| # taz.de -- Türkische Angriffe auf Kurden in Syrien: Wahl um Leben und Tod | |
| > In Rojava im Nordosten Syriens kämpft die kurdische Selbstverwaltung | |
| > gegen Angriffe der Türkei und des IS. Die Menschen hoffen, dass Erdoğan | |
| > abgewählt wird. | |
| Nordosten Syriens taz | Der Himmel über dem Dorf Gezero im Nordosten | |
| Syriens, nicht weit von der türkischen Grenze, ist still. Kein Surren in | |
| der Luft, kein Donnern, nur ein paar Schäfchenwolken. Vor fünf Monaten war | |
| das anders. „Die Explosion riss uns aus dem Schlaf“, sagt Wadha Mohammad | |
| Kasim, 47 Jahre alt, blau gemustertes Kopftuch und lilafarbene Strickjacke. | |
| Sie hockt in einem kleinen, schlecht verputzten Haus. Auf den Sitzmatten | |
| vor ihr ihre acht Kinder, fünf Töchter, drei Söhne, der Älteste, Jwan, ist | |
| gerade 19 geworden. Einer aus der Familie fehlt: der Vater. | |
| Überlebensgroß hängt sein Porträt an der Wand. Ein Mann in weißem | |
| Poloshirt, eine dicke Brille mit dünnem schwarzen Rand, ein Muttermal über | |
| dem rechten Mundwinkel. Der Hintergrund des Posters ist grün, rot und gelb, | |
| die Farben Kurdistans. Darunter steht: Şehîd Fayz Ebdulah – Märtyrer Fayz | |
| Ebdulah. „Wir hatten ein bescheidenes, aber ein gutes Leben“, sagt Wadha | |
| Kasim. „Aber seit die Türkei ihn ermordet hat, ist unser Leben zur | |
| Katastrophe geworden.“ | |
| Gestorben ist Fayz Ebdulah am 20. November 2022. Getötet von türkischen | |
| Raketen. Als Vergeltung für einen Anschlag mehr als 1.200 Kilometer | |
| entfernt von seinem Heimatdorf. | |
| Eine Woche vor dem Tod des Familienvaters hatte es [1][in Istanbul einen | |
| Terroranschlag gegeben]. 81 Menschen waren bei der Explosion auf der | |
| bekannten Straße İstiklal Caddesi verletzt worden, sechs Menschen starben. | |
| Die türkischen Behörden präsentierten sofort eine Schuldige: eine syrische | |
| Frau, die bei der Befragung angegeben haben soll, von militanten Kurden in | |
| Syrien ausgebildet worden zu sein. | |
| Hinter dem Anschlag, hieß es von den türkischen Behörden, stehe die YPG, | |
| eine kurdische Miliz, die als Teil der [2][SDF („Syrian Democratic | |
| Forces“)] den Nordosten Syriens kontrolliert. Die YPG steht der kurdischen | |
| Arbeiterpartei PKK nahe – jener Gruppe, die in der Türkei und bei einigen | |
| ihrer westlichen Verbündeten wie den USA und der EU als Terrororganisation | |
| eingestuft wird. | |
| Es gibt erhebliche Zweifel an der Darstellung der türkischen Behörden. Ein | |
| Bekennerschreiben, wie bei früheren Anschlägen, habe es nicht gegeben. PKK | |
| und YPG bestreiten bis heute, in den Anschlag involviert gewesen zu sein. | |
| Trotzdem begann die türkische Armee eine Woche nach dem Anschlag mit einem | |
| Vergeltungsfeldzug gegen die Kurden, die Operation „Klauenschwert“. | |
| Ein Sprecher des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan schrieb auf | |
| Twitter, die Zeit der Abrechnung sei gekommen. Erdoğan selbst sagte kurz | |
| darauf auf dem G20-Gipfel in Bali: „Wer die Terrororganisation unter dem | |
| Vorwand des Kampfes gegen den IS unterstützt, beteiligt sich auch am | |
| Blutvergießen bei Istanbuls jüngstem Terroranschlag.“ | |
| Eine Warnung, die sich offensichtlich an die westlichen Verbündeten der | |
| Kurden in Syrien richtete. Denn obgleich die PKK in den USA als | |
| Terrororganisation eingestuft wird, unterstützt das US-Militär die | |
| kurdischen Einheiten seit 2014 im Kampf gegen den sogenannten Islamischen | |
| Staat (IS). | |
| Schließlich waren die Kurden und ihre Verbündeten die einzigen, die sich | |
| dem Vormarsch der islamistischen Extremisten widersetzten, nachdem sich das | |
| Assad-Regime 2013 komplett aus den Gebieten im Nordosten Syriens | |
| zurückgezogen hatte. | |
| Bereits ab 2012 hatten kurdische Kräfte das Gebiet, das die Kurden Rojava | |
| nennen, de facto autonom verwaltet. Nachdem der IS 2018 so gut wie besiegt | |
| war, wurde die [3][„Autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien“ (AANES)] | |
| ausgerufen. Diese erstreckt sich inzwischen über ein Drittel des syrischen | |
| Territoriums, auf dem fast fünf Millionen Menschen leben. International | |
| anerkannt ist sie nicht. Vor allem der Türkei ist die Selbstverwaltung ein | |
| Dorn im Auge. | |
| Schon in der Vergangenheit waren Angriffe auf Kurden in Syrien und | |
| Nordirak ein Mittel, um von innerpolitischen Problemen in der Türkei | |
| abzulenken. [4][Am 14. Mai will Erdoğan nun erneut zum Präsidenten gewählt | |
| werden.] Selten waren seine Umfragewerte so schlecht wie jetzt. | |
| Auch vor unserer Reise nach Rojava im Februar ist die Lage in Nordostsyrien | |
| angespannt, wir werden vor einer möglichen türkischen Invasion gewarnt. | |
| Doch dann passiert etwas Unvorhergesehenes: Am 6. Februar erschüttert ein | |
| Erdbeben der Stärke 7,8 den Süden der Türkei und den Nordwesten Syriens. | |
| Der Nordosten des Landes bleibt größtenteils verschont. Die Witwe Wadha | |
| Mohammad Kasim sagt: „Ich glaube, das Erdbeben war eine Rache Gottes.“ | |
| 30 Autominuten von ihrem Haus entfernt, dort, wo der Boden wegen des Erdöls | |
| faulig riecht und sich dünne Rohre wie endlos lange Anakondas durch die | |
| Landschaft schlängeln, ist die Zerstörung des letzten türkischen Angriffs | |
| noch sichtbar. Zwischen den verkohlten Strommasten und dem Schutt des | |
| Steuergebäudes eines kleinen Elektrizitätswerks bauen drei junge Männer an | |
| einem neuen Häuschen. | |
| ## Keine Aufzeichnungen über Angriffe | |
| Wadha Mohammad Kasim erinnert sich genau an die Nacht, die ihr Leben für | |
| immer verändert hat, die Nacht vom 19. auf den 20. November 2022. Gegen | |
| Mitternacht hörten sie und ihr Mann in der Ferne einen lauten | |
| Raketeneinschlag. Gemeinsam mit anderen aus dem Dorf sei ihr Mann mit dem | |
| Auto aufgebrochen nach Teqil Beqil, wo das Elektrizitätswerk stand, um | |
| nachzusehen, was passiert war. Und um gegebenenfalls den Verletzten zu | |
| helfen. „Als er gegangen ist, hat er gesagt: Bleibt im Haus, es ist kalt | |
| draußen. Ich bin bald zurück.“ | |
| Wadha Kasims Stimme stockt, als sie davon erzählt. Eine einzelne Träne | |
| rollt ihre Wange hinab. Ihr Mann kam in dieser Nacht nicht mehr zurück. Und | |
| auch am nächsten Morgen nicht. | |
| Als er gemeinsam mit anderen Freiwilligen in Teqil Beqil eintraf, fanden | |
| sie die zerstörte Station vor, einen Toten, einen Verletzten – und mehrere | |
| Fahrzeuge des US-Militärs. So erzählen es Augenzeugen der taz. Während die | |
| Helfer:innen mit der Bergung der Versehrten begannen, griff die Türkei | |
| erneut an. Drei weitere Raketen schlugen vor Ort ein. Sie trafen zwei | |
| zivile Autos. In einem saß Fayz Ebdulah. Insgesamt starben in dieser Nacht | |
| 11 Menschen. Die Fahrzeuge des US-Militärs hätten den Ort verlassen, ohne | |
| zu helfen, berichten Augenzeugen später. | |
| Auf Anfrage der taz teilt ein Sprecher des US-Militärs mit, dass sie die | |
| Einsatzdaten für diese Nacht überprüft hätten. Es gebe keine Aufzeichnungen | |
| darüber, dass sich Soldaten der US-geführten Koalition vor Ort befunden | |
| hätten. | |
| Wie so viele Kurden in Nordostsyrien versteht die Witwe Wadha Mohammad | |
| Kasim die Rolle der USA nicht wirklich: Einerseits hätten sie in der Region | |
| immer noch 900 Soldaten stationiert und würden behaupten, sie unterstützten | |
| die regionalen Truppen beim Kampf gegen den IS. Zugleich hat der | |
| US-Kongress im Januar aber der Lieferung von F16-Kampfjets an die Türkei | |
| zugestimmt – unter der Bedingung, dass die Türkei grünes Licht für die | |
| NATO-Beitritte von Finnland und Schweden gibt. Mittlerweile ist Finnland in | |
| der Nato, bei Schweden blockiert die Türkei weiter. | |
| Ein harter Einschnitt im Verhältnis zwischen den Kurden und den USA war | |
| 2019. Damals entschied der damalige US-Präsident Donald Trump ziemlich | |
| abrupt, einen Großteil des US-Truppenkontingents aus Rojava abzuziehen. | |
| Wenige Tage nach dem Teilabzug überfiel die Türkei die Städte Serê Kaniyê | |
| (arabisch: Ras al-Ain) und Girê Sipî (Tell Abyad) an der türkisch-syrischen | |
| Grenze. | |
| Das Ziel, so formulierte es Erdoğan damals auch vor der UN in New York: | |
| eine 30 Kilometer breite „Friedenszone“ zwischen kurdischer | |
| Selbstverwaltung und der Türkei zu errichten, als Pufferzone gegen die | |
| Kurden. | |
| Ein Gebiet, das Erdoğan auch dazu nutzen möchte, syrische Flüchtlinge – | |
| mehr als 3,5 Millionen sollen derzeit in der Türkei leben – anzusiedeln und | |
| somit im Wahlkampf zwei Streitfragen abzuräumen: das „Kurdenproblem“ und | |
| das „Flüchtlingsproblem“. | |
| Bei dem türkischen Angriff 2019 starben 679 Menschen, etwa 200.000 mussten | |
| fliehen. Mindestens 750 mutmaßliche IS-Anhänger:innen, die zuvor | |
| gefangengenommen worden waren, konnten aus den von Kurden bewachten Lagern | |
| entkommen. Nach Angaben der NGO Crisis Group fanden in den vergangenen | |
| Jahren viele der ausländischen IS-Kämpfer in der Türkei Unterschlupf. | |
| ## Ein Krieg an zwei Fronten | |
| Kortay Korkmaz ist einer der Kommandeure der Anti-Terroreinheiten der SDF, | |
| 34 Jahre ist er alt. Wir treffen ihn auf einem Militärgelände in der Region | |
| Hassakeh, das aus Sicherheitsgründen nicht näher beschrieben werden soll. | |
| Von dem dreistöckigen Gebäude blättert grauer Putz ab, davor hat ein beiger | |
| Humvee geparkt, den die USA geliefert haben. Immer wieder sind in der Ferne | |
| dumpfe Explosionen zu hören. „Keine Sorge, die trainieren nur“, sagt | |
| Korkmaz. | |
| „Wir führen de facto einen Krieg an zwei Fronten – gegen die weltgrößte | |
| Terrororganisation und gegen einen der militärisch mächtigsten Staaten der | |
| Welt. Wie soll eine kleine Truppe wie unsere, sei sie noch so tapfer, das | |
| schaffen?“, fragt Korkmaz. Trotzdem versucht er, zuversichtlich zu wirken, | |
| wenn er erzählt. | |
| Er war Student, als 2011 der Krieg in Syrien ausbrach und er sich den | |
| kurdischen Selbstverteidungseinheiten anschloss. Raqqa, Tabqa, Manbij, | |
| Kobane, Afrin. Es gibt kaum einen Ort im Nordosten des Landes, an dem | |
| Korkmaz nicht gegen den IS gekämpft hat. Die letzte große Schlacht ist | |
| etwas länger als ein Jahr her. Damals hatten IS-Anhänger das IS-Gefängnis | |
| in der kurdischen Stadt Hassakeh angegriffen. Anschließend gab es einen | |
| zehntägigen Häuserkampf in der Region. IS-Kämpfer hatten sich in | |
| Wohnsiedlungen verschanzt und Kinder als menschliche Schutzschilde benutzt. | |
| Während der Kämpfe starben laut Angaben der SDF 121 Mitglieder der | |
| Selbstverteidigungseinheiten – und 374 mutmaßliche IS-Kämpfer. | |
| Selbst während dieser Kämpfe hätten die Angriffe der Türkei nicht | |
| aufgehört, erzählt Korkmaz. „Wenn es der Welt ernst ist mit ihrem Kampf | |
| gegen den Terror, dann brauchen wir Unterstützung und jemanden, der uns vor | |
| den türkischen Angriffen, vor allem vor den Drohnen, schützt.“ | |
| Erst Anfang April hatte es in Suleimaniyya im Nordirak einen weiteren | |
| Drohnenangriff auf den Konvoi des SDF-Führers Mazloum Abdi gegeben. Auch | |
| drei US-Soldaten waren Teil der Gruppe. Getötet wurde dabei niemand. Der | |
| Irak und die Kurden machen die Türkei für den Angriff verantwortlich. | |
| Korkmaz klappt seinen Laptop auf. Er will uns ein Video des kurdischen | |
| Senders Ronahi TV zeigen. Es wurde nach dem IS-Angriff auf das Gefängnis in | |
| Hassakeh aufgenommen, bei dem der IS versuchte, Kämpfer zu befreien. | |
| Das Video auf dem Laptop zeigt Interviews mit mutmaßlichen IS-Kämpfern, die | |
| von den SDF festgenommen wurden. Der kurdische Sender nimmt die | |
| Whatsapp-Verläufe der Gefangenen ins Bild: Sie beinhalten unter anderem ein | |
| Foto von Korkmaz, neben seinem Bild stehen sein Name und die Beschreibung | |
| seines Autos. „Angeblich haben sie diese Informationen aus der Türkei | |
| bekommen“, sagt Korkmaz. Für ihn ist es der Beleg, dass die Türkei und der | |
| IS auch direkt zusammenarbeiten. | |
| Neu sind die Vorwürfe nicht. 2016 hatte die türkische Zeitung | |
| [5][Cumhuriyet] um den damaligen Chefredakteur Can Dündar berichtet, dass | |
| der türkische Geheimdienst Waffen an Islamistische Gruppen in Syrien | |
| geliefert haben soll. Dündar ist 2016 nach Deutschland geflohen. Vor zwei | |
| Jahren wurde er wegen „Spionage“ und „Terrorunterstützung“ in Abwesenh… | |
| zu 27 Jahren Haft verurteilt. | |
| Die Türkei hat die Vorwürfe, den IS zu unterstützen, in der Vergangenheit | |
| immer bestritten. Auf Anfragen der taz reagierten weder das türkische | |
| Außenministerium noch die Botschaft in Deutschland. | |
| Selbst wenn es keine direkten Verbindungen zwischen der Türkei und dem IS | |
| geben sollte, so scheinen ihre Ziele in Syrien doch übereinzustimmen: Beide | |
| wollen die Selbstverwaltung schwächen – und sie so früher oder später zu | |
| Fall bringen. Wim Zwijnenburg von der niederländischen Friedensorganisation | |
| PAX, die seit Jahren in der Region aktiv ist, sagt: „Ich glaube nicht | |
| unbedingt, dass es das Ziel der Türkei ist, erneut in Syrien | |
| einzumarschieren.“ Die Türkei verfolge eine Strategie der Kriegsführung mit | |
| geringer Intensität. „Damit erreichen sie genau das, was sie wollen.“ | |
| Aufgrund der ständigen Bedrohung sehe sich die Selbstverwaltung gezwungen, | |
| die wenigen vorhandenen Ressourcen, die sie vor allem durch Ölförderung | |
| generiert, für militärische Zwecke und Verteidigung auszugeben. | |
| Die Gelder würden beim Wiederaufbau ziviler Infrastruktur fehlen. Und da | |
| Rojava nicht als eigenständiger Staat anerkannt sei, gebe es auch keine | |
| Wiederaufbauhilfen der Vereinten Nationen. | |
| Wir waren das letzte Mal vor eineinhalb Jahren vor Ort in Rojava. Seitdem | |
| sind die blauen Schriftzüge auf den Häusern, auf denen in arabischen | |
| Lettern „zu verkaufen“ steht, mehr geworden. Die Dürre schreitet voran. Die | |
| Felder der Bauern liegen brach, weil der Regen ausbleibt – und weil die | |
| Türkei Rojava Wasserzuflüsse wie den Euphrat blockiert. Immer mehr Menschen | |
| erzählen uns, sie würden weggehen, wenn sie es sich nur irgendwie leisten | |
| könnten. | |
| ## Wasser wird in der Region zur Waffe | |
| Es sind Menschen, die nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll – Menschen | |
| wie Fahima Hussein Hassan, 38. Sie ist 2019 wie viele andere vor den | |
| türkischen Angriffen aus Serê Kaniyê geflohen. Acht Monate lang war sie mit | |
| ihrem kranken Mann, einer Herde Schafe und ihren fünf Kindern auf der | |
| Flucht. Bis sie schließlich im Flüchtlingscamp Washokani, nahe der Stadt | |
| Hassakeh, strandeten. Ihr jüngster Sohn, Marwan, zwei Jahre alt, wurde erst | |
| im Camp geboren – und wäre fast hier gestorben. | |
| Fahima Hassan erinnert sich im Gespräch an diese Nacht im Januar. Wie immer | |
| pfiff der kalte Wind durch die Ritzen in der zerschlissenen Zeltplane. | |
| Marwan und seine Geschwister hatten schon seit einigen Tagen an Durchfall | |
| gelitten. In dieser Nacht fing der Kleine an, zu zittern und zu glühen. | |
| Seine Lippen hätten gebebt, die Glieder gekrampft, die Augen hätten sich | |
| verdreht, so dass nur noch das Weiße zu sehen gewesen sei. | |
| Der Bruder ihres Mannes sei gekommen. Sie hätten ein Taxi gerufen, seien | |
| ins Krankenhaus gefahren. Im Krankenhaus hätten sie Marwan Infusionen | |
| gegeben. Die Diagnose: Cholera. | |
| Etwa 100.000 Menschen sind seit August 2022 in Syrien Schätzungen der UN | |
| zufolge an Cholera erkrankt. Rund die Hälfte davon im Nordosten des Landes. | |
| Den Grund dafür sehen Gesundheitsexpert:innen im Wassermangel, der | |
| dazu führe, dass die Qualität des Wassers schlechter werde. Dass sich | |
| wasserbedingte Krankheiten wie Cholera schneller verbreiten. | |
| „Ich versuche das Wasser, das wir bekommen, immer abzukochen. Oft schwimmen | |
| Dreck oder kleine Würmer darin“, sagt Fahima Hassan. | |
| Das Wasser bekommen die Menschen im Washokani-Camp aus Wassertrucks, die es | |
| von den Brunnen vor den Toren der Stadt holen. Seit die Milizen der | |
| pro-türkischen SNA die Grundwasserpumpstation in der Region besetzt halten | |
| und den Wasserzufluss gekappt haben, der die Region früher mit sauberem | |
| Trinkwasser versorgt hat, sind die Menschen auf das Brunnenwasser | |
| angewiesen. | |
| Die SDF beklagen, die Türkei würde selbst das Wasser als Waffe einsetzen. | |
| „Ich fühle mich schlecht, wenn ich meinen Kindern Wasser zu trinken gebe, | |
| weil ich fürchte, dass es sie krank macht“, sagt Fahima Hassan. Wie viele | |
| im Camp hatte Fahima Hassan einst große Hoffnungen in die Autonome | |
| Selbstverwaltung gesetzt. Wie viele ist sie enttäuscht worden. Wie so viele | |
| gibt sie dafür vor allem einem Mann die Schuld: Recep Tayyip Erdoğan. | |
| Geht es nach SDF-Kommandeur Kortay Korkmaz, gibt es neben dem IS und der | |
| Türkei aber noch eine dritte Gefahr für die Selbstverwaltung: das syrische | |
| Regime. In der Vergangenheit gab es kaum Konfrontationen zwischen | |
| Selbstverwaltung und syrischer Armee. Die SDF sind in ein Machtvakuum | |
| gestochen, das das Regime nach seinem Abzug hinterlassen hatte. Doch das | |
| könnte sich in Zukunft ändern. Das Erdbeben, das Erdoğans Wahlsieg zu | |
| gefährden droht, scheint dem syrischen Diktator Bashar al-Assad vor allem | |
| Aufwind gegeben zu haben. | |
| Die Gespräche über internationale Hilfe nutzte er als Möglichkeit, sich | |
| Staaten wie Ägypten und Jordanien wieder anzunähern, sowie den reichen | |
| Golfstaaten Saudi Arabien und Katar, die lange Zeit als Unterstützer der | |
| syrischen Opposition im Exil galten. Gleichzeitig finden seit Ende | |
| vergangenen Jahres Gespräche zwischen Vertretern Syriens und der Türkei | |
| statt: Im Dezember hatten sich die Verteidigungsminister mit ihrem | |
| russischen Amtskollegen in Moskau getroffen, im Januar dann die | |
| Außenminister. Und wäre das Erdbeben nicht gewesen, wäre es vielleicht auch | |
| schon zum Treffen der zwei ehemals verfeindeten Autokraten Assad und | |
| Erdoğan gekommen. | |
| Obwohl sie sich lange Zeit an unterschiedlichen Fronten gegenüberstanden, | |
| verfolgen beide inzwischen ähnliche Interessen in Syrien, die sie bei einer | |
| Annäherung realisieren könnten: Zum einen die Rückführung der 3,5 Millionen | |
| syrischen Flüchtlinge aus der Türkei – und zum anderen die Zerschlagung der | |
| Selbstverwaltung und die Eingliederung der SDF in die syrische Armee. Das | |
| Erdbeben hat die Annäherung der beiden Staaten vorerst aufgehalten. | |
| Für viele Menschen in Rojava ist das eine große Erleichterung. Die Wahlen | |
| in der Türkei sind die einzige Hoffnung, die Angriffe zu stoppen. Wenige | |
| Wochen vor der Wahl sind die Umfragen so eng wie seit Jahren nicht. Erdoğan | |
| selbst liegt laut Meinungsforschungsinstitut ORC bei 44 Prozent der Stimmen | |
| – Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP, der ein Oppositionsbünd… | |
| aus sechs Parteien anführt, bei 48 Prozent. Die pro-kurdische | |
| linksgerichtete HDP ist nicht Teil des Bündnisses, hatte aber zuletzt | |
| angekündigt, keine eigene Kandidatin ins Rennen schicken zu wollen, um | |
| Erdogans Ein-Mann-Herrschaft zu beenden. | |
| Das Leben der Witwe Wadha Mohammad Kasim hat sich seit dem Tod ihres Mannes | |
| um 180 Grad gedreht. Ihr 19-jähriger Sohn hat die Uni geschmissen, ist | |
| zurück nach Hause gezogen, hat sich Arbeit gesucht, um die Familie zu | |
| ernähren, weil die Witwenrente dazu nicht ausreicht. Wadha Kasim sagt, sie | |
| bete dafür, dass Erdoğan im Mai abgewählt werde. | |
| Das sei ihre einzige Hoffnung, sagt sie, dass „das sinnlose Sterben von uns | |
| Kurden“ ein Ende nimmt. | |
| Die Recherche wurde vom Europäischen Journalistenzentrum im Rahmen des | |
| Global Health Security Call mitfinanziert, unterstützt von der Bill & | |
| Melinda Gates Foundation. | |
| Mitarbeit: Shaveen Mohammad | |
| 9 May 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Terroranschlag-in-Istanbul/!5892138 | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratische_Kr%C3%A4fte_Syriens | |
| [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Rojava | |
| [4] /Wahlen-in-der-Tuerkei/!5928729 | |
| [5] https://www.cumhuriyet.com.tr/ | |
| ## AUTOREN | |
| Bartholomäus von Laffert | |
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