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# taz.de -- Sarkis stellt in Baden-Baden aus: Das Gewicht der Farbe
> Historische Traumata sind Thema des türkisch-französischen Künstlers
> Sarkis. Die Kunsthalle Baden-Baden zeigt ihn seit langem wieder in
> Deutschland.
Bild: Blick in Sarkis Ausstellung in Baden-Baden
Wenn ein Regenbogen am Himmel erscheint, ruft das ein Moment des Erstaunens
hervor. Das Phänomen begleitet die Menschheit seit Tausenden von Jahren und
hat sich auf unterschiedlichen Kontinenten mit unterschiedlichen
Bedeutungen in die Kulturen eingeschrieben.
Jetzt überwölbt das Motiv die Ausstellung „7 Tage, 7 Nächte“ des
türkisch-französischen Künstlers Sarkis in der Kunsthalle Baden-Baden. Die
Wandarbeit aus farbigen Neonröhren begrüßt das Publikum mit einer Geste
der Versöhnung und des Neubeginns. Der 85-Jährige ist der bedeutendste in
der Türkei geborene zeitgenössische Künstler. Er verließ Istanbul 1964 und
lebt seitdem in Paris. 1969 nahm er an der legendären Schau „When Attitudes
Become Form“ von Harald Szeemann in Bern teil. Damit wurde er zum Teil
einer wegweisenden Avantgarde.
Er sei kein Künstler, der zu Humor oder Ironie neige, es ginge bei ihm
immer um ernste Dinge, sagt Sarkis. Dennoch will der Konzeptkünstler sein
Publikum für seine Sache gewinnen. Unter seinem Regenbogen im großen Saal
der Kunsthalle Baden-Baden zeigt er eine raumgreifende Skulptur mit dem
Titel „Atelier d’aquarelle dans l’eau“, die an eine lange, gedeckte Taf…
erinnert. Es werden jedoch keine Speisen gereicht, sondern Farben und
Pinsel. Gemalt wird in mit Wasser gefüllten Schüsseln – oder besser gesagt
darin experimentiert.
Denn es geht nicht allein um ein Motiv, sondern auch um die Beobachtung der
unterschiedlichen Schwere der Pigmente im Wasser. Eine meditative Studie
des kleinen Unterschieds. In der gesamten Schau erklingt von Ferne eine
Glockenspielmusik, die überall auf der Welt zu Hause sein könnte. Es
handelt sich um „Litany for the Whale“ von John Cage.
## Das Prozessuale steht im Mittelpunkt
Die Einfachheit dieser Inszenierung deutet eine subtile Komplexität an, die
dem Kosmos von Joseph Beuys ähnelt. Für beide steht das Prozessuale im
Mittelpunkt. Doch interessiert sich Sarkis weniger für die Natur als für
die Kulturen, die Vermessung ihrer Unterschiede und Gemeinsamkeiten.
Wie Beuys entwickelte er eine eigene Begrifflichkeit. Die Bezeichnung
„Kriegsschatz“ etwa versteht der Künstler als „Bewusstseinskatalysator�…
der seine Haltung zur Präsentation von Museumsobjekten und Kunstwerken
verändert hat. Oftmals gehen solche Drehpunkte seines Werks auf Erlebnisse
zurück. Im Jahr 1976 hatte der Künstler im Ethnologischen Museum in Berlin
die gleichförmige, völlig statische Inszenierung von Objekten
unterschiedlicher Herkunft spontan als völlig unangemessen empfunden.
Danach sollte keine seiner Ausstellungen mehr einer vorhergehenden
gleichen. Er interpretierte seine Werke immer wieder neu.
Das gilt auch für die Schau in Baden-Baden. Er verwebt Aspekte der Malerei,
der Skulptur, der Fotografie und der Musik. Das Bühnenhafte seiner mit
Verweisen und Doppeldeutigkeiten gespickten Installationen gibt den
Betrachter:innen Rätsel auf. Sie werden in ein Labyrinth von Bildern
und Gedanken verstrickt, auch um die Frage, was Kunst leisten kann.
Das gilt im Besonderen für die Installation „7 Nächte“, die der Ausstellu…
ihren Namen gibt. Der Künstler, dessen Eltern 1915 dem Völkermord im
damaligen Osmanischen Reich entkommen sind, verarbeitete mit diesem Werk
eine Enttäuschung: Die Türkei zensierte einen seiner Kataloge aufgrund
einer umstrittenen Formulierung einer Autorin.
## Die Energie des Leids
Die Publikation, die anlässlich der [1][Venedig-Biennale 2015 zu seiner
Schau „Respiro“ im türkischen Pavillon] erscheinen sollte, durfte nicht
verkauft werden. Damit war die offizielle Anerkennung des 100 Jahre
zurückliegenden Genozids an den Armeniern, einer christlichen Minderheit,
abermals in weite Ferne gerückt.
Defne Ayas, damals verantwortliche Kuratorin des türkischen Pavillons und
auch in der Kunsthalle Baden-Baden Teil des Teams, erinnert sich: „Das war
eine Erschütterung, die wir nicht erwartet haben, aber auch eine
Gelegenheit, diesen Schmerz vor Ort zu transformieren. Sarkis eignete sich
den Vorfall an und schuf eine sargähnliche, altarähnliche goldene Box,
einen ‚Leidschatz‘, wie er auch in Baden-Baden zu sehen ist. Darin
platzierte er die aufgrund einer Randbemerkung verbotenen Bücher.“
Aby Warburg hatte aus kunsthistorischer Sicht vom „Leidschatz als Besitz
der Menschheit“ gesprochen. Für Sarkis geht es um die Transformation von
Traumata mithilfe der Kunst: „Der Umgang mit Leid bedeutet immer, eine
Energie zu entwickeln, eine Form zu finden, um mit der Erinnerung und dem
Leid umzugehen.“
Unter Leidbewältigung kann sich jeder etwas vorstellen. Den konzeptuellen
Schachzügen des Künstlers ist nicht so leicht zu folgen. Das zeigt die
bereits erwähnte Installations-Serie „7 Nachte“, in der er eine inhaltliche
und eine konzeptuelle Ebene miteinander verbindet. Er verarbeitet die
wieder aufgebrochene Wunde [2][des tabuisierten Genozids], indem er den
Begriff des Originals, eines Gemäldes etwa, infrage stellt.
Der Prozess der Leidverarbeitung, den Besuch einer Therapeutin, im Atelier
verbrachte Nächte und die Herstellung eines Bildes montiert er zu einem
Tableau. Das sogenannte Original fällt auf den Status eines Relikts zurück.
## Die Rolle des Lehrers
In einer Zeit der Krisen dürfte der Aspekt der Heilung in seinem Werk auf
Interesse stoßen. Doch geht es um Verdichtung eines Werks, das aber
weiterhin atmen soll. Sarkis nimmt gerne die Rolle des Lehrers an. Er
unterrichtete an Hochschulen in Straßburg und in Paris. Jetzt gibt er sein
Wissen an ausgewählte Kuratoren weiter, wie er in einer Gesprächsrunde zu
Protokoll gibt. Alle seiner rund 600 Ausstellungen habe er selbst
eingerichtet. Das ginge nun nicht mehr. „Ich plane meine Zukunft“,
konstatiert er. „Wenn ich nicht hier sein kann, was passiert dann mit
meinem Werk? Für Baden-Baden habe ich nur ein wenig das Konzept
angestoßen.“
Das Direktorenduo Çağla Ilk und Misal Adnan Yıldız plante die Schau mit
Defne Ayas seit mehr als zwei Jahren. Damals war nicht abzusehen, dass
Çağla Ilk den Deutschen Pavillon auf der Biennale von Venedig 2024
kuratieren würde. Seit einem halben Jahr wird gerätselt, was [3][die
studierte Architektin und einst am Berliner postmigrantischen Theater
praktizierende Dramaturgin] und Kuratorin wohl auf der renommiertesten
Bühne für zeitgenössische Kunst zeigen würde. Aber klar sein dürfte, dass
ihre kuratorische Perspektive in der Zusammenarbeit mit Sarkis eine
Bestätigung gefunden hat, was sie im Gespräch bestätigt: „Für mich ist das
Sarkis-Projekt eine wunderbare Vorbereitung für Venedig.“
Vielleicht werden Kinder dort eine Rolle spielen, die Sarkis als Vermittler
zwischen Gegenwart und Zukunft versteht. In Baden-Baden hängen an zwei
Stellen Trauben mit Kinderkostümen in fluoreszierenden Farben von der
Decke, als würden sie auf ihren nächsten Einsatz warten. Sie stellen einen
Querschnitt der Kindermode aus einem Jahrhundert dar und wurden von Kindern
während einer Prozession durch eine Stadt in der französischen Provinz
getragen. Der Erzähler Sarkis bedient sich der Augenblicke, der Momente,
die das Potential eines Bild haben oder eines Films.
1 Nov 2023
## LINKS
[1] /Streit-um-Kuratorin-Istanbul-Biennale/!5949594
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[3] /Erinnern-an-die-Einwanderung/!5117715
## AUTOREN
Carmela Thiele
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