| # taz.de -- Pressefreiheit in der Türkei: „Warum hast du nichts getan?“ | |
| > In der Türkei werden kritische Journalisten mundtot gemacht. Wir in | |
| > Deutschland betrachten das aus sicherer Distanz. Wo bleibt der Protest? | |
| Bild: Auf dem Weg zum Gericht: eine der festgenommenen Journalistinnen am Freit… | |
| Vergangene Woche wurde in der Türkei die Schließung von 45 Zeitungen, 16 | |
| Fernsehstationen, 23 Radiosendern und drei Nachrichtenagenturen angeordnet | |
| – und die [1][Verhaftung von allein 47 Journalistinnen und Journalisten der | |
| Zeitung Zaman]. | |
| Die Bezeichnung „in der Türkei“ ist für sich genommen falsch. Denn nicht | |
| „die Türkei“ hat beschlossen, alle Medienvertreter, die jenseits der | |
| Regierungslinie sprechen, schreiben oder senden könnten, mundtot zu machen, | |
| sondern Recep Tayyip Erdoğan. | |
| Wir Journalisten in Deutschland beobachten das. Wir schreiben den | |
| Sachverhalt auf. Wir berichten darüber. Und weiter? Die Türkei ist für uns | |
| Deutsche nicht irgendein Land. Es ist für uns ein schwieriges Land. Eines, | |
| dem gegenüber wir es nicht schaffen, eine klare Haltung zu finden. Und so | |
| leben wir eine zynische Bigotterie: Wir halten die Türken in Deutschland | |
| auf Abstand – doch fahren wir in ihr Land für den Urlaub, dann feiern wir | |
| sie für ihre Gastfreundschaft. | |
| Und jetzt das. Jetzt werden wir Zeuge, wie in diesem uns durch vielerlei | |
| Ambivalenzen verbundenen Land – das uns nach Monaten der Konflikte, einem | |
| Pakt, den man nur teuflisch nennen kann, dem Schauspiel des Erstarkens | |
| eines Seefahrersohns zum Despoten, wohl so nah ist wie noch nie – die | |
| Medien kaltgemacht werden. Und wir tun was? | |
| ## Berichterstattung: top! | |
| „Wir“, das sind in diesem Fall wir Journalisten. Ja, wir berichten. Wir | |
| schreiben auf, was wir sehen und was wir wissen. Das Ausmaß der | |
| Berichterstattung sei, so Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne | |
| Grenzen (RoG), „gigantisch“. Wir scheuen uns nicht, zu sagen, dass dies der | |
| Anfang vom Ende sei, weil wir – aus unser eigenen Geschichte – besser als | |
| viele andere wissen können, wie entscheidend das Ausschalten eines | |
| vielstimmigen Mediensystems zum Aufbau einer Diktatur ist. | |
| Und doch ist das tatsächlich alles. Berichten ist alles, was wir tun. Wir | |
| Journalisten. | |
| Wenn Jan Böhmermann, der nicht nur genau wusste, was er tat, als er sein | |
| Erdoğan-Gedicht im Fernsehen veröffentlichte, sondern dies provokant zur | |
| Auslotung unseres Freiheitsverständnisses tat, Ärger bekommt, sind wir | |
| schnell mit unserer Unterstützung zur Stelle. Dann schreiben wir Texte, | |
| unterzeichnen Petitionen und veröffentlichen offene Briefe. | |
| Wenn wir finanziell nichts zu befürchten haben, machen wir uns vielleicht | |
| sogar seine Worte zu eigen. Dann regen wir uns [2][von unserem Drehstuhl | |
| aus ordentlich auf] und schicken die Forderungen nach Kunst- und | |
| Pressefreiheit an das andere Ende der Komfortzone, dorthin, wo die | |
| Politiker sitzen. Doch wenn es wirklich mal dicke kommt, wenn in unserem | |
| Nato-Bündnisland unter abenteuerlichen Vorwürfen unsere Kolleginnen und | |
| Kollegen verhaftet werden, wenn sie daran gehindert werden, das zu tun, was | |
| wir hier in Deutschland als Fundament einer Demokratie begreifen, nämlich | |
| aufzuschreiben, was ist, dann nehmen wir das erstaunlich ruhig zur | |
| Kenntnis. | |
| ## Solidarität: flop! | |
| Dann formiert sich nichts. Keine Gruppe. Kein Widerstand. Kein Appell. | |
| Erstaunlich untätig bleiben alle die, die sich am Ende des Jahres und zu | |
| Beginn des neuen mit Preisen für ihre Türkei-Reportagen auszeichnen, die | |
| die Regierung für ihre Türkei-Politik kritisieren und sich einzureden | |
| versuchen, ohne ihren „Qualitätsjournalismus“ ginge nichts. | |
| Dann gibt es eigenartigerweise keine offenen Briefe in den Zeitungen. Dann | |
| bleibt die Speerspitze des deutschen Journalismus erstaunlich stumpf. Keine | |
| Elite, keine Preisträger, die sich sagen: „Wer, wenn nicht wir?“, und sich | |
| öffentlichkeitswirksam solidarisch mit den türkischen Kolleginnen und | |
| Kollegen erklären. Die demonstrativ einen Teil ihres guten Salärs in einen | |
| Topf werfen und Anwälte beauftragen, den Kollegen in der Türkei zu helfen. | |
| Keine Verleger, Senderchefs und Chefredakteure, die sich mit Reporter ohne | |
| Grenzen zusammenschließen, eine europaweite Allianz bilden und etwa die | |
| türkischen Kollegen bei sich veröffentlichen lassen. Oder die zur | |
| türkischen Botschaft gehen und einen medienwirksamen Protest veranstalten. | |
| Wobei „medienwirksam“ fast zynisch klingt in Anbetracht des Umstands, dass | |
| sie über die Inhalte ihrer Blätter, Onlinedienste und Sender selbst | |
| bestimmen. | |
| „Zeichen setzen“, deutlich machen: „So geht das nicht!“ oder: „Wer si… | |
| unseren Kollegen anlegt, legt sich auch mit uns an!“ – also eben jene | |
| Haltung zeigen, die wir Medienmacher so gern bei der Zivilbevölkerung | |
| einfordern, sie gilt für uns nicht. Im Privaten vielleicht, wo sicherlich | |
| einige von uns für Organisationen wie Amnesty International oder RoG | |
| spenden. Aber nicht als solidarische Größe in der Öffentlichkeit. Wenige | |
| Ausnahmen, wie die [3][Sonderausgabe der taz vom 3. Mai,] mag es geben. | |
| Doch wie viel können Hunderte oder vielleicht Tausende entsetzter | |
| Einzelpersonen erreichen, wenn sie sich hinter einem Verbund, hinter einer | |
| Stimme verstecken? | |
| ## Wenig Widerhall | |
| Entsprechend wenig Widerhall findet der „[4][Appell der Berufsverbände]“, | |
| den der Deutschen Journalisten-Verband (DJV) zusammen mit dem Deutschen | |
| Richterbund, dem Deutschen Anwaltsverein und dem Deutschen Hochschulverband | |
| veröffentlicht hat und in dem sie die Bundesregierung und die Europäische | |
| Kommission auffordern, „nicht zuzuschauen, wie in der Türkei der | |
| Rechtsstaat abgewickelt wird!“ | |
| Immerhin das Zeichen, das das Netzwerk Recherche vor wenigen Wochen gesetzt | |
| hat, hat es zu weitreichender medialer Aufmerksamkeit gebracht: Der Verein | |
| hat den zu knapp sechs Jahren Gefängnis verurteilten Chefredakteur der | |
| Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar, [5][mit dem „Leuchtturm“ für seinen | |
| Kampf für die Meinungsfreiheit ausgezeichnet]. Und so wichtig die Ehrung | |
| für Dündar ist, so wichtig war die Funken sprühende Laudatio des | |
| EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz für die Branche: [6][Schulz | |
| erinnerte daran], dass Journalist zu sein etwas anderes ist als Tierpfleger | |
| oder Bäcker. Auch in Deutschland. | |
| Und dennoch, wir schaffen es nicht. Schaffen es nicht, über unsere eigene | |
| Befindlichkeit, die in ihrem Wohlgefühl bitte immer unangetastet bleiben | |
| soll, hinaus zu agieren. Beim DJV gingen bereits Anfragen von Bürgern ein, | |
| wann eine große Demonstration von Journalisten bezüglich des Vorgehens | |
| gegen die Medien in der Türkei stattfinden würde. Wie gesagt, die Frage kam | |
| von Bürgern. Nicht von Journalisten. | |
| Wir Journalisten bekommen es zwar hin, beleidigt zu sein, weil wir von | |
| Landsleuten als „Lügenpresse“ beschimpft werden, und sind persönlich | |
| angefasst, wenn wir bei der Pegida-Berichterstattung geschubst werden, aber | |
| wir, die wir uns global vernetzen, um Informationen auszuwerten, weigern | |
| uns, Verantwortung zu übernehmen, die daraus entsteht, wenn in | |
| Nachbarländern wie Polen, Ungarn und der Türkei Kolleginnen und Kollegen | |
| mundtot gemacht werden. Wenn Medien ausgeschaltet werden, um Demokratien | |
| auszuhöhlen. | |
| ## Vorsatz: Immer schön raushalten | |
| Und obschon in diesem Land, in unseren Familien die Frage „Warum hast du | |
| nichts getan?“ auf der Suche nach einer Antwort, wie es zum Naziregime | |
| kommen konnte, noch vor wenigen Jahren eine zentrale war, haben wir | |
| Journalisten es uns zum Vorsatz gemacht, uns immer schön herauszuhalten. | |
| Bericht zu erstatten muss reichen. Sich engagieren, „Halt!“ rufen – das | |
| sollen die anderen tun. Selbst wenn es das zu verteidigen gilt, wofür wir | |
| angeblich stehen: die Pressefreiheit. | |
| Es ist an der Zeit, zu begreifen, dass es bei der Idee von Europa und der | |
| einer demokratischen Welt die Pressefreiheit der anderen nicht gibt. Ihre | |
| Pressefreiheit ist unsere Pressefreiheit. Und die muss zur Not auch am | |
| Bosporus verteidigt werden. | |
| 2 Aug 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Nach-dem-Putschversuch-in-der-Tuerkei/!5327918/ | |
| [2] http://www.welt.de/debatte/kommentare/article154171281/Solidaritaet-mit-Jan… | |
| [3] /!162212/ | |
| [4] https://www.djv.de/startseite/service/news-kalender/detail/aktuelles/articl… | |
| [5] https://netzwerkrecherche.org/stipendien-preise/leuchtturm/leuchtturm-2016-… | |
| [6] https://www.youtube.com/watch?v=nY1gBFOxJvs | |
| ## AUTOREN | |
| Silke Burmester | |
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