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# taz.de -- Ausstellung in Berlin: Vielschichtige Verknotung
> Gülsün Karamustafa ist eine der wichtigsten Künstlerinnen der Türkei. Um
> Migration geht es, um Gender und Feminismus
Bild: Feministisches Statement: Venus im Einmachglas
Unauffällig laufen die schwarzweißen Bilder eines Videos auf einem Monitor
zwischen üppig drapierten Stoffinstallationen und panthergemusterten
Collagen im 7-Minuten-Loop vor sich hin. Nur langsam ziehen die
Innenaufnahmen von der runden Kuppel eines türkischen Bades über den
Bildschirm, während nebenan im Obergeschoss des Hamburger Bahnhofs die
Amateurmodels der Show „1001 Nacht“ in prall sitzenden
Seidenjersey-Kostümen an die Wand projiziert werden.
So unscheinbar die späte Arbeit „Anti Hamam Confessions“ von Gülsün
Karamustafa ist, sie bringt sehr klar ein Gefühl der Gespaltenheit zum
Ausdruck, das sich durch die gesamte Einzelausstellung der türkischen
Künstlerin zieht.
„Im Hamam“, sagt sie darin mit ruhiger Stimme aus dem Off, „tragen die
Frauen seidene Kleider und gemusterte Tücher“, und baut mit ihren Worten
entlang der kargen Bilder ein orientalistisch-erotisches Fantasma vor dem
inneren Auge auf (nackte Frauen, Perlmutt-Ornamentik, silberne
Wasserschalen, Moschus-Seife), um dann zu gestehen: „In meinem ganzen Leben
war ich nie in einem Hamam.“
Vielmehr, so erfährt man, habe sie, die immer in modernen Stadtappartements
lebte, das türkische Bad als unhygienisch empfunden. Der auf dem Bildschirm
vorbeiziehende Hamam selbst wurde im 16. Jahrhundert von dem großen, in
Schulbüchern und öffentlichen Plätzen der Türkei stets bedachten
Architekten Sinan im 16. Jahrhundert erbaut; doch beherbergt er seit 1998
lediglich ein billiges Einkaufszentrum.
## Aggressive Populismen
In dieser Videoarbeit blickt die Künstlerin auf die vielschichtige
Verknotung aus Fantasie und Realität in ihrem Heimatland Türkei – aus einer
verklärten osmanischen Vergangenheit, ihrer langen Ablehnung in der
türkischen Staatsideologie und der sozioökonomischen Wirklichkeit des
Landes. Und sie macht dabei ganz deutlich: Hier spricht eine Person, eine
Frau, die selbst als Subjekt in diese politischen und sozialen Komplexe
eingefädelt ist.
Gülsün Karamustafa ist eine der bedeutendsten zeitgenössischen
Künstlerinnen aus der Türkei. Geboren 1946 in Ankara, hat sie die
politischen Zäsuren, den Auf- und Abstieg aggressiver Populismen, die drei
Militärputsche zwischen 1960 und 1980 und die massiven sozioökonomischen
Veränderungen aus der jüngeren Geschichte des Landes künstlerisch
beobachtet.
Jetzt, in einem politischen Moment, an dem die Türkei mit einem
autokratischen Staatspräsidenten und bürgerkriegsähnlichen Zuständen erneut
vor der inneren Zerrissenheit steht, zeigt der Hamburger Bahnhof in Berlin
in der ersten großen institutionellen Einzelausstellung außerhalb der
Türkei diese wichtige Künstlerin.
Auf 1.000 Quadratmetern versammelt Kuratorin Melanie Roumiguière unter dem
Titel „Gülsün Karamustafa. Chronographia“ 110 Werke von den 1970er Jahren
bis heute. Karamustafas Arbeiten reichen von der klassischen Malerei über
Installationen zu Performances und Videos. Migration, Gender, Feminismus,
Popkultur und der westliche Blick auf die Länder des Nahen Ostens sind die
Themen ihrer Arbeit.
## Gegen das Repräsentieren
Karamustafa gehört auch zu einer Generation türkischer Künstler*innen, die
in den 1990er Jahren, zu Hochzeiten des postkolonialen Diskurses, in den
westlichen Kunstbetrieb eingeführt wurde und Istanbul als Produktionsort
für zeitgenössische Kunst international bedeutend machte.
Eine schwierige Rolle, gegen die sich die Künstlerin wehrt: „Ich bin nicht
der Repräsentant einer Szene oder eines Landes“, sagt Karamustafa im
Gespräch. „Ich melde mich als Künstlerin aus meiner individuellen
Perspektive, immer mit Konnotationen über meinen Hintergrund, meine Stadt
und meine Geografie. Ich spreche über Dinge und man kann zuhören, worüber
ich spreche. Aber dahinter ist nichts. Ich bin gegen diesen Druck der
Repräsentation, der vom Westen immer so ausgeschöpft wurde.“
Der Titel der Ausstellung folgt Karamustafas Ansinnen, mit ihrer Kunst eine
subjektive Stimme innerhalb des gesellschaftlichen Gewühls ihrer
Lebensumwelt wiederzugeben. Der Begriff „Chronographia“ bezieht sich auf
eine lebendige, schriftliche Darstellung eines historischen Ereignisses.
Im 11. Jahrhundert hat ein Michael Psellos diesen subjektiven Erzählstil in
die Literatur eingeführt. „Chronographia“ heißt auch eine der zentralen
Arbeiten in der Ausstellung. 60 golden gerahmte Coverbilder eines
türkischen Magazins aus den 1950ern sind auf dem Boden in einem großen
Kreis ausgebreitet: Endlos kann der Betrachter an 60 nett lächelnden Damen
mit blondem hochgestecktem Haar (die gute westliche Hausfrau) in den Rahmen
vorbeilaufen; eine gleicht der anderen.
## Rolle für das junge Mädchen
Auf einer Werkbeschreibung an der Museumswand erfährt man, dass
Karamustafas Vater Autor für diese Magazine war. Subtil wird der Druck
spürbar: Der Blick des Vaters auf seine Tochter, die bei Entstehung dieser
Magazine gerade ein Kind war, die feste Rollenzuschreibung für ein junges
Mädchen, die Last der türkischen Frau, Symbol einer säkularen
Staatsideologie zu sein.
Heute, unter der Präsidentschaft Erdoğans und seines Paradigmas eines
liberalen Neoislamismus für die Türkei, erhält die Arbeit „Chronographia“
noch einmal eine ganz neue politische Dimension, denn die kopftuchlose Frau
wird in der öffentlichen Repräsentation wieder von der kopftuchtragenden
Frau abgelöst.
Genau dieses Ineinanderschwingen von ursprünglicher Intention einer Arbeit
und den Blickverschiebungen der Zeit bestimmt das kuratorische Konzept der
Ausstellung. Gülsün Karamustafa und Melanie Roumiguière haben die 110 Werke
nicht chronologisch angeordnet, sondern thematisch miteinander in einen
Dialog gebracht. „Chronographia“ von 1994 stehen etwa die neueren „Promis…
Paintings“ gegenüber, auf denen Engelsdarstellungen auf Goldgrund östliche
und orientalische Maltraditionen verbinden.
## Hybride Identitäten
Hinzu kommt eine ganz neue Arbeit Karamustafas, das „Monument of the 21st
Century“: Figurendrucke sind zu einer dreidimensionalen Installation
gestapelt. In alle Himmelsrichtungen zeigend, sollen sie die
Migrationsbewegungen der Gegenwart verbildlichen. Hybride Identitäten
zwischen Ost und West, innere und äußere Migration – das sind die Themen
dieser politischen Künstlerin.
„Dabei stehe ich immer an einem kritischen Punkt, der auf keinen
eindeutigen Weg verweist. Meine Arbeit ist immer mit meiner Kindheit oder
meiner Geschichte verbunden. Man kann in meiner Kunst immer eine Beziehung
zu meinem Leben und meiner eigenen Geschichte herstellen. Aber was auch
immer man daraus zieht und es teilt – jeder findet seine eigene Geschichte
daran.“
Ihre ganz persönliche Geschichte verarbeitet die Künstlerin auch in den
„Prison Paintings“, einem Bildzyklus, der ihre Erfahrung in der
Gefangenschaft wiedergibt. Nach dem Militärputsch 1971 sind Karamustafa und
ihr Mann aufgrund öffentlich geäußerter Kritik zu Haftstrafen verurteilt
worden.
Der Zyklus bildet triste Frauenfiguren, Enge und Krankheit in der Haft
nach. Doch stilistisch bewegt sich Karamustafa dabei im Primitivismus,
bleibt mit ihrem farbenfrohen, folkloristischen Pinselstrichen naiv, ja
fröhlich. Bildsprache und Bildinhalt driften schmerzhaft auseinander.
Erneut diese Gespaltenheit.
12 Jun 2016
## AUTOREN
Sophie Jung
## TAGS
Rollenbilder
Schwerpunkt Türkei
Feminismus
Recep Tayyip Erdoğan
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Postkolonialismus
Ausstellung
Urbanität
Schwerpunkt Türkei
Architektur
Anohni
Proteste in der Türkei
Konzeptkunst
Satire
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