# taz.de -- Pressefreiheit in der Türkei: Der Ausnahmezustand ist die Regel | |
> Für viele oppositionelle Journalist*innen in der Türkei ist das aktuelle | |
> Vorgehen Erdoğans die Ausweitung dessen, was sie seit Jahren erleben. | |
Bild: Demonstrant*innen fordern im Juni die Freilassung des Journalisten Erol �… | |
„Wir haben jetzt eine landesweite Situation. Für das gesamte Land wurde der | |
Ausnahmezustand verhängt. Was für die kurdische Region seit Langem Realität | |
ist, gilt nun für die ganze Türkei.“ | |
Diese Worte von Erol Önderoğlu, Türkei-Korrespondent von Reporter ohne | |
Grenzen und Mitherausgeber der Website Bianet, beschreiben die aktuelle | |
Entwicklung wohl am treffendsten. „Als kurdischer Journalist Fälle zu | |
recherchieren und mit Behörden in Verbindung zu treten ist immer schwierig | |
gewesen. Kurdische Medien sind schon lange Ziel staatlicher Repressionen. | |
Doch nach der Niederschlagung des Putsches treten zahlreiche Fälle von | |
Zensur auf. Etliche Journalisten wurden verhaftet“, sagt er der taz. | |
Der dreimonatige Ausnahmezustand ermöglicht es dem türkischen | |
Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, per Dekret direkt zu regieren. Den | |
Massenverhaftungen und -suspendierungen in den Tagen nach dem gescheiterten | |
Putsch folgte das erste Dekret, das die Schließung zahlreicher privater | |
Schulen, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Universitäten und | |
medizinischer Einrichtungen verordnete. | |
## Vorwand Gülen-Bewegung | |
Der Vorwurf: Verbindungen zur Gülen-Bewegung. Man müsse die staatlichen | |
Organe von dem metastasierenden Krebsgeschwür der Gülen-Bewegung, das alle | |
Bereiche des türkischen Staates befallen habe, säubern. So äußert sich | |
Erdoğan in einem Interview mit France24 vom 20. Juli. Ob und in welchem | |
Maße die Bewegung – benannt nach dem islamischen Prediger Fetullah Gülen, | |
der im Exil in den Vereinigten Staaten lebt – verantwortlich für den | |
gescheiterten Putschversuch ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. | |
Vielmehr erscheint Erdoğans Vorgehen als Schlag gegen seine Kritiker im | |
Allgemeinen. | |
Die 12 festgenommenen Journalisten von TRT zum Beispiel, dem offiziellen | |
türkischen Fernseh- und Radiosender, seien alle Mitglieder einer linken | |
Gewerkschaft, so Önderoğlu. Dies sei viel eher der Hauptgrund für die | |
Verhaftung als die angebliche Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung. | |
Für Önderoğlu ist die zunehmende Spaltung der Gesellschaft die größte | |
Herausforderung. „Die Menschen sind nach der Nacht des 15. Juli nicht mehr | |
dieselben. Die Situation ist nun doppelt so heikel. Auf der einen Seite | |
gibt es die (ultra)nationalistischen Demonstranten, die auf den Straßen | |
Istanbuls mit Autokonvois ihre Runden drehen. Auf der anderen Seite sind da | |
viele Menschen, die ihren Blick still auf den Boden richten und sich | |
fragen, wie es morgen, in einem Monat und in einem Jahr um ihr Land | |
bestellt sein wird.“ | |
## Ideologisch aufgeladen | |
Diese Polarisierung spiegele sich auch in der Medienlandschaft wider. Die | |
in der Türkei herrschenden Konflikte erschwerten eine unabhängige und | |
kritische Arbeitsweise ungemein, sagt Önderoğlu; „Jegliche | |
Berichterstattung, egal für welches Lager, ist extrem ideologisch | |
aufgeladen.“ Die Folge sei, dass Journalist*innen sich sehr feindlich | |
gegenüberstünden und kein Dialog stattfinde. | |
So stellt die Regierung etwa viele kurdische Websites und Zeitungen unter | |
Generalverdacht, terroristische Propaganda für die verbotene kurdische | |
Arbeiterpartei PKK zu betreiben, und verstärkt den gegenseitigen Hass. | |
Diese Tendenz hat sich verschärft, seitdem der Friedensprozess mit der PKK | |
im vergangenen Jahr zum Erliegen kam und in vielen Städten im Südosten der | |
Türkei wieder kriegsähnliche Zustände herrschen. | |
Wegen der Ausweitung des Ausnahmezustands auf das gesamte Land sei es umso | |
wichtiger, „rechtsstaatliche Prinzipien zu gewährleisten und von Fall zu | |
Fall individuell und differenziert zu untersuchen, was an den Vorwürfen | |
dran ist“, meint Önderoğlu. | |
Am 20. Juni wurde ihm selbst zur Last gelegt, terroristische Propaganda zu | |
betreiben. Zusammen mit Şebnem Korur Fincancı, Präsident der türkischen | |
Menschenrechtsorganisation TIHV, und dem Journalisten Ahmet Nesin wurde er | |
verhaftet. Die drei hatten sich an der Kampagne der kurdischen | |
Oppositionszeitung Özgür Gündem beteiligt, in der Unterstützer symbolisch | |
einen Tag den Posten der Chefredaktion übernahmen, um auf staatliche | |
Repressionen gegen die Pressefreiheit aufmerksam zu machen. | |
## Kein Unterschied mehr zwischen Kritik und Straftat | |
Menschenrechtsorganisationen und kritische Stimmen äußern sich schon | |
seit Langem mit Besorgnis über Erdoğans zunehmend autoritäre | |
Regierungsmethoden. Nun sieht es so aus, dass Erdoğan den Ausnahmezustand | |
nutzt, um seine persönliche Stellung zu festigen und die staatlichen | |
Institutionen mit ihm ergebenen Figuren neu zu besetzen. Andrew Gardner, | |
Türkeiexperte von Amnesty International, berichtet, dass die Verhaftungen | |
in den Tagen nach dem Putschversuch zunächst hauptsächlich Staatsorgane wie | |
Militär, Gerichte, Polizei, Universitäten und Privatschulen betrafen. | |
Journalist*innen und die Zivilgesellschaft seien zu diesem Zeitpunkt nicht | |
Hauptziel der Verhaftungswellen gewesen. Zudem seien Medienhäuser bereits | |
in der Vergangenheit vielfach von Zensur, Schließungen und Enteignungen | |
betroffen gewesen. [1][Nun sind aber am Donnerstag 45 Zeitungen, 15 | |
Zeitschriften, 3 Nachrichtenagenturen, 16 Fernseh- und 23 Radiosender per | |
Dekret gesperrt worden]. Am Montag zuvor [2][waren Festnahmebefehle gegen | |
42 Journalist*innen ausgestellt worden], auf Grundlage des Vorwurfs, mit | |
der Gülen-Bewegung in Verbindung zu stehen. Inzwischen ist es zu mehreren | |
Festnahmen gekommen, darunter der ehemalige Hürriyet-Online-Chef Bülent | |
Mumay, [3][sowie mehrere ehemalige Mitarbeiter der Zeitung Zaman], die bis | |
März das Leitmedium der Gülen-Bewegung in der Türkei war. Inzwischen sind | |
auch die Webseiten der Özgür Gündem sowie der pro-kurdischen | |
Nachrichtenagentur DİHA gesperrt. | |
Gardner kritisiert, der türkischen Regierung misslinge, zwischen Kritik und | |
Straftaten zu differenzieren und betont, dass trotz des Ausnahmezustands | |
die Verpflichtung auf Internationales Recht gelte. Auch er warnt, wie | |
Önderoğlu, vor willkürlichen Handlungen durch die türkische Regierung. | |
## Angstfrei schreiben | |
So verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen für Journalist*innen weiter. | |
Es besteht Grund zu der Annahme, dass das Prinzip der Unschuldsvermutung, | |
das im Übrigen auch während des Ausnahmezustands gilt, ausgehöhlt wird, | |
wenn Menschen ohne konkrete Beweise verhaftet werden. | |
Hasan Kösen ist Leiter des Diyarbakır-Büros von K24, einem | |
kurdisch-irakischen Nachrichtensender. Für ihn ist das Vorgehen altbekannt: | |
„Kurdische Journalisten können jederzeit zur Zielscheibe werden. Zwei | |
meiner Kollegen wurden verhaftet, weil sie angeblich einer terroristischen | |
Vereinigung angehören und Propaganda für diese betrieben haben sollen. Sie | |
haben jedoch keinerlei Verbindung zur PKK. Das ist das Grundproblem: | |
ungerechtfertigte Verhaftungen.“ Dennoch müsse man versuchen, angstfrei | |
über das zu schreiben, was passiere, ohne sich politisch von einer Seite | |
einverleiben zu lassen. | |
Seit dem Erlass des ersten Dekrets können Verdächtige 30 statt wie bisher 4 | |
Tage in Polizeigewahrsam genommen werden, bevor sie einem Haftrichter | |
vorgeführt werden müssen. Die Gefahr: Es lägen bereits Fälle von | |
misshandelten Inhaftierten vor, so Gardner von Amnesty International. | |
Önderoğlu berichtet ebenfalls, die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen | |
würden angewandt, um kritische Stimmen, wie eben die der Journalist*innen, | |
einzuschüchtern. | |
Bei alledem klingt das Versprechendes stellvertretenden Premierministers | |
Mehmet Şimşek, auch während des Ausnahmezustands Meinungs- und | |
Versammlungsfreiheit zu gewährleisten, wie blanker Hohn. | |
29 Jul 2016 | |
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## AUTOREN | |
Ariana Dongus | |
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