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# taz.de -- Oppositionspolitiker über Wahl in Türkei: „Erdrutschsieg nicht …
> Mustafa Yeneroğlu war Erdoğan-Vertrauter, jetzt ist er AKP-Gegner. Er
> erklärt, wie die Türkei nach einem Ende der Willkürherrschaft aussehen
> könnte.
Bild: Unterstützer von Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu bei einer K…
wochentaz: Herr Yeneroğlu, wie sehr sind Sie davon überzeugt, dass die
Opposition am 14. Mai gewinnt?
Mustafa Yeneroğlu: Ich bin sehr zuversichtlich, dass die Opposition klar
gewinnen wird. Nach den bislang vorliegenden Zahlen sollte eigentlich schon
im ersten Wahlgang die Entscheidung fallen. Ich gehe davon aus, dass
[1][Kılıçdaroğlu] mit 5 bis 6 Prozent Vorsprung gewinnen wird. Die meisten
AKP-Wähler möchten sich zwar öffentlich nicht äußern, aber ich weiß aus
Hunderten Gesprächen, dass viele diesmal nicht Erdoğan wählen werden.
Weil auch sie, wie weite Teile der Bevölkerung unter der extremen
Wirtschaftskrise leiden und gerade in solchen Stadtteilen von Istanbul, die
als Hochburgen der AKP zählen, zunehmende Armut herrscht. Im Vergleich zu
2021 sind die Lebenshaltungskosten um ein Vielfaches gestiegen, wohingegen
die Gehälter an den künstlich niedrig gehaltenen offiziellen
Inflationsdaten orientiert sind. Ich halte es deshalb auch nicht für
ausgeschlossen, dass es sogar zu einem regelrechten Erdrutschsieg der
Opposition kommt.
Und wenn es dennoch zu einem zweiten Wahlgang kommt, rechnen Sie dann auch
noch mit einem Sieg?
Wenn es doch zu einem zweiten Wahlgang kommt, dürfte der Abstand noch
größer werden. Zwar sind wir seit Langem auf eine erheblich eingeschränkte
Demokratie eingestimmt, aber vor dem Hintergrund der täglich zunehmenden
Drohungen durch die Machthaber wissen wir natürlich nicht, was uns in den
zwei Wochen zwischen den beiden Wahlgängen noch erwarten könnte.
Viele in der Türkei erinnern sich mit Schrecken an 2015: mit der Wahl im
Juni, bei der die AKP ihre absolute Mehrheit verlor, und der erzwungenen
Wiederholungswahl. Es gab Terroranschläge, am Ende bekam die Regierung
wieder eine absolute Mehrheit.
Ich bin ja im Juni 2015 für die AKP erstmals ins Parlament eingezogen. Ich
muss sagen, dass ich auch im Nachhinein keinerlei Anhaltspunkte dafür habe,
dass die Regierung auch nur indirekt mit den damaligen Terroranschlägen
irgendetwas zu tun gehabt hat. Das will ich mir auch gar nicht vorstellen.
Sie gehen also davon aus, dass Präsident Erdoğan eine Niederlage hinnehmen
wird?
Es gibt Stimmen aus der Regierung bis hin zum Präsidenten selbst, die man
so interpretieren kann, dass sie nicht bereit sind, eine Niederlage zu
akzeptieren. Mit solchen Negativszenarien will ich mich aber eigentlich gar
nicht beschäftigen. Wir konzentrieren uns auf unser Ziel des klaren
Wahlsiegs und der anschließenden friedlichen Übergabe der Exekutivgewalt.
Wenn wir einen überzeugenden Sieg im ersten Wahlgang erreichen, werden
solche Drohungen gegenstandslos werden.
Sie kennen Erdoğan lange, haben einige Jahre eng mit ihm
zusammengearbeitet. Wie wird er sich nach einer Niederlage verhalten?
Trotz der täglichen Hassreden und Einschüchterungsversuche glaube ich
nicht, dass Erdoğan persönlich den Wählerwillen missachten wird. Nach der
verlorenen Kommunalwahl in Istanbul habe ich noch ein paar Mal mit ihm
gesprochen. Anfangs machte er nicht den Eindruck, dass er das Ergebnis
anfechten wollte. Aber dann hat seine Umgebung auf ihn eingeredet und ihn
überzeugt. Das könnte natürlich noch mal vorkommen.
Denn die ungezügelte Herrschaft der letzten Jahre hat den Zirkel um Erdoğan
grenzenlos korrumpiert. Aber auch wenn er zunächst die Machtübergabe
hinnehmen sollte, heißt das nicht, dass er sich aus der Politik
zurückzieht. Das wird er sich wohl nicht erlauben können. Er wird seine
Anhänger auf die Straße bringen und alles daran setzen, die Stabilität der
neuen Regierung zu untergraben. Selbst mit einer gewonnenen Wahl ist der
Spuk also noch nicht vorbei.
Ist denn die [2][Koalition aus sechs Parteien], die dann die neue Regierung
bilden wird, stabil genug, um solchen Druck durchzuhalten?
Erst einmal werden die Menschen mit dem Ende der Willkürherrschaft hörbar
aufatmen und die Hoffnung im Land wird wieder aufleben. Diese Euphorie wird
Antrieb für einen neuen Zeitabschnitt sein. Wir haben uns ja nicht weniger
vorgenommen, als die Krönung unserer Republik mit der Demokratie. Das wird
natürlich nur mit der Überwindung der tiefen Wirtschaftskrise möglich sein.
Wir haben als Opposition zwei Jahre auf diesen Moment hingearbeitet. Wir
wissen, welche Herausforderungen wir in welcher Reihenfolge anpacken
werden. Da gibt es zwischen den sechs Parteien keinen Dissens.
Gilt das auch für die kurdische Frage? Es gibt in der Sechser-Koalition
unterschiedliche Meinungen, wie man mit der kurdischen HDP umgehen soll.
Nein, die unterschiedlichen Meinungen zur Kurdenfrage sind da und werden
aber erst einmal keine vordergründige Rolle spielen, weil es uns allen
gemeinsam zunächst darum gehen muss, die elementaren Grundsätze eines
demokratischen Rechtsstaats wieder aufleben zu lassen.
Noch stehen wir alle gemeinsam am Abgrund und wollen erst mal nichts
weniger, als die Demokratie retten. Erst auf dieser Grundlage wird es
möglich sein, unsere Unterschiede auszudrücken und parteipolitische
Präferenzen auszutragen. Zunächst gilt es also, aus einer zügellosen
Ein-Mann-Herrschaft wieder einen Verfassungsstaat zu machen.
Wird eine neue Regierung politische Gefangene wie Selahattin Demirtaş und
[3][Osman Kavala] freilassen?
Rechtsstaat heißt, dass die Entscheidungen des europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte sofort umgesetzt werden, egal ob sie Demirtaş, Kavala
oder andere Gefangene betreffen. Das ist übrigens auch türkische
Verfassungsvorgabe. Dass Erdoğan sich nicht daran hält, ist ein
Verfassungsbruch. Mit dem Regierungswechsel werden türkische Gerichte
wieder höchstgerichtliche Entscheidungen umsetzen, und zwar schon deswegen,
weil sie nicht mehr von Politikern angewiesen werden, dies nicht zu tun.
Sie sagen, [4][Preiserhöhungen und Armut werden der Hauptgrund für die
Wahlentscheidung] sein. Wie wollen Sie es schaffen, nach einem Wahlsieg
daran schnell etwas zu ändern?
Die Menschen wissen, dass es nicht von heute auf morgen geht. Die Türkei
bietet aufgrund ihrer geostrategischen Lage und einer jungen, relativ gut
ausgebildeten Bevölkerung sehr gute Möglichkeiten für wirtschaftlichen
Aufschwung, nur die Rahmenbedingungen müssen wiederhergestellt werden. Das
bedeutet politische Stabilität, regelbasierte Führung, Transparenz und
volkswirtschaftlicher Verstand. Wir haben die Kompetenz von sehr fähigen,
international anerkannten Wirtschaftsexperten und werden sehr schnell nach
der Wahl mit einer gesunden Wirtschaftspolitik die Weichen stellen.
Ihr Parteichef Ali Babacan galt als Architekt des Wirtschaftsaufschwungs in
den ersten zehn Jahren der AKP-Regierung. Damals überzeugte er den Westen,
die Türkei zu unterstützen. Gibt es die alten Kontakte noch?
Die Kontakte sind da und vor allem sehr aktiv. Aus den vielen Besuchen und
Gesprächen der letzten Monate wissen wir, dass sowohl Investmentfonds als
auch die Politik großes Interesse an der zukünftigen Türkei haben. Die
türkisch-europäischen Beziehungen sind in den letzten Jahren quasi
eingefroren. Egal aus welchem Blickwinkel man es betrachtet, die
gemeinsamen Interessen, Werte und Nöte sind so stark, dass mit einem
Regierungswechsel großer Bedarf an Tatendrang besteht.
Wird sich eine neue Regierung wieder eindeutig nach Westen orientieren?
Ohne Schaukelpolitik zwischen Russland und Europa?
Das Ziel der Vollmitgliedschaft in der EU ist für uns Programm. Für die
neue Regierung wird die Wiederannäherung an die EU prioritäres Ziel sein.
Die Werte des Europarats wie Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte
werden als Leitmotiv für die Türkei wiederaufleben. Auf Grundlage dieser
Werte werden wir natürlich auch unsere wichtigen Beziehungen zu Russland
pflegen.
Hoffen Sie auf ein klares Signal aus Brüssel, beispielsweise die
Visafreiheit für türkische BürgerInnen?
Mir ist klar, dass es aus Brüssel und vielen EU-Ländern Vorbehalte gibt.
Wir müssen auch erst mal die gemeinsam verhandelten Voraussetzungen
erfüllen. Das sollte aber sofort nach dem Regierungswechsel in Angriff
genommen werden. So wie die Lage jetzt ist, wollen fast zwei Drittel
unserer jungen Leute auswandern und ihr Glück in Europa versuchen. Wir
müssen erst einmal dafür sorgen, dass sie auch wieder Perspektiven für ein
gutes Leben in der Türkei sehen. Und wir müssen dafür sorgen, dass niemand
mehr aufgrund politischer Verfolgung das Land verlassen muss.
Womit rechnen Sie, wenn die Opposition verliert und Erdoğan im Amt
bleibt?
Das wäre fatal für alle in der Türkei. Die Wirtschaftskrise würde bisher
nie gesehene Ausmaße annehmen. Die Armut würde zunehmen und zu größeren
sozialen Protesten führen, die Erdoğan bei dem, was er in den letzten
Jahren eingeübt hat, gewaltsam niederschlagen würde. Auf die Türkei würden
Verhältnisse wie in Ägypten zukommen. Die Repressalien würden ausgebaut,
politische Rechte weiter abgebaut, die autokratische Ein-Mann-Herrschaft
fest etabliert werden. Außenpolitisch würde sich die Türkei noch weiter vom
Westen verabschieden und noch stärker in den Einflussbereich von Russland
und China abdriften.
13 May 2023
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## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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