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# taz.de -- Künstlerin Füsun Onur stellt in Köln aus: Der Platz im Alltägli…
> Das Kölner Museum Ludwig richtet der 85-jährigen Füsun Onur eine
> Retrospektive aus. Sie ist eine ganz Große für die zeitgenössische Kunst
> der Türkei.
Bild: Füsun Onur, „Counterpoint with Flowers“, 1982 (2023), Installation M…
Abgesessene Möbel, Blechdosen auf Regalen, vergilbte Familienfotos an der
Wand. In der altertümlichen Istanbuler Wohnung scheint die Zeit
stillzustehen. Lautlos schreitet eine Katze durch ein leeres Wohnzimmer,
vor dem Fenster glitzert die ewig bewegte Oberfläche des Bosporus. Der
Eindruck von Nostalgie, den der türkische Videokünstler Ali Kazma in seinem
Film „Home“ von 2014 eingefangen hat, täuscht. Denn das scheinbar
verstaubte Kuriositäten-Kabinett im Stadtteil Kuzguncuk auf der asiatischen
Seite der 15-Millionen-Metropole ist seit über 57 Jahren das Zuhause einer
der großen Avantgarde-Künstlerinnen der Türkei.
In die Wiege geschrieben war diese Rolle Füsun Onur nicht unbedingt. Zwar
wuchs die 1938, im Todesjahr des Staatsgründers Atatürk, geborene
Künstlerin im kosmopolitisch geprägten, damals „Klein-Amerika“ genannten
Stadtteil Kuzguncuk in einem kultursüchtigen Mittelklasse-Umfeld auf.
1956 begann Onur ihr Studium an der Staatlichen Akademie der Schönen Künste
Istanbul, der heutigen Mimar-Sinan-Kunstuniversität, unter dem Rektorat des
progressiven Bildhauers Ali Hadri Bara. Der Durchbruch zur Künstlerin
eigenen Rechts gelang ihr erst 1970, drei Jahre nach der Rückkehr von
ihren, mit einem Fulbright-Stipendium finanzierten Studienjahren in
Washington und Baltimore. Die weißen Skulpturen, die sie in ihrer ersten
Ausstellung damals in der Taksim Art Gallery präsentierte, verrieten die
Frau unter Moderne-Einfluss, die ihre theoretische Abschlussarbeit im
Kunststudium über den Existenzialismus geschrieben hatte. Onur
experimentierte mit Formfragen wie Offen- und Geschlossenheit, Leichtigkeit
und Schwere oder der Skulptur als Zeichnung im Raum.
Spätestens die Vitrine aus blauem Plexiglas, in die sie 1975 eine
minimalistisch gezackte Figur mit Kugel stellte, macht ihr Œuvre zu einem
Beispiel für den Versuch, den kalten Formalismus der Moderne sensitiv
aufzubrechen. In der [1][Türkei der 1970er und 80er Jahre] mit ihrer
Dominanz der Politkunst saß sie damit freilich lange zwischen allen
Stühlen. Dabei ging die Begeisterung für die Form bei Onur durchaus mit
sozialer Sensibilität einher. Mitten in das patriarchale und sexistische
Herz der türkischen Mehrheitsgesellschaft zielte ihre Arbeit „Nude“ von
1974, mit der sie ungewohnt direkt auf einen Kulturkampf reagierte.
## Die nackte Pin-up-Puppe
Aus Protest gegen die Angriffe auf die Ausstellung „20 Skulpturen in
Istanbul“ der dortigen Bildhauer-Gesellschaft ein Jahr zuvor, weil dabei im
Stadtteil Karaköy die Statue einer nackten Frau aufgestellt worden war,
spießte Onur die Diskrepanz zwischen öffentlicher und privater Moral auf:
Sie setzte eine nackte Pin-up-Puppe, wie sie damals zu Tausenden an den
Innenspiegeln türkischer Autos baumelten, in ein kleines, prismatisch
verspiegeltes Holzkabinett. In Köln noch einmal zu sehen ist auch die
Arbeit „Es war einmal …“, mit der Onur den Türkischen Pavillon auf der
Biennale von Venedig 2022 bespielte. Darin verschmolz die Künstlerin das
Kindlich-Spielerische, Fragile und Humorvolle ihres Œuvres mit dem Ernst
einer zivilisatorischen Überlebensfrage.
Die aus Draht wie Kinderspielzeug gebogenen Figuren, die in einundzwanzig
Szenen die Geschichte von Katzen und Mäusen erzählen, die sich zwischen
Venedig und Istanbul zusammengeschlossen haben, um die durch Krieg,
Umweltzerstörung und Konsumwahn verheerte Erde zu retten, hat auch in
diesen Tagen nichts von ihrer Aussagekraft verloren. Mit der Retrospektive
für Onur, der ersten in Deutschland nach der im Istanbuler Kunstmuseum
Arter 2014, schielt das Museum Ludwig nicht vordergründig auf seine lokale
Klientel.
Nach Berlin ist Köln die deutsche Stadt mit der größten türkischstämmigen
Community. Vielmehr zollt sie nach der großen [2][Retrospektive zu Onurs
Jahrgangsgenossin Nil Yalter] vor vier Jahren an selber Stelle
vernachlässigten Frauengestalten der neueren Moderne und den lange nicht
beachteten „Großmüttern“ (Vasif Kortun und Erden Kosova) der
zeitgenössischen türkischen Kunstszene Tribut.
Vor allem legt sie deren ästhetische Wurzeln frei. Wie Yalter war Onur eine
Pionierin, ebnete den Weg für das „Kunstwunder“ am Bosporus, das ab den
1990er Jahren globale Aufmerksamkeit auf sich zog. Ohne die Wende zur
poetischen Installation dieser beiden Künstler:innen wären auch solche
Œuvres wie die der rund zehn Jahre jüngeren Künstlerinnen [3][Gülsün
Karamustafa] und Ayşe Erkmen, aber auch des 1971 geborenen, konzeptuellen
Tausendsassas Halil Altındere nicht entstanden.
Auch wenn Onur es hasste, in die Schublade irgendwelcher Ismen gesteckt zu
werden und sich keineswegs in der Pop-Art zu Hause sah. Das Museum Ludwig
ist der richtige Ort für eine Künstlerin, die Alltagsgegenstände und
„niedere“ Materialien wie Plexiglas oder Tüll in ihr Œuvre integrierte, d…
dazu einlud, ihre Arbeiten zu benutzen, und sie ungern auf Sockeln sah.
## Der partizipatorische Impuls
Zu Beginn der Schau ist ihre „Shapeless Form“ zu sehen, die sie 1972 auf
der „Biennale der Jungen Künstler“ in Paris zeigte. Ein flexibles, S-förm…
geschwungenes Rohr, das die Besucher:innen mit dem Tritt auf eine
Luftpumpe aufblähen konnten. Wer direkt gegenüber in der Arbeit „Die Dritte
Dimension in der Malerei – Tritt ein!“ von 1981 die bodenlangen blauen
Fäden über den vier Seiten eines Holzkubus beiseite schiebt und sich mit
dem Rücken auf das Kissen am Boden legt, blickt in die Wollfäden darüber
wie in das Firmament – das Bild ins Dreidimensionale gewendet.
Dieser partizipatorische Impuls ihres Werks atmet auch die neue, von Onur
eigens für die Kölner Schau konzipierte Arbeit am Schluss des Parcours, den
Emre Baykal, Chefkurator des Istanbuler Arter-Museums, und Barbara
Engelbach vom Museum Ludwig in Köln angelegt haben. „Raum mit Muse“ hat die
Künstlerin den fast leeren, in ein blaues Dämmerlicht getauchten Saal
genannt. Nur ein paar hölzerne Schemel der Sorte, auf denen man in Istanbul
auf der Straße Tee zu trinken pflegt, stehen darin. Von der Decke baumelt
eine aus Draht gebogene Engelsgestalt, von fern sind leise Geigenklänge zu
hören.
Wer den sphärischen Raum betritt, ist aufgerufen, ihn mit der Fantasie zu
füllen, von der Onur behauptet, sie habe „für mich nie an Glanz verloren.
Sie nimmt mich mit auf eine Reise und trägt mich zu einem Ziel. Wo auch
immer sie mich hinnimmt, da komme ich an“.
Mit der Kölner Wiederentdeckung dieser außerordentlichen, jedem Trend
widerstehenden, heute 85-jährigen Künstlerin setzt sich der „Prozess der
Rekonstruktion“ (Süreyyya Evren) der Anfänge der Gegenwartskunst in der
Türkei fort. Was er bedeuten kann, ist offen. So wie sich die
Künstler:innen in der Zange zwischen der immer massiveren politischen
Repression in Recep Tayyip Erdoğans Autokratie und der immer rascheren
Abwanderung winden.
Füsun Onur, die aus den USA zurückkehrte, weil sie „hilfreich für mein
Land“ sein wollte, hat ihre Heimat seitdem nie wieder verlassen. Für
schwermütige Rückbesinnungen war sie selbst jedoch nie zu haben. „I never
look back“, sagte sie einmal, „when it’s done, it’s done.“ Manche ihr…
Arbeiten hatte sie gar, wenn sie ihren Zweck erfüllt hatten, kurzerhand in
den Bosporus vor ihrem Elternhaus in Kuzguncuk geworfen.
25 Oct 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Ingo Arend
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