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# taz.de -- IS-Prozesse in Nord- und Ostsyrien: Am Ort ihres Verbrechens
> Die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien strebt Prozesse gegen
> ausländische IS-Täter an. Die Herkunftsländer haben ihre Pflicht
> versäumt.
Bild: Kobane, Syrien: Hier sollen Prozesse gegen mutmaßliche IS-Terroristen mi…
Der vereitelte Anschlag auf die Regenbogenparade in Wien Anfang des Monats
erinnert daran, dass der sogenannte Islamische Staat (IS) weiter existiert
und unverändert eine ernsthafte Bedrohung darstellt. Seit 2019, als der IS
in Syrien besiegt wurde, leben in den Lagern und Gefängnissen Nord- und
Ostsyriens mehr als 60.000 Mitglieder und Angehörige des IS, darunter auch
knapp 2.000 ausländische Kämpfer.
Die unter dem kurdischen Namen Rojava bekannte Selbstverwaltung von Nord-
und Ostsyrien, [1][kurz AANES], mit einer mehrheitlich kurdischen
Bevölkerung, fordert seit Jahren, dass die Herkunftsländer der Kämpfer,
darunter Deutschland, ihre Staatsbürger zurückholen und strafrechtlich
verfolgen. Doch abgesehen von der Rückführung einiger Frauen und Kinder ist
bislang wenig passiert.
Mitte Juni erklärte nun die AANES, die mutmaßlichen IS-Terroristen mit
ausländischer Staatsbürgerschaft [2][selbst vor Gericht zu stellen]. Jemand
muss für Gerechtigkeit und die Gewährleistung von Sicherheit und Frieden
sorgen. Das Versäumnis der Herkunftsstaaten, die mutmaßlichen Terroristen
selbst strafrechtlich zu verfolgen, hat bereits zu sicherheitspolitischen
Problemen geführt. In den Lagern und Gefängnissen kommt es wiederholt zu
Aufständen und Ausbruchsversuchen.
Die ersten Prozesse sollen in der symbolisch wichtigen Stadt Kobane
stattfinden, wo 2014 in erster Linie kurdische Truppen vor den Augen der
Weltöffentlichkeit Widerstand gegen den IS leisteten. Die Verfahren sollen
öffentlich, fair und transparent sein. Die AANES hat die betreffenden
Herkunftsländer, die Vereinten Nationen, NGOs und die Medien eingeladen,
den Prozessen beizuwohnen. Außerdem ist man auch weiterhin für die
Einrichtung eines internationalen Tribunals offen.
## Gerechtigkeit für Opfer und Täter
Eine juristische Aufarbeitung ist zweifellos auch im Interesse der
Weltgemeinschaft. Der Terror des IS ist ein globales Problem. Zahlreiche
Drahtzieher terroristischer Anschläge sind vermutlich in Nord- und
Ostsyrien inhaftiert. Die internationale Gemeinschaft wäre also gut
beraten, ihrer Pflicht nachzukommen und die nun angekündigten Prozesse
zumindest zu unterstützen.
Die Mitgliedstaaten der EU scheinen indes noch nicht einmal in der Lage zu
sein, angemessen darüber zu diskutieren. Vielmehr scheint es, als wolle man
das Problem aussitzen. Die USA wiederum forderten zwar die Länder der Welt
dazu auf, [3][ihre jeweiligen Staatsbürger zurückzuholen], weigerten sich
aber selbst hartnäckig, US-Bürger zu repatriieren. Diese Doppelmoral muss
ein Ende haben.
Der Status quo ist nicht nur gefährlich. Es geht auch um eine lückenlose
Aufklärung von Terroranschlägen in den eigenen Ländern. Und schließlich um
Gerechtigkeit: Die Opfer des IS-Terrors warten darauf, dass die Täter zur
Rechenschaft gezogen werden. Umgekehrt haben die mutmaßlichen IS-Mitglieder
selbst – trotz allem – ein Anrecht auf ein Gerichtsverfahren unter fairen
Bedingungen.
Bei ihrer Entscheidung, über Verbrechen auf eigenem Boden zu richten, war
für die AANES ein wesentlicher Faktor, dass hier belastbares Beweismaterial
und vor allem Zeugen, wie Überlebende der IS-Verbrechen, verfügbar sind.
Die Bewohner und Kämpfer der Region haben große Opferbereitschaft im Kampf
gegen den IS gezeigt. Es ist nur folgerichtig, dass die Prozesse vor Ort
stattfinden.
## Internationale Finanzierungshilfe
Die AANES wird die Prozesse gemäß eigener Gesetze zum Terrorismus führen,
jedoch die geltenden internationalen Menschenrechtsstandards dabei achten.
Die Todesstrafe ist, wie in der Verfassung der AANES verankert, untersagt.
Die Prozesse werden große finanzielle, logistische und rechtliche
Ressourcen erfordern. Der AANES fehlt es aktuell noch an Kapazitäten, diese
Prozesse ohne internationale Unterstützung zu stemmen.
Die Mitgliedstaaten der EU sollten der AANES daher im Einklang mit
geltendem internationalem Recht die nötige Unterstützung gewähren und mit
ihr zusammenarbeiten. Beispielsweise könnte bei der Ausbildung von Richtern
und nötigem Gerichtspersonal geholfen werden. Daneben muss angesichts der
Gefahren für die Sicherheit aller Prozessbeteiligten gesorgt werden.
Beobachter der Herkunftsstaaten sollten vertreten sein, um bei der
Aufklärung zu helfen und die eigenen Justizbehörden auf etwaige spätere
Prozesse im Heimatland vorzubereiten. Schließlich muss die internationale
Gemeinschaft auch den zuletzt intensivierten [4][Angriffen der Türkei auf
Nord- und Ostsyrien] Einhalt gebieten, die sich gegen dieses Vorhaben
positioniert und dieses gefährdet haben.
Es bleibt die Frage, was passiert, wenn die in den nun beginnenden
Prozessen verhängten Strafen verbüßt sind und die Täter nach ihrer
Entlassung vor der Frage stehen, wohin. Spätestens dann wird man sich die
Frage nach einer Rehabilitierung stellen müssen. Schon jetzt stellen die
überfüllten und vernachlässigten Gefängnisse und Lager einen Hotspot der
Radikalisierung dar. Die humanitären Bedingungen sind miserabel. Vor allem
Frauen und Kinder bleiben ihrem eigenen Schicksal überlassen.
In diesen Lagern wächst derzeit eine neue Generation an, die nichts anderes
als die radikale Ideologie des IS und die umgebenden Mauern gesehen hat.
Die AANES allein ist nicht in der Lage, dieses Problem zu überwinden. Eine
Rehabilitierung ehemaliger IS-Mitglieder wird ohne Unterstützung der
internationalen Gemeinschaft nicht funktionieren.
Es scheint, als sei man sich der Gefahr, die von den Lagern und
Gefängnissen in Nord- und Ostsyrien ausgeht, nicht bewusst. Wenn die
internationale Gemeinschaft das Problem weiter ignoriert, drohen besonders
in Europa weitere Terroranschläge. [5][Der vereitelte Anschlag in Wien]
sollte ein Weckruf sein.
30 Jun 2023
## LINKS
[1] https://aanesgov.org/
[2] /IS-Gefangene-in-Syrien/!5940042
[3] /Prozessauftakt-in-Celle/!5928382
[4] /Tuerkische-Angriffe-auf-Kurden-in-Syrien/!5929943
[5] https://www.queer.de/detail.php?article_id=45980
## AUTOREN
Ibrahim Murad
## TAGS
Türkei
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„Islamischer Staat“ (IS)
Rojava
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