# taz.de -- Türkei-Wahl in Norddeutschland: Zünglein an der Waage | |
> Rund 170.000 Menschen im Norden dürfen noch bis Dienstag für die Wahl in | |
> der Türkei abstimmen. Die Wahl gilt als „Schicksalswahl“, da Erdoğan | |
> kippelt. | |
Bild: Sind noch bis zum 9. Mai zur Wahl aufgerufen: Menschen vor dem Generalkon… | |
HAMBURG taz | Seit dem 27. April können türkische Staatsbürger*innen, die | |
in Deutschland leben, in Konsulaten oder eigens dafür eingerichteten | |
Wahlbüros bei den türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen | |
abstimmen. In Hamburg leben rund 43.000 Volljährige mit türkischem Pass, in | |
Schleswig-Holstein sind es rund 27.000 und in Niedersachsen sind es rund | |
84.000. Im Land Bremen leben rund 23.000 Menschen mit türkischer | |
Staatsangehörigkeit, wie viele davon wahlberechtigt sind, ist unklar. | |
Die Türk*innen im Ausland könnten das Zünglein an der Wage sein. 2018 | |
wählten die rund 1,5 Millionen Türk*innen in Deutschland mit einer | |
Mehrheit von 64,8 Prozent den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, | |
während er in der Türkei nur 52,6 Prozent der Stimmen erhielt. | |
Erdoğan ist seit 20 Jahren im Amt und hat seine Macht in dieser Zeit | |
deutlich ausgebaut. Doch zwei Faktoren scheinen ihn zu schwächen: Da ist | |
zum einen die hohe Inflation – sogar die Regierung sprach zuletzt von 43,68 | |
Prozent. Zum anderen ist da das verheerende Erdbeben vom Februar, für | |
dessen dramatische Folgen Erdoğans AKP-Regierung verantwortlich gemacht | |
wird. Diese hatte vor der Wahl von 2018 zahlreiche Häuser gegen eine Gebühr | |
nachträglich legalisiert, die nicht nach den geltenden Bauvorschriften | |
gebaut worden waren. Bei dem Erdbeben sind insgesamt 32.000 Menschen | |
gestorben. | |
Herausgefordert wird Erdoğan von Kemal Kılıçdaroğlu, dem Kandidaten der | |
sozialdemokratischen Partei CHP. Er ist zugleich der gemeinsame Kandidat | |
eines Bündnisses aus sechs oppositionellen Parteien, die weit über das | |
politische Spektrum verstreut sind. Sie eint der Wunsch, Erdoğan zu | |
entmachten. | |
Çetin Gürer ist Politikwissenschaftler und hat bis 2019 an der Bremer Uni | |
unter anderem über die Türkei geforscht. Er hat ein Komitee zur | |
Wahlbeobachtung eingerichtet und will die Bremer Türk*innen mit einer | |
Website und Social Media Posts über die Wahl informieren. Die Gruppe | |
organisiert außerdem Busse, um Wähler*innen kostenlos zu den Wahllokalen | |
zu bringen. In Bremen, wo bis zum 1. Mai gewählt werden konnte, haben bis | |
dahin 12.200 Menschen ihre Stimme abgegeben, sagt Gürer. Er hofft, dass | |
sich die Wahlbeteiligung noch erhöht, denn er vermutet: „Wenn die | |
Wahlbeteiligung höher ist, dann wird Erdoğan vielleicht abgewählt.“ Wie | |
viele andere bezeichnet auch Gürer die Wahl als „Schicksalswahl“, | |
schließlich könnten sich die Bürger*innen zwischen „Demokratie und | |
Autokratie“ entscheiden. | |
## Aufgeheizte Stimmung | |
Wie aufgeheizt die Stimmung ist, zeigt ein Vorfall vor dem in den | |
Messehallen eingerichteten Wahlbüro in Bremen: Am 1. Mai wurde hier ein | |
21-Jähriger in einer körperlichen Auseinandersetzung mit drei weiteren | |
Männern verletzt und musste mit einer Platzwunde am Kopf im Krankenhaus | |
behandelt werden. Eine Polizeisprecherin sagte, es habe sich laut Aussage | |
des Mannes um eine politische Auseinandersetzung gehandelt. | |
Vor dem türkischen Generalkonsulat in Hamburg, wo auch gewählt werden kann, | |
war die Schlange der Wartenden am Donnerstagmorgen gut 100 Meter lang. | |
Unter den Wahlwilligen waren auch viele Familien mit Kindern. | |
Ein junges Paar ist zur Wahl gekommen, „weil wir das Recht haben zu wählen | |
und das das einzige Land ist, wo wir wählen dürfen“. Für wen sie abstimmen, | |
wollen sie aber lieber nicht erzählen. | |
Andere sind da offener. Eine Gruppe von drei Freundinnen ist gemeinsam zur | |
Wahl gekommen. Sie haben alle Erdoğan gewählt, weil „er es einfach drauf | |
hat, weil er es kann“. „Wir vertrauen ihm“, sagt eine der drei. Und alle | |
sind sich sicher, dass er trotz der stärker werdenden Opposition die Wahl | |
gewinnen wird, weil „er Köpfchen hat“. Wie viele Leute kein Köpfchen | |
hätten, werde man sehen, wenn die Wahl vorbei sei, sagt eine noch. | |
Doch auch Erdoğans Gegner*innen sind am Donnerstag vor dem | |
Generalkonsulat anzutreffen. Zwei Frauen sind gemeinsam zur Wahl gekommen, | |
weil „es dem Land in Zukunft besser gehen soll“. Sie wollen „Freiheit für | |
alle Menschen“ und wählen deshalb Yeşil Sol, die grüne, linke Partei, auf | |
deren Liste auch die Abgeordneten der linken kurdischen Partei HDP stehen. | |
Die beiden sind unzufrieden mit der jetzigen Regierung. „Jetzt ist alles so | |
teuer“, sagt eine und spielt damit auf die Inflation an. Sie hofft, dass | |
bei dieser Wahl „der Diktator abgewählt wird“. | |
Ein verrentetes Paar, dass sowohl die deutsche als auch die türkische | |
Staatsbürgerschaft hat, ist zur Wahl gekommen, weil „die Zeit reif ist für | |
einen Wechsel“. Der jetzige Präsident versuche, „mit allen Mitteln“ zu | |
gewinnen. So hätte er das traditionelle Geschenk von 1.000 türkischen Lira, | |
dass der Staat Rentner*innen zum Zuckerfest auszahle, auf 2.000 Lira | |
erhöht. Beide haben bisher HDP gewählt, wählen nun aber die | |
sozialdemokratische CHP und versprechen sich davon die Chance auf einen | |
Wechsel. Falls das Oppositionsbündnis siegt, glauben sie, dass es schwer | |
wird, die Verhältnisse in der Türkei zu ändern, denn „Erdoğan hat überall | |
seine Macht“. Für Menschen, die den amtierenden Präsidenten wiederwählen, | |
haben sie sogar Verständnis, denn das Gesundheitssystem habe sich in den | |
letzten Jahren verbessert, die Krankenhäuser seien hoch modern. | |
## Werbung für Erdoğan | |
Abseits des Konsulats gibt es in Hamburg auch Auseinandersetzungen um | |
Wahlwerbung. Ausländische Wahlwerbung ist drei Monate vor der Wahl in | |
Deutschland verboten. Dass es diese in Hamburg trotzdem gab, darauf weisen | |
verschiedene Stimmen hin. | |
So soll die Partei Hür Dava Partisi (kurz: Hüda Par) Werbung für Erdoğan | |
gemacht haben. Die Partei soll der verbotenen Türkischen Hizbullah | |
nahestehen – einer islamistischen Organisation, deren Vorbild die iranische | |
Hezbollah ist. Im April war der stellvertretende Vorsitzende der Hüda Par, | |
Mehmet Hüseyin Yilmaz, zu Besuch bei der der türkischsprachigen Zeitung | |
Post Gazetesi in Hamburg und sagte unter anderem: „Als Hüda Par wollen wir, | |
dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan gewählt wird.“ Das berichtete die Post | |
Gazetesi auf Facebook. | |
Die Linken-Abgeordnete Cansu Özdemir hat daraufhin eine Kleine Anfrage an | |
den Senat gestellt, um zu erfahren, welches Wissen der Senat über die | |
Aktivitäten der Hüda Par in Hamburg hat. Die Antwort: Die Partei weise eine | |
„ideologische Schnittmenge zu der Vereinigung „Türkische Hizbullah“ auf. | |
Sie verfüge „jedoch über keine Strukturen in Hamburg“ und werde daher nic… | |
vom Verfassungsschutz beobachtet. | |
Für Özdemir ist das „eine Verharmlosung“. Die Hüda Par sei „extrem | |
gefährlich“ und würde im türkischen Wahlkampf unter anderem „queere | |
Menschen und Frauen zur Zielscheibe“ machen. | |
Der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Kazim Abaci erklärte gegenüber der taz, | |
die „Koordinationsabteilung von Erdoğan“ habe zuletzt letzte Woche eine | |
Wahlkampfveranstaltung in Hamburg abgehalten, die aber nicht als solche | |
deklariert gewesen sei. Auch bei einem von der AKP Hamburg veranstalteten | |
Fastenbrechen sei Wahlwerbung gemacht worden. Erdoğan, dem er bei dieser | |
Wahl eine „kriegsähnliche Rhetorik“ vorwirft, „instrumentalisiert Religi… | |
für Politik“, sagt Abaci. | |
Noch bis zum 9. Mai können türkische Staatsangehörige in Deutschland von | |
ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Danach werden die Wahlurnen in die Türkei | |
gebracht und dort ausgezählt. | |
7 May 2023 | |
## AUTOREN | |
Franziska Betz | |
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