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# taz.de -- Türkische Angriffe auf Kurden in Syrien: Wahl um Leben und Tod
> In Rojava im Nordosten Syriens kämpft die kurdische Selbstverwaltung
> gegen Angriffe der Türkei und des IS. Die Menschen hoffen, dass Erdoğan
> abgewählt wird.
Nordosten Syriens taz | Der Himmel über dem Dorf Gezero im Nordosten
Syriens, nicht weit von der türkischen Grenze, ist still. Kein Surren in
der Luft, kein Donnern, nur ein paar Schäfchenwolken. Vor fünf Monaten war
das anders. „Die Explosion riss uns aus dem Schlaf“, sagt Wadha Mohammad
Kasim, 47 Jahre alt, blau gemustertes Kopftuch und lilafarbene Strickjacke.
Sie hockt in einem kleinen, schlecht verputzten Haus. Auf den Sitzmatten
vor ihr ihre acht Kinder, fünf Töchter, drei Söhne, der Älteste, Jwan, ist
gerade 19 geworden. Einer aus der Familie fehlt: der Vater.
Überlebensgroß hängt sein Porträt an der Wand. Ein Mann in weißem
Poloshirt, eine dicke Brille mit dünnem schwarzen Rand, ein Muttermal über
dem rechten Mundwinkel. Der Hintergrund des Posters ist grün, rot und gelb,
die Farben Kurdistans. Darunter steht: Şehîd Fayz Ebdulah – Märtyrer Fayz
Ebdulah. „Wir hatten ein bescheidenes, aber ein gutes Leben“, sagt Wadha
Kasim. „Aber seit die Türkei ihn ermordet hat, ist unser Leben zur
Katastrophe geworden.“
Gestorben ist Fayz Ebdulah am 20. November 2022. Getötet von türkischen
Raketen. Als Vergeltung für einen Anschlag mehr als 1.200 Kilometer
entfernt von seinem Heimatdorf.
Eine Woche vor dem Tod des Familienvaters hatte es [1][in Istanbul einen
Terroranschlag gegeben]. 81 Menschen waren bei der Explosion auf der
bekannten Straße İstiklal Caddesi verletzt worden, sechs Menschen starben.
Die türkischen Behörden präsentierten sofort eine Schuldige: eine syrische
Frau, die bei der Befragung angegeben haben soll, von militanten Kurden in
Syrien ausgebildet worden zu sein.
Hinter dem Anschlag, hieß es von den türkischen Behörden, stehe die YPG,
eine kurdische Miliz, die als Teil der [2][SDF („Syrian Democratic
Forces“)] den Nordosten Syriens kontrolliert. Die YPG steht der kurdischen
Arbeiterpartei PKK nahe – jener Gruppe, die in der Türkei und bei einigen
ihrer westlichen Verbündeten wie den USA und der EU als Terrororganisation
eingestuft wird.
Es gibt erhebliche Zweifel an der Darstellung der türkischen Behörden. Ein
Bekennerschreiben, wie bei früheren Anschlägen, habe es nicht gegeben. PKK
und YPG bestreiten bis heute, in den Anschlag involviert gewesen zu sein.
Trotzdem begann die türkische Armee eine Woche nach dem Anschlag mit einem
Vergeltungsfeldzug gegen die Kurden, die Operation „Klauenschwert“.
Ein Sprecher des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan schrieb auf
Twitter, die Zeit der Abrechnung sei gekommen. Erdoğan selbst sagte kurz
darauf auf dem G20-Gipfel in Bali: „Wer die Terrororganisation unter dem
Vorwand des Kampfes gegen den IS unterstützt, beteiligt sich auch am
Blutvergießen bei Istanbuls jüngstem Terroranschlag.“
Eine Warnung, die sich offensichtlich an die westlichen Verbündeten der
Kurden in Syrien richtete. Denn obgleich die PKK in den USA als
Terrororganisation eingestuft wird, unterstützt das US-Militär die
kurdischen Einheiten seit 2014 im Kampf gegen den sogenannten Islamischen
Staat (IS).
Schließlich waren die Kurden und ihre Verbündeten die einzigen, die sich
dem Vormarsch der islamistischen Extremisten widersetzten, nachdem sich das
Assad-Regime 2013 komplett aus den Gebieten im Nordosten Syriens
zurückgezogen hatte.
Bereits ab 2012 hatten kurdische Kräfte das Gebiet, das die Kurden Rojava
nennen, de facto autonom verwaltet. Nachdem der IS 2018 so gut wie besiegt
war, wurde die [3][„Autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien“ (AANES)]
ausgerufen. Diese erstreckt sich inzwischen über ein Drittel des syrischen
Territoriums, auf dem fast fünf Millionen Menschen leben. International
anerkannt ist sie nicht. Vor allem der Türkei ist die Selbstverwaltung ein
Dorn im Auge.
Schon in der Vergangenheit waren Angriffe auf Kurden in Syrien und
Nordirak ein Mittel, um von innerpolitischen Problemen in der Türkei
abzulenken. [4][Am 14. Mai will Erdoğan nun erneut zum Präsidenten gewählt
werden.] Selten waren seine Umfragewerte so schlecht wie jetzt.
Auch vor unserer Reise nach Rojava im Februar ist die Lage in Nordostsyrien
angespannt, wir werden vor einer möglichen türkischen Invasion gewarnt.
Doch dann passiert etwas Unvorhergesehenes: Am 6. Februar erschüttert ein
Erdbeben der Stärke 7,8 den Süden der Türkei und den Nordwesten Syriens.
Der Nordosten des Landes bleibt größtenteils verschont. Die Witwe Wadha
Mohammad Kasim sagt: „Ich glaube, das Erdbeben war eine Rache Gottes.“
30 Autominuten von ihrem Haus entfernt, dort, wo der Boden wegen des Erdöls
faulig riecht und sich dünne Rohre wie endlos lange Anakondas durch die
Landschaft schlängeln, ist die Zerstörung des letzten türkischen Angriffs
noch sichtbar. Zwischen den verkohlten Strommasten und dem Schutt des
Steuergebäudes eines kleinen Elektrizitätswerks bauen drei junge Männer an
einem neuen Häuschen.
## Keine Aufzeichnungen über Angriffe
Wadha Mohammad Kasim erinnert sich genau an die Nacht, die ihr Leben für
immer verändert hat, die Nacht vom 19. auf den 20. November 2022. Gegen
Mitternacht hörten sie und ihr Mann in der Ferne einen lauten
Raketeneinschlag. Gemeinsam mit anderen aus dem Dorf sei ihr Mann mit dem
Auto aufgebrochen nach Teqil Beqil, wo das Elektrizitätswerk stand, um
nachzusehen, was passiert war. Und um gegebenenfalls den Verletzten zu
helfen. „Als er gegangen ist, hat er gesagt: Bleibt im Haus, es ist kalt
draußen. Ich bin bald zurück.“
Wadha Kasims Stimme stockt, als sie davon erzählt. Eine einzelne Träne
rollt ihre Wange hinab. Ihr Mann kam in dieser Nacht nicht mehr zurück. Und
auch am nächsten Morgen nicht.
Als er gemeinsam mit anderen Freiwilligen in Teqil Beqil eintraf, fanden
sie die zerstörte Station vor, einen Toten, einen Verletzten – und mehrere
Fahrzeuge des US-Militärs. So erzählen es Augenzeugen der taz. Während die
Helfer:innen mit der Bergung der Versehrten begannen, griff die Türkei
erneut an. Drei weitere Raketen schlugen vor Ort ein. Sie trafen zwei
zivile Autos. In einem saß Fayz Ebdulah. Insgesamt starben in dieser Nacht
11 Menschen. Die Fahrzeuge des US-Militärs hätten den Ort verlassen, ohne
zu helfen, berichten Augenzeugen später.
Auf Anfrage der taz teilt ein Sprecher des US-Militärs mit, dass sie die
Einsatzdaten für diese Nacht überprüft hätten. Es gebe keine Aufzeichnungen
darüber, dass sich Soldaten der US-geführten Koalition vor Ort befunden
hätten.
Wie so viele Kurden in Nordostsyrien versteht die Witwe Wadha Mohammad
Kasim die Rolle der USA nicht wirklich: Einerseits hätten sie in der Region
immer noch 900 Soldaten stationiert und würden behaupten, sie unterstützten
die regionalen Truppen beim Kampf gegen den IS. Zugleich hat der
US-Kongress im Januar aber der Lieferung von F16-Kampfjets an die Türkei
zugestimmt – unter der Bedingung, dass die Türkei grünes Licht für die
NATO-Beitritte von Finnland und Schweden gibt. Mittlerweile ist Finnland in
der Nato, bei Schweden blockiert die Türkei weiter.
Ein harter Einschnitt im Verhältnis zwischen den Kurden und den USA war
2019. Damals entschied der damalige US-Präsident Donald Trump ziemlich
abrupt, einen Großteil des US-Truppenkontingents aus Rojava abzuziehen.
Wenige Tage nach dem Teilabzug überfiel die Türkei die Städte Serê Kaniyê
(arabisch: Ras al-Ain) und Girê Sipî (Tell Abyad) an der türkisch-syrischen
Grenze.
Das Ziel, so formulierte es Erdoğan damals auch vor der UN in New York:
eine 30 Kilometer breite „Friedenszone“ zwischen kurdischer
Selbstverwaltung und der Türkei zu errichten, als Pufferzone gegen die
Kurden.
Ein Gebiet, das Erdoğan auch dazu nutzen möchte, syrische Flüchtlinge –
mehr als 3,5 Millionen sollen derzeit in der Türkei leben – anzusiedeln und
somit im Wahlkampf zwei Streitfragen abzuräumen: das „Kurdenproblem“ und
das „Flüchtlingsproblem“.
Bei dem türkischen Angriff 2019 starben 679 Menschen, etwa 200.000 mussten
fliehen. Mindestens 750 mutmaßliche IS-Anhänger:innen, die zuvor
gefangengenommen worden waren, konnten aus den von Kurden bewachten Lagern
entkommen. Nach Angaben der NGO Crisis Group fanden in den vergangenen
Jahren viele der ausländischen IS-Kämpfer in der Türkei Unterschlupf.
## Ein Krieg an zwei Fronten
Kortay Korkmaz ist einer der Kommandeure der Anti-Terroreinheiten der SDF,
34 Jahre ist er alt. Wir treffen ihn auf einem Militärgelände in der Region
Hassakeh, das aus Sicherheitsgründen nicht näher beschrieben werden soll.
Von dem dreistöckigen Gebäude blättert grauer Putz ab, davor hat ein beiger
Humvee geparkt, den die USA geliefert haben. Immer wieder sind in der Ferne
dumpfe Explosionen zu hören. „Keine Sorge, die trainieren nur“, sagt
Korkmaz.
„Wir führen de facto einen Krieg an zwei Fronten – gegen die weltgrößte
Terrororganisation und gegen einen der militärisch mächtigsten Staaten der
Welt. Wie soll eine kleine Truppe wie unsere, sei sie noch so tapfer, das
schaffen?“, fragt Korkmaz. Trotzdem versucht er, zuversichtlich zu wirken,
wenn er erzählt.
Er war Student, als 2011 der Krieg in Syrien ausbrach und er sich den
kurdischen Selbstverteidungseinheiten anschloss. Raqqa, Tabqa, Manbij,
Kobane, Afrin. Es gibt kaum einen Ort im Nordosten des Landes, an dem
Korkmaz nicht gegen den IS gekämpft hat. Die letzte große Schlacht ist
etwas länger als ein Jahr her. Damals hatten IS-Anhänger das IS-Gefängnis
in der kurdischen Stadt Hassakeh angegriffen. Anschließend gab es einen
zehntägigen Häuserkampf in der Region. IS-Kämpfer hatten sich in
Wohnsiedlungen verschanzt und Kinder als menschliche Schutzschilde benutzt.
Während der Kämpfe starben laut Angaben der SDF 121 Mitglieder der
Selbstverteidigungseinheiten – und 374 mutmaßliche IS-Kämpfer.
Selbst während dieser Kämpfe hätten die Angriffe der Türkei nicht
aufgehört, erzählt Korkmaz. „Wenn es der Welt ernst ist mit ihrem Kampf
gegen den Terror, dann brauchen wir Unterstützung und jemanden, der uns vor
den türkischen Angriffen, vor allem vor den Drohnen, schützt.“
Erst Anfang April hatte es in Suleimaniyya im Nordirak einen weiteren
Drohnenangriff auf den Konvoi des SDF-Führers Mazloum Abdi gegeben. Auch
drei US-Soldaten waren Teil der Gruppe. Getötet wurde dabei niemand. Der
Irak und die Kurden machen die Türkei für den Angriff verantwortlich.
Korkmaz klappt seinen Laptop auf. Er will uns ein Video des kurdischen
Senders Ronahi TV zeigen. Es wurde nach dem IS-Angriff auf das Gefängnis in
Hassakeh aufgenommen, bei dem der IS versuchte, Kämpfer zu befreien.
Das Video auf dem Laptop zeigt Interviews mit mutmaßlichen IS-Kämpfern, die
von den SDF festgenommen wurden. Der kurdische Sender nimmt die
Whatsapp-Verläufe der Gefangenen ins Bild: Sie beinhalten unter anderem ein
Foto von Korkmaz, neben seinem Bild stehen sein Name und die Beschreibung
seines Autos. „Angeblich haben sie diese Informationen aus der Türkei
bekommen“, sagt Korkmaz. Für ihn ist es der Beleg, dass die Türkei und der
IS auch direkt zusammenarbeiten.
Neu sind die Vorwürfe nicht. 2016 hatte die türkische Zeitung
[5][Cumhuriyet] um den damaligen Chefredakteur Can Dündar berichtet, dass
der türkische Geheimdienst Waffen an Islamistische Gruppen in Syrien
geliefert haben soll. Dündar ist 2016 nach Deutschland geflohen. Vor zwei
Jahren wurde er wegen „Spionage“ und „Terrorunterstützung“ in Abwesenh…
zu 27 Jahren Haft verurteilt.
Die Türkei hat die Vorwürfe, den IS zu unterstützen, in der Vergangenheit
immer bestritten. Auf Anfragen der taz reagierten weder das türkische
Außenministerium noch die Botschaft in Deutschland.
Selbst wenn es keine direkten Verbindungen zwischen der Türkei und dem IS
geben sollte, so scheinen ihre Ziele in Syrien doch übereinzustimmen: Beide
wollen die Selbstverwaltung schwächen – und sie so früher oder später zu
Fall bringen. Wim Zwijnenburg von der niederländischen Friedensorganisation
PAX, die seit Jahren in der Region aktiv ist, sagt: „Ich glaube nicht
unbedingt, dass es das Ziel der Türkei ist, erneut in Syrien
einzumarschieren.“ Die Türkei verfolge eine Strategie der Kriegsführung mit
geringer Intensität. „Damit erreichen sie genau das, was sie wollen.“
Aufgrund der ständigen Bedrohung sehe sich die Selbstverwaltung gezwungen,
die wenigen vorhandenen Ressourcen, die sie vor allem durch Ölförderung
generiert, für militärische Zwecke und Verteidigung auszugeben.
Die Gelder würden beim Wiederaufbau ziviler Infrastruktur fehlen. Und da
Rojava nicht als eigenständiger Staat anerkannt sei, gebe es auch keine
Wiederaufbauhilfen der Vereinten Nationen.
Wir waren das letzte Mal vor eineinhalb Jahren vor Ort in Rojava. Seitdem
sind die blauen Schriftzüge auf den Häusern, auf denen in arabischen
Lettern „zu verkaufen“ steht, mehr geworden. Die Dürre schreitet voran. Die
Felder der Bauern liegen brach, weil der Regen ausbleibt – und weil die
Türkei Rojava Wasserzuflüsse wie den Euphrat blockiert. Immer mehr Menschen
erzählen uns, sie würden weggehen, wenn sie es sich nur irgendwie leisten
könnten.
## Wasser wird in der Region zur Waffe
Es sind Menschen, die nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll – Menschen
wie Fahima Hussein Hassan, 38. Sie ist 2019 wie viele andere vor den
türkischen Angriffen aus Serê Kaniyê geflohen. Acht Monate lang war sie mit
ihrem kranken Mann, einer Herde Schafe und ihren fünf Kindern auf der
Flucht. Bis sie schließlich im Flüchtlingscamp Washokani, nahe der Stadt
Hassakeh, strandeten. Ihr jüngster Sohn, Marwan, zwei Jahre alt, wurde erst
im Camp geboren – und wäre fast hier gestorben.
Fahima Hassan erinnert sich im Gespräch an diese Nacht im Januar. Wie immer
pfiff der kalte Wind durch die Ritzen in der zerschlissenen Zeltplane.
Marwan und seine Geschwister hatten schon seit einigen Tagen an Durchfall
gelitten. In dieser Nacht fing der Kleine an, zu zittern und zu glühen.
Seine Lippen hätten gebebt, die Glieder gekrampft, die Augen hätten sich
verdreht, so dass nur noch das Weiße zu sehen gewesen sei.
Der Bruder ihres Mannes sei gekommen. Sie hätten ein Taxi gerufen, seien
ins Krankenhaus gefahren. Im Krankenhaus hätten sie Marwan Infusionen
gegeben. Die Diagnose: Cholera.
Etwa 100.000 Menschen sind seit August 2022 in Syrien Schätzungen der UN
zufolge an Cholera erkrankt. Rund die Hälfte davon im Nordosten des Landes.
Den Grund dafür sehen Gesundheitsexpert:innen im Wassermangel, der
dazu führe, dass die Qualität des Wassers schlechter werde. Dass sich
wasserbedingte Krankheiten wie Cholera schneller verbreiten.
„Ich versuche das Wasser, das wir bekommen, immer abzukochen. Oft schwimmen
Dreck oder kleine Würmer darin“, sagt Fahima Hassan.
Das Wasser bekommen die Menschen im Washokani-Camp aus Wassertrucks, die es
von den Brunnen vor den Toren der Stadt holen. Seit die Milizen der
pro-türkischen SNA die Grundwasserpumpstation in der Region besetzt halten
und den Wasserzufluss gekappt haben, der die Region früher mit sauberem
Trinkwasser versorgt hat, sind die Menschen auf das Brunnenwasser
angewiesen.
Die SDF beklagen, die Türkei würde selbst das Wasser als Waffe einsetzen.
„Ich fühle mich schlecht, wenn ich meinen Kindern Wasser zu trinken gebe,
weil ich fürchte, dass es sie krank macht“, sagt Fahima Hassan. Wie viele
im Camp hatte Fahima Hassan einst große Hoffnungen in die Autonome
Selbstverwaltung gesetzt. Wie viele ist sie enttäuscht worden. Wie so viele
gibt sie dafür vor allem einem Mann die Schuld: Recep Tayyip Erdoğan.
Geht es nach SDF-Kommandeur Kortay Korkmaz, gibt es neben dem IS und der
Türkei aber noch eine dritte Gefahr für die Selbstverwaltung: das syrische
Regime. In der Vergangenheit gab es kaum Konfrontationen zwischen
Selbstverwaltung und syrischer Armee. Die SDF sind in ein Machtvakuum
gestochen, das das Regime nach seinem Abzug hinterlassen hatte. Doch das
könnte sich in Zukunft ändern. Das Erdbeben, das Erdoğans Wahlsieg zu
gefährden droht, scheint dem syrischen Diktator Bashar al-Assad vor allem
Aufwind gegeben zu haben.
Die Gespräche über internationale Hilfe nutzte er als Möglichkeit, sich
Staaten wie Ägypten und Jordanien wieder anzunähern, sowie den reichen
Golfstaaten Saudi Arabien und Katar, die lange Zeit als Unterstützer der
syrischen Opposition im Exil galten. Gleichzeitig finden seit Ende
vergangenen Jahres Gespräche zwischen Vertretern Syriens und der Türkei
statt: Im Dezember hatten sich die Verteidigungsminister mit ihrem
russischen Amtskollegen in Moskau getroffen, im Januar dann die
Außenminister. Und wäre das Erdbeben nicht gewesen, wäre es vielleicht auch
schon zum Treffen der zwei ehemals verfeindeten Autokraten Assad und
Erdoğan gekommen.
Obwohl sie sich lange Zeit an unterschiedlichen Fronten gegenüberstanden,
verfolgen beide inzwischen ähnliche Interessen in Syrien, die sie bei einer
Annäherung realisieren könnten: Zum einen die Rückführung der 3,5 Millionen
syrischen Flüchtlinge aus der Türkei – und zum anderen die Zerschlagung der
Selbstverwaltung und die Eingliederung der SDF in die syrische Armee. Das
Erdbeben hat die Annäherung der beiden Staaten vorerst aufgehalten.
Für viele Menschen in Rojava ist das eine große Erleichterung. Die Wahlen
in der Türkei sind die einzige Hoffnung, die Angriffe zu stoppen. Wenige
Wochen vor der Wahl sind die Umfragen so eng wie seit Jahren nicht. Erdoğan
selbst liegt laut Meinungsforschungsinstitut ORC bei 44 Prozent der Stimmen
– Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP, der ein Oppositionsbünd…
aus sechs Parteien anführt, bei 48 Prozent. Die pro-kurdische
linksgerichtete HDP ist nicht Teil des Bündnisses, hatte aber zuletzt
angekündigt, keine eigene Kandidatin ins Rennen schicken zu wollen, um
Erdogans Ein-Mann-Herrschaft zu beenden.
Das Leben der Witwe Wadha Mohammad Kasim hat sich seit dem Tod ihres Mannes
um 180 Grad gedreht. Ihr 19-jähriger Sohn hat die Uni geschmissen, ist
zurück nach Hause gezogen, hat sich Arbeit gesucht, um die Familie zu
ernähren, weil die Witwenrente dazu nicht ausreicht. Wadha Kasim sagt, sie
bete dafür, dass Erdoğan im Mai abgewählt werde.
Das sei ihre einzige Hoffnung, sagt sie, dass „das sinnlose Sterben von uns
Kurden“ ein Ende nimmt.
Die Recherche wurde vom Europäischen Journalistenzentrum im Rahmen des
Global Health Security Call mitfinanziert, unterstützt von der Bill &
Melinda Gates Foundation.
Mitarbeit: Shaveen Mohammad
9 May 2023
## LINKS
[1] /Terroranschlag-in-Istanbul/!5892138
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratische_Kr%C3%A4fte_Syriens
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Rojava
[4] /Wahlen-in-der-Tuerkei/!5928729
[5] https://www.cumhuriyet.com.tr/
## AUTOREN
Bartholomäus von Laffert
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