| # taz.de -- Buch über sexuelle Minderheiten: Am Faden des Anderen | |
| > Mark Gevisser hat ein wichtiges Buch über die weltweiten Kämpfe um | |
| > sexuelle Selbstbestimmung geschrieben. Es ist klug und berührend | |
| > zugleich. | |
| Bild: Protest gegen das ugandische Anti-Homosexuellen-Gesetz in Nairobi/Kenia | |
| In den Augen vieler ist der Streit um Unisextoiletten, etwa in den USA, | |
| einer, den „skurrile Minderheiten“ angezettelt haben, um von den echten, | |
| den relevanten Kämpfen abzulenken, wie auch [1][Sahra Wagenknecht] jüngst | |
| generell zu identitätspolitischen Kämpfen bemerkte. | |
| Überhaupt gilt klassischen Linken ganz besonders der Aufbruch von sexuellen | |
| Minderheiten als kurios und als viel weniger gewichtig als | |
| Klassenkämpferisches. Der immer etwas abschätzige Ton solcher Befunde ist | |
| nicht Gegenstand von Mark Gevissers nun auf Deutsch erschienenem Buch „Die | |
| pinke Linie“, es ist vielmehr das sachliche Dementi der vermeintlichen | |
| Wichtigkeit sexualemanzipatorischer Aufbrüche. | |
| Die pinke Linie ist der Leitfaden der Untersuchung des südafrikanischen | |
| Journalisten und Schriftstellers: Er hat sich, wie er selbst sagt, durchaus | |
| privilegiert als weißer Mann auf die Recherche der Lage von Menschen | |
| begeben, die nicht den Bildern und Praxen vom sittlichen und moralischen | |
| Genügen in ihren Ländern entsprechen. | |
| ## LGBTI und Pink Line | |
| Ob es eine Transfrau in Malawi ist, zwei Frauen eines [2][lesbischen Paares | |
| in Moskau] oder ein schwuler Mann in Nairobi – sie alle eint nicht der Zank | |
| um queeristische Buchstabenreihungen wie etwa in der Chiffrenkette von | |
| „LGBTI*etc.“, nicht der Konflikt um die Sinnhaftigkeit etwa einer politisch | |
| angeblich relevanten Identität namens „Asexuell“. Vielmehr haben sie eben | |
| gemeinsam, nicht dem Schema „Mann und Frau und Kinder und also Familie“ zu | |
| entsprechen, sondern etwas anderem. Was das genau ist, bewegt sich auf und | |
| an der „Pink Line“, am Faden des Anderen. | |
| Gevisser ist für sein Buch wirklich um die Welt gereist, war auch in | |
| Deutschland, beschreibt also akkurat die Geschichte des deutschen Aufbruchs | |
| ins, wie man heute sagen würde, „queere“ Universum. Er analysiert Aktuelles | |
| wie Historisches, und er sprach mit Menschen, die ihm berichteten, wie sie | |
| die Welt sehen als „Queers“, wie sie sich ihr Leben vorstellen und ihre | |
| Zukunft – und ob sie eine solche überhaupt im Sinne eines guten Lebens für | |
| möglich halten. | |
| Menschen wie sie gab es schon immer, globalisierte Zeiten und die | |
| Digitalisierung der Kommunikationsformen machen es möglich, aber nun sind | |
| sie sichtbar und ringen um ihre Sagbarkeit. Der Autor in der Rolle auch des | |
| Chronisten: Er hat mit großer Lakonie, frei von Pathos – das angebracht | |
| wäre – Menschen jenseits des heteronormativen Mainstreams zum Sprechen | |
| gebracht. Einer seiner Interviewten, Michael Bashaija aus Nairobi, Kenia, | |
| zitiert er mit dem Satz: „Ich sage dir, Mark, meine Probleme begannen mit | |
| der Liebe.“ | |
| Ins für Heterosexuelle Verständliche übersetzt bedeutet diese kleine | |
| Sentenz: Der Mann von der Ostküste Afrikas hätte ebenso gut ein Leben als | |
| mit einer Frau liierter Mann führen können, mit Kindern, und entsprechend | |
| versucht, eine gute Figur abzugeben. Dass er in kulturell-politischen | |
| Verhältnissen lebt, die ihm – mit der Liebe, dem Begehren, dem Sehnen – ein | |
| anderes Leben nachgerade aufdrängen, spricht für ihn. Und sagt uns: In | |
| Kenia geht es auch nicht anders zu als bei uns. | |
| ## Vorsichtige Aufbrüche | |
| Diese Nahbarkeit der Schicksale und ihre Lebenswege formuliert zu haben ist | |
| das stärkste Verdienst Gevissers. Global orientierte Geschichten zur | |
| Emanzipation von Schwulen, Lesben, Transmenschen und sonst wie sexuell | |
| Anderen, zu ihren zarten, manchmal beängstigend vorsichtigen Aufbrüchen in | |
| eine ihnen ja nie freundlich gesinnte Welt, ist auch schon von anderen | |
| probiert worden, u. a. sehr lesbar von Dennis Altman über „Queer Wars“. | |
| Gevisser hingegen bringt die queere Welt in unser Verständnis, berichtet | |
| von den Verletzlichkeiten der Protagonist*innen dieser Kämpfe und von | |
| ihrer Zähigkeit auch, einfach, allen Widrigkeiten zum Trotz, | |
| weiterzumachen, nötigenfalls nach einer Flucht aus lebensbedrohlichen | |
| Verhältnissen in einem anderen Land. | |
| Eine Leerstelle, ein großer blinder Fleck auf der Landkarte der Reisen des | |
| Autors ist die arabische und iranische Welt, vor allem Letztere. Das ist | |
| die Gegend, in der schwule Männer, die man bei ihren, so das Verständnis | |
| ihrer Verfolger*innen, Freveln erwischte, von Hochhäusern stürzt – mit | |
| Allahs Einverständnis, wie man dort glaubt. | |
| Gevisser ist klug genug, das globale Geschehen um Queere nicht für ein | |
| wohlfeiles Identitätsgewusel zu halten – er weist vielmehr darauf hin, dass | |
| alle Emanzipationsmühen letztlich in rechtliche Bestimmungen münden müssen. | |
| Solche des Schutzes, und inzwischen in den westlich-liberalen Ländern auch | |
| im Abräumen vormoderner Ehebestimmungen – „Queers“, also Schwule und | |
| Lesben, können (und wollen meist auch) Familie ebenso. | |
| Die Emanzipationen der Menschen, die an der pinken Linie festhalten, sind | |
| immer an das Wachsen von ökonomischen Revolutionen gebunden, an die Chance, | |
| die Heimaten zu verlassen, die bis dahin provinziellen Horizonte zu | |
| überwinden – und in den Metropolen nach Glück zu suchen. Es ist das | |
| schönste und intensivste Buch, das es, Corona und seine Abstandsgebote hin | |
| oder her, zur nahen CSD-Saison zu lesen gibt. | |
| 3 Jun 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
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