| # taz.de -- Türkische Kunstszene nach Putschversuch: Tanz auf Bakunins Barrika… | |
| > Im Ausnahmezustand wird plötzlich zum Vorteil, was jahrelang beklagt | |
| > wurde: das Fehlen einer staatlichen Kulturpolitik. | |
| Bild: Ahmet Öğüts Installation ruft ungeniert den Gezi-Aufstand in Erinnerung | |
| Gestylte Hipster in kurzen Hosen, Freaks mit Rotweingläsern, küssende | |
| Männer mit Trimmbärten. Wen nach dem gescheiterten Staatsstreich in der | |
| Türkei und den Querelen um die Biennalen in Sinop am Schwarzen Meer und in | |
| Çanakkale an den Dardanellen die Angst überfallen hatte, die Kunst am | |
| Bosporus stünde kurz vor der Inhaftierung, traut Anfang Oktober seinen | |
| Augen nicht: Übermütig feiert ein junges urbanes Publikum, das der Berliner | |
| Kunstmeute in nichts nachsteht, den Saisonauftakt. | |
| Bomontiada, der neue Hotspot im Stadtteil Şişli, eine alte Bierfabrik, | |
| quoll zum Saisonauftakt nicht nur von Saturday-Night-Fiebernden über, die | |
| in den Musikclub Babylon wollten. Auch der im Frühjahr neu eröffnete Alt | |
| Art Space in dem coolen Kreativquartier platzte aus allen Nähten. Und zwar | |
| nicht nur, weil die Ästhetik der Immersion, mit der die Ausstellung „New | |
| Realities“ der New Yorker Kunstmesse Moving Image in den neuen Hotspot | |
| lockte, die technikaffine Jugend anzog. | |
| Versunken ließen sich die Besucher mit Virtual-Reality-Brille über dem | |
| neuesten Undercut durch Jakob Kudsk Steensens Streifen „Primal Tourism“ | |
| treiben, in der Science-Fiction, Kolonialismus und Tourismus eine bizarre | |
| Mischung eingehen. Oder sie luden sich Claudia Harts App Flower Matrix und | |
| freuten sich an den animierten Blumenbildern auf ihrem Smartphone. | |
| Der Art Space lockte aber auch mit Politischem: „Bakunins Barrikade“, die | |
| Installation des türkischen Künstlers Ahmet Öğüt, die an des russischen | |
| Anarchisten Idee erinnerte, die Barrikaden der Aufständischen von 1848 | |
| gegen die Preußen mit Kunstwerken zu schützen, rief ungeniert die | |
| Street-Art des Gezi-Aufstands 2013 in Erinnerung. Ebenso wie sein | |
| Animationsfilm über den Studentenaufstand in der südkoreanischen | |
| Industriemetropole Gwangju von 1987: Damals benutzten die Machthaber | |
| dasselbe Tränengas wie 36 Jahre später die Polizei in der Türkei. | |
| Im Bomontiada ließ die Ordnungsmacht sich genauso wenig blicken wie bei der | |
| Langen Nacht im Pera Müzesi. In dem privaten Museum der millionenschweren | |
| Unternehmerfamilie Koç im Touristenbezirk Beyoğlu zeigte die US-Künstlerin | |
| Katherine Behar digitale Skulpturen. Im Café heizten genauso DJs ein wie in | |
| dem Salon der Istanbuler Stiftung Kunst und Kultur (IKSV) unweit vom | |
| legendären Hotel Pera Palace. Pub-Crawl mit Wodka Cranberry und Freibier, | |
| süßliche Düfte durchzogen die Nachtluft. | |
| Im liberalen Stadtteil Kadıköy auf der asiatischen Seite der Stadt gingen | |
| ungehindert ein Graffiti- und ein Vinylfestival über die Bühne. „Du darfst | |
| nicht unterschätzen, dass die Leute nach dieser langen Depression nach dem | |
| Coup eine Ablenkung brauchen“, erklärte mir Fulya Erdemci, im Gezi-Jahr | |
| 2013 Kuratorin der Istanbul-Biennale, den überbordenden Feierwillen. | |
| ## Der Staat hat anderes zu tun | |
| Dass die Kunst in der Türkei derzeit noch einigermaßen unbehelligt agieren | |
| kann, liegt daran, dass sie keine wirklich kritische Masse abgibt. Das mag | |
| eine narzisstische Kränkung für eine Szene sein, die sich gern als das Salz | |
| in der Suppe der Gesellschaftsveränderung sieht. Aber der türkische Staat | |
| hat derzeit anderes zu tun, als eine Handvoll Galerien zu überwachen. | |
| „Die müssen das Militär und die Justiz umbauen“, winkte Erol beim Frühst… | |
| im Intellektuellencafé Kaktüs in der Freien Republik Cihangir ab, dem | |
| Immer-noch-Kreuzberg der Bosporusmetropole unweit vom Taksimplatz. Der | |
| zwischen Berlin und Istanbul pendelnde Schauspieler, der auch am | |
| Maxim-Gorki-Theater gastiert, lacht: „Das dauert, bis die sich sortiert | |
| haben.“ | |
| In dem prekären Ausnahmezustand nach dem Putsch wird plötzlich zum Vorteil, | |
| was jahrelang beklagt wurde: das Fehlen einer staatlichen Kulturpolitik. | |
| Gerade weil die meisten Kunstinitiativen privat gesponsert sind, kann der | |
| Staat nicht direkt zugreifen. „Exodus“, „Plan B“ und „Survivalmodus�… | |
| zwar die meistgehörten Vokabeln derzeit in der Szene. Nach Auswanderung | |
| klingt es aber nicht, wenn die beiden jungen Galeristen Doğa Öktem and | |
| Tankut Aykut ihrem Besucher erklären, dass sie eine „intergenerationelle | |
| Brücke in der türkischen Kunstszene“ bauen wollen. In drei kleinen Räumen | |
| über einem alten Teehaus im Schatten des Galataturms haben sie sich einen | |
| White Cube mit knarrenden Dielen eingerichtet. | |
| Ein unbekannter Finanzier trägt den winzigen, nichtkommerziellen „blok art | |
| space“ im Design- und Antiquitätenbezirk Çukurcuma, in dem auch Orhan | |
| Pamuks Museum der Unschuld steht. „blok art“ will New-Media-Kunst an der | |
| „Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Technologie“ einen Raum geben und | |
| unterstützt vor allem Projekte, die sich „inklusiv zu ihrem Umfeld“ | |
| verhalten, erklärt Mine Kaplangı, die 29 Jahre junge Kuratorin. Wichtigstes | |
| Thema beim Künstlergespräch war das Verhältnis von Kunst und Politik. | |
| Die ungewöhnlichste Initiative betreibt Bahar Yürükoğlu. Wer der 1981 in | |
| Washington geborenen Künstlerin mit der Vorliebe für Neonfarben eine Mail | |
| schreibt, konnte mit ihr zu dem nomadischen Artspace Lock up pilgern. Mal | |
| in einer Lagerhalle, mal in einem alten Speicher hinter einer Shoppingmall | |
| zeigt sie Ausstellungen junger KünstlerInnen. | |
| Auch die „etablierten“ Privathäuser Istanbul Modern, Arter und Salt | |
| bereiten die nächsten Ausstellungen vor. In Dolapdere wächst das neue | |
| Museum für zeitgenössische Kunst der Koçs aus dem grauen Schlamm des | |
| Kleineleutebezirks. Eine Art Gegenhegemonie gegen dieses dichte Netz | |
| überwiegend kritischer Kunst wird das AKP-regierte Istanbul nicht mit der | |
| Istanbul Triennale aufbauen können. Zwar ist es keine Kalligrafiebiennale, | |
| mit denen etwa die Mullahs im Iran die Moderne ins Abseits zu drängen | |
| versuchen. Doch über Volkshochschulniveau kamen die 40 Bastelarbeiten, die | |
| Kuratorin Hülya Yazıcı unter dem Titel „No Home“ in dem Flachbau der wen… | |
| beachteten Staatsgalerie für moderne Kunst am zentralen Taksimplatz | |
| zusammengestellt hatte, nicht hinaus: Bilder von vom Himmel stürzenden | |
| Raketen aus schwarzer Pappe und flehentlich gereckte Flüchtlingshände. | |
| Der Druck der Verhältnisse macht die Lage für Künstler spannend. „Gemessen | |
| an der Krisenerfahrung sind wir längst eine ästhetische Supermacht“, ätzt | |
| Galerist Kerimcan Güleryüz von The Empire Projec“ den state of mind. Aber | |
| allen ist klar: In einem Staat, der die freie Presse und Wissenschaft | |
| schleift, jeden Tag einen Schriftsteller verhaftet, die Schauspieler der | |
| Staatstheater entlassen will und dessen Premierminister seiner Nichte | |
| kürzlich auf deren Hochzeit riet: „Sei gehorsam, und du hast es leicht“, | |
| kann der Frieden in der Kunstszene nur temporär sein. Langsam kriecht | |
| selbst Unangepassten die Selbstzensur in die Hirne. | |
| ## Gefahr schweißt zusammen | |
| „Ich war mir unsicher, ob ich meine Ausstellung wirklich ‚Where Is Eros?‘ | |
| nennen sollte“, sagt die 1976 geborene Künstlerin Inci Furni. Dabei haben | |
| ihre Zeichnungen von Handwerkern in einem alten Bürogebäude gar keine | |
| sexuellen Anspielungen. Ihr ging es um die sensible Seite der rauen Männer, | |
| die neben ihrer Arbeit hingebungsvoll Vögel züchten. „Man wird misstrauisch | |
| bei jedem seltsam aussehenden Mitfahrer in der U-Bahn“, gesteht mir ein | |
| junger Kurator beim Kaffee. | |
| Die drohende Gefahr schweißt aber auch zusammen. Plötzlich lassen sich | |
| selbst Kunstfreunde auf der Vernissage der mondänen Dirimart-Galerie | |
| blicken, die diesen Laufsteg der Bourgeoisie bislang keines Blickes | |
| würdigten. Das Istanbul Gallery Weekend, das die Galerien Anfang Oktober | |
| zum ersten Mal in Szene setzten, soll zwar den Verfall des Kunstmarkts am | |
| Bosporus stoppen. Dass sie es unter das Motto „Solidarity“ stellten, war | |
| aber auch ein politisches Zeichen. | |
| Kuratorin Erdemci überlegt, wie man statt spektakulärer Großereignisse in | |
| Istanbul ein Netz von Kunstevents in liberalen oder – wie Çanakkale – von | |
| der Oppositionspartei CHP regierten Städten über das Land spannen könnte. | |
| Das kann freilich dauern. Bis dahin gibt sich die Szene krisenerprobt. | |
| „Wenn wir das überleben, was gerade passiert“, sagt lächelnd Saliha Yavuz, | |
| Gründerin des Istanbuler Artwalk und des Magazins GriZine, „dann überleben | |
| wir alles.“ | |
| 9 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ingo Arend | |
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