# taz.de -- Mikita Frankos Roman „Die Lüge“: Miki will normal sein | |
> Eine Leichtigkeit zieht sich durch den Roman „Die Lüge“ von Mikita | |
> Franko. Doch das Thema – Homophobie in Russland – ist immer präsent. | |
Bild: Mikita Franko lebt in Moskau und kennt als trans Mann die Queerfeindlichk… | |
Wenn Miki in der russischen Kleinstadt, in der er aufwächst, auf den | |
Spielplatz geht, kommen nie beide Eltern mit. Niemand soll wissen, dass er | |
zwei Väter hat: Slawa, der eigentlich sein Onkel ist und sich seit dem Tod | |
von Mikis Mutter um ihn kümmert, und dessen Freund Lew. „Hier, zu Hause, | |
sind wir in Sicherheit“, trichtert ihm Slawa ein. „Aber vor anderen | |
Menschen können wir uns nicht so verhalten wie zu Hause. Du darfst | |
niemandem erzählen, wie wir leben.“ | |
Andere Kinder dürfen nur zu Besuch kommen, wenn Lew auf der Arbeit ist und | |
Slawa die Familienfotos und das Regenbogenfähnchen weggeräumt hat. Miki | |
versteht nicht, warum jemand etwas gegen seine Familie haben könnte, und | |
ist überzeugt: „Wenn ich nur jedem erzähle, wie cool wir sind, wird schon | |
alles gutgehen.“ | |
In seinem Debütroman „Die Lüge“ erzählt der junge kasachische Autor Miki… | |
Franko von Mikis Kindheit und Jugend und macht dabei für die Leser*innen | |
greifbar, was die tiefsitzende und durch staatliche Propaganda befeuerte | |
[1][Homophobie für den Alltag queerer Menschen in Russland] bedeutet. | |
Mikita Franko, der „Die Lüge“ im Alter von 22 Jahren geschrieben hat, lebt | |
schon seit einigen Jahren in Moskau und als trans Mann kennt er die | |
Queerfeindlichkeit in Russland. | |
## Angst vor Ausgrenzung | |
Franko bleibt beim Schreiben nah an seiner Hauptfigur und erzählt den Roman | |
aus der Sicht des Kindes. Diese Perspektive gelingt ihm gut, er fängt den | |
kindlichen Witz, die Neugier und das Unverständnis für die Erwachsenenwelt | |
ein, ohne dass es aufgesetzt wirkt. Vielmehr zieht sich eine angenehme | |
Leichtigkeit durch den Text. Gleichzeitig ist der Ernst des Themas immer | |
präsent, die Angst vor Ausgrenzung, Mobbing und die Gefahr, dass Slawa das | |
Sorgerecht verliert, wenn jemand erfährt, dass er schwul ist. | |
Es belastet Miki, niemandem von seiner Familie erzählen und nicht die | |
Wahrheit sagen zu dürfen, obwohl man doch eigentlich nicht lügen soll. Als | |
er in der Schule die Hausaufgabe bekommt, einen Aufsatz über seine Familie | |
zu schreiben, starrt er lange auf das leere Blatt, bis er sich schließlich | |
doch für die Wahrheit entscheidet: „Ich habe zwei Väter. Sie sagen, andere | |
Leute denken, das wäre schlecht, aber das glaube ich nicht.“ Als Lew, der | |
weniger verständnisvolle und einfühlsame der beiden Väter, den Aufsatz in | |
Mikis Schulheft findet, schreit er den Jungen an und reißt die Seiten | |
wütend aus dem Heft. | |
## Es macht ihn wütend | |
Miki, der niemanden hat, dem er sich anvertrauen kann, wird depressiv und | |
aggressiv, er hat Suizidgedanken. Es macht ihn wütend, nicht so sein zu | |
können wie alle anderen. Jeden Tag erlebt er in der Schule eine Welt, in | |
die er nicht hineinpasst: Jungs, die stark sein müssen und Schwächere | |
schikanieren, Klassenkameradinnen, die Homosexuelle eklig und unnatürlich | |
finden und glauben, dass man sich bewusst dafür entscheidet, schwul zu | |
sein, und Lehrerinnen, die die Kinder Panzer aus Knete als Geschenk für | |
ihre Väter basteln lassen. | |
Eigentlich findet es Miki okay, dass seine Väter keine Panzer mögen, er | |
fühlt sich wohl bei ihnen, liebt sie. Trotzdem sehnt sich Miki nach | |
Normalität und der Unbeschwertheit, mit der scheinbar alle anderen leben. | |
In einem Wutanfall beschimpft er seine Eltern als Schwuchteln. Und als er | |
später merkt, dass auch er selbst Jungs attraktiv findet, wehrt er sich mit | |
aller Kraft dagegen. Er lädt ein Mädchen nach dem anderen ins Kino ein – | |
und macht seine ersten sexuellen Erfahrungen dann doch mit seinem | |
Mitschüler Gleb. | |
Es ist erschütternd zu lesen, wie sehr sich Miki anschließend selbst hasst, | |
wie vehement er die eigenen Gefühle abwehrt. Er ist sich sicher, dass auch | |
seine Eltern ihn hassen werden, wenn er die homophobe Propaganda bestätigt, | |
dass Kinder vor homosexuellem Einfluss geschützt werden müssten, weil sie | |
sonst ebenfalls homosexuell würden. | |
## Ausweg Emigration | |
Ob es Miki gelingen wird, sich selbst anzunehmen, bleibt am Ende offen. Den | |
einzigen Ausweg, den Slawa und Lew sehen, ist die Emigration. Denn ein | |
unbeschwertes Leben, wie Miki es sich wünscht, ist für Regenbogenfamilien | |
und generell queere Menschen in Russland kaum möglich. | |
„Die Lüge“ ist ein berührender und mitreißender Text, dem man allerdings | |
anmerkt, dass er nicht als Roman geplant war, sondern aus Blogeinträgen von | |
Mikita Franko zusammengestellt wurde. Die einzelnen Szenen folgen recht | |
willkürlich aufeinander, und einige Handlungsfäden verlaufen ins Leere – | |
etwas mehr Struktur hätte dem Roman gutgetan. Trotzdem lohnt die Lektüre. | |
Die Figuren, die Franko entwirft, sind interessant und vielschichtig, seine | |
Sprache, deren Leichtigkeit Maria Rajer gekonnt ins Deutsche übertragen | |
hat, ist mitreißend und unterhaltsam. | |
21 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Norma Schneider | |
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