, und jedes Mal, wenn
es dunkel wurde, stand die Möglichkeit im Raum, dass die Gewalt über uns
hereinbrechen würde, weil irgendjemand unser Versteck aufgetan hat. Jeder
knackende Ast vor dem Fenster ließ uns den Atem gefrieren. Diese Art von
Angst, diese Nähe des Todes, ging mir sehr nahe.
Ihr Film macht keinen Hehl daraus, dass die ungeheuerlichen Vorgänge in
Tschetschenien von Putin mindestens geduldet werden. Trotzdem scheint sich
die Aufregung im Rest der Welt eher in Grenzen zu halten, oder täuscht der
Eindruck?
2017 war das Thema medial durchaus präsent, und es gab ein paar Politiker,
die Russland diesbezüglich unter Druck gesetzt oder die Sache zumindest
angesprochen haben. Angela Merkel gehörte dazu, auch der kanadische
Premierminister Justin Trudeau. Doch es braucht die Presse und einen
aggressiven Journalismus, um den Fokus dauerhaft auf eine solche Sache
gerichtet zu lassen. Die Medien waren allerdings viel zu schnell wieder
abgelenkt, nicht zuletzt durch Donald Trump, der etwa zeitgleich mit seinem
Twitter-Account die US-Präsidentschaft übernahm.
Schwingt nicht auch Homophobie mit, wenn ein solches Thema nicht zu
anhaltenden Protesten führt?
Sicherlich auch. Dass der LBGTQ-Bewegung in den letzten Jahren mehr
Gegenwind denn je entgegenbläst, ist ja von Brasilien bis Europa nicht zu
übersehen. Überall werden Errungenschaften der Vergangenheit in Frage
gestellt wenn nicht gar wieder zurückgenommen. Und auch in den USA, wo ich
mal gedacht hatte, das die großen Kulturkämpfe längst ausgefochten seien,
ist der antiqueere Hass aufgeflammt wie lange nicht mehr. Leider, ohne dass
es einen massiven Aufschrei zu geben scheint.
Aber Sie sind trotzdem optimistisch, dass ein Film wie „Achtung
Lebensgefahr! LGBT in Tschetschenien“ etwas bewirken kann?
Ein Film allein hat keine Macht. Aber er kann zum Werkzeug von
Aktivist*innen werden. Und das scheint in diesem Fall zu funktionieren.
Vergangenen Sommer gab es ein Screening für US-Abgeordnete, das recht gut
besucht war, und tatsächlich übten sie anschließend so viel Druck auf das
State Department aus, dass endlich Sanktionen gegen Tschetschenien verhängt
wurden. Drei Jahre nachdem dieser Genozid – denn darum handelt es sich – in
der Weltöffentlichkeit bekannt wurde.
Ähnliches passierte in der EU, und später schloss sich auch das
US-Finanzministerium an. Die UNO steht wohl kurz davor, Untersuchungen
einzuleiten. All das ist nicht allein meinem Film zu verdanken. Aber ich
freue mich, den Aktivist*innen zumindest ein zusätzliches Mittel an die
Hand gegeben zu haben.
20 May 2021
## LINKS
[1] /Homophobe-Politik-in-Osteuropa/!5763321
[2] /Trans-Aktivisten-kritisieren-Netflix-Doku/!5453095
[3] /Berlinale-Film-Welcome-to-Chechnya/!5665766
## AUTOREN
Patrick Heidmann
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