# taz.de -- Syrisches Lager al-Hol für IS-Gefangene: Von Gott verlassen | |
> 57.000 Menschen sitzen im syrischen Camp fest. Kurden bewachen die Tore, | |
> im Inneren herrschen Banden und Islamisten. Die Aussichten sind düster. | |
Bild: Das Al-Hol-Camp in Nordsyrien, eine kurdische Patrouille hat sich in das … | |
BERLIN taz | Im Nordosten Syriens, wo sich Dschihadisten aus aller Welt vor | |
einigen Jahren noch im Himmel auf Erden wähnten, herrscht Trostlosigkeit. | |
Bilder und Videos aus [1][al-Hol], dem größten Lager der Region, zeigen | |
eine endlose Zeltlandschaft. Im Sommer knallt die Sonne, jetzt kommen Regen | |
und die Kälte, Durchfall und Influenza. Kinder werden ihren Müttern | |
weggenommen, entführt, vergewaltigt, getötet. | |
Viele, die al-Hol mit eigenen Augen gesehen haben, sind unschlüssig: Ist | |
das ein Flüchtlings- oder Internierungslager? Camp oder Knast? Ein Zaun | |
sperrt das Areal ab. Aus einem Areal, in dem die besonders radikalen der | |
57.000 Insassen aus Syrien, dem Irak und Europa festsitzen, kommt niemand | |
hinein oder heraus. Offiziell jedenfalls nicht. In Wirklichkeit, heißt es, | |
werde alles geschmuggelt, Waren, Waffen, aber auch Menschen. | |
Jihan Ali von der Lagerverwaltung redet die Lage nicht schön: „Es gibt | |
Zellen vom Islamischen Staat im Lager“, schreibt sie der taz, „der IS | |
(‚Islamische Staat‘, d.Red.) hat schon mehr als 170 Morde verübt.“ | |
Weiterhin seien dort Entführungen und Erpressungen, die einfach krimineller | |
Natur seien, an der Tagesordnung. | |
Mafiaähliche Strukturen beobachtet auch die Hilfsorganisation [2][Ärzte | |
ohne Grenzen]. „Al-Hol“, heißt es in einem neuen Bericht, „ist zu einem | |
rechtsfreien schwarzen Loch geworden, das Gewalt und Ausbeutung begünstigt, | |
wo kriminelle Aktivitäten straffrei bleiben.“ | |
Al-Hol erinnert daran, dass der „Islamische Staat“ territorial besiegt ist, | |
aber weder die kriminelle Energie noch der religiöse Fanatismus seiner | |
Anhänger und Anhängerinnen aus der Welt sind. Seine heutige Dimension | |
erreichte das Lager, als kurdisch geführte Truppen 2019 die letzten | |
IS-Aufständischen besiegten und die Kämpfer und deren Familien nach al-Hol | |
brachten. Der Zustrom machte es zu dem, was es heute ist: | |
Verbrecherhochburg und IS-Nachwuchsschmiede, nicht vergessen, aber | |
ignoriert von der Welt. | |
Vor zwei Wochen erst fand man die [3][enthaupteten Leichen zweier | |
ägyptischer Mädchen]. Sie sollen elf und 13 Jahre alt gewesen sein. Die | |
Körper lagen im Abwassersystem. Die Tat sorgte für ein paar Schlagzeilen; | |
sie müsse untersucht werden, forderten ein UN-Sprecher. Doch dass der Mord | |
Folgen haben wird, darf bezweifelt werden. „So etwas passiert fast | |
täglich“, kommentiert ein kurdischer Politiker gegenüber der taz. | |
Kriminelle, sagt Jihan Ali von der Lagerverwaltung, könnten so frei | |
agieren, weil im Lager selbst keine Sicherheitskräfte stationiert seien, es | |
gebe lediglich Patrouillen. „Die Sicherheitskräfte der Selbstverwaltung | |
bewachen die Ein- und Ausgänge, aber sie haben Schwierigkeiten, für | |
Sicherheit innerhalb des Lagers zu sorgen.“ Die Selbstverwaltung, damit | |
meint Ali die Regierung des Autonomiegebiets in Nordostsyrien. Mit ihrem | |
militärischen Arm, dem Milizenbündnis „Demokratische Kräfte Syriens“ (SD… | |
herrscht sie über fast ein Drittel Syriens. Mehrere Millionen Menschen | |
stehen unter Kontrolle dieser Selbstverwaltung. | |
Das Assad-Regime lässt die Kurden gewähren, der Türkei dagegen sind vor | |
allem die kurdischen „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG), die | |
schlagkräftigste der SDF-Milizen, ein Dorn im Auge. Seit Tagen | |
[4][bombardiert das türkische Militär] YPG-Stellungen und droht, auch | |
Bodentruppen zu entsenden. Türkische Drohnen sollen auch Sicherheitskräfte | |
in al-Hol angegriffen haben, heißt es. Familienmitglieder von IS-Kämpfern | |
hätten deshalb fliehen können, seien aber wieder gefasst, behaupten die | |
SDF. | |
Die Eskalation zeigt die Janusköpfigkeit des Lagers: al-Hol ist ein | |
Faustpfand für die Selbstverwaltung. Je größer die Gefahr, die vom Lager | |
ausgeht, desto wichtiger die Rolle der „Demokratische Kräfte Syriens“ | |
(SDF). | |
Internationale Anerkennung wird der kurdische Quasi-Staat nicht bekommen, | |
aber dass man kaum an ihm vorbeikommt und auf ihn angewiesen ist, zeigt | |
al-Hol. Jihan Ali von der Lagerverwaltung fordert mehr militärische und | |
logistische Unterstützung, um al-Hol im Griff zu behalten. Zum anderen ist | |
das Lager eine enorme Belastung, finanziell und auch sicherheitspolitisch. | |
Im Januar zeigte ein IS-Aufstand in einem Gefängnis unweit von al-Hol, wie | |
gefährlich die Lage ist. Militante töteten 154 Sicherheitskräfte; 346 | |
Aufständische verloren ihr Leben. | |
## „Wir verschließen die Augen“ | |
„Wir überlassen alles den Kurden und verschließen die Augen vor dieser | |
tickenden Zeitbombe“, sagt die Europaabgeordnete [5][Katrin Langensiepen] | |
(Grüne), die im November al-Hol besucht hat. Eine halbe Stunde sei sie im | |
Auto um das Lager gefahren, so groß sei das Areal. „Die Weltgemeinschaft | |
versucht, die Lage auszusitzen, aber Augen zu und durch funktioniert | |
nicht.“ | |
Langensiepen bemängelt nicht nur die Menschenrechtslage; sie sieht die | |
internationale Sicherheit gefährdet. „So schnell es geht, muss das gesamte | |
Lager leergezogen werden. Wir müssen die Leute dort herausbekommen, aber | |
auch versuchen, die Kinder zu resozialisieren“, fordert sie. „Parallel | |
müssen Hilfsorganisationen hinein, sonst übernimmt es der IS komplett. Wir | |
müssen mit Manpower und mit sehr viel Geld rein in dieses Lager.“ | |
Viele Staaten holen mittlerweile zumindest ihre Staatsangehörigen aus | |
al-Hol und anderen Lagern heraus. Deutschland hat 26 Frauen und 77 Kinder | |
repatriiert, womit laut Außenministerin Baerbock „fast alle bekannten | |
Fälle“ abgeschlossen sind. Doch was nach getaner Arbeit klingt, | |
verschleiert die Tatsachen: Baerbocks Aussage bezieht sich zum einen nur | |
auf diejenigen Frauen, die bereit zur Rückkehr bereit sind. Zum anderen | |
spielen deutsche Männer in der Rechnung schlicht keine Rolle. Statt | |
mutmaßlichen IS-Kämpfern in Deutschland den Prozess zu machen und sie im | |
Zweifelsfall mangels Beweisen auch freizulassen, lässt man sie weggesperrt | |
in kurdischen Lagern vegetieren. | |
Fragt man die Bundesregierung, wie viele Deutsche noch in al-Hol | |
festsitzen, bekommt man erstaunlich unpräzise Zahlen: Etwa 400 der rund | |
1.150 deutschen Islamist*innen, die nach Syrien oder Irak ausgereist waren, | |
befänden sich wohl noch im Ausland. Rund 80 von ihnen seien in Haft oder | |
Gewahrsam in Syrien, dem Irak oder der Türkei. Wie viele genau in al-Hol | |
festsitzen, darauf gibt es keine Antwort. Es fehlen auch Informationen, was | |
eigentlich mit den vielen Kindern deutscher Eltern ist, die in den letzten | |
zehn Jahren geboren worden sind. | |
„Genaue Informationen hat tatsächlich keiner“, sagt Abdelkarim Omar. Der | |
Kurde ist Vertreter von Nordostsyrien in der EU, die in Berlin ein kleines | |
Büro im Souterrain eines Wohnhauses betreibt. Im Vorgarten picken Vögel an | |
Maisenknödeln, vor der Tür quillt ein Aschenbecher über. Nur ein kleines | |
Schild mit dem Logo der Selbstverwaltung zeigt, dass dies eine Art | |
Botschaft sein soll. | |
Die IS-Leute hätten sich ja nicht mit Ausweisen in der Hand ergeben, sagt | |
Omar. Von wie vielen Deutschen in kurdischen Lagern er ausgehe, will er | |
nicht sagen. Nur so viel: Die Mehrheit der Deutschen sei noch da. „Es gibt | |
noch eine hohe Zahl an Deutschen, nicht nur Kinder und Frauen, auch | |
deutsche IS-Kämpfer.“ Omar geht von etwa 2.000 Nicht-Arabern unter den | |
insgesamt 12.000 IS-Kämpfern aus, die sich in der Gewalt der | |
Selbstverwaltung befinden. Hinzu kämen mehr als 7.000 ausländische Frauen | |
und Kinder, die in al-Hol in einem speziellen Trakt interniert sind, dem | |
sogenannten Annex. | |
## Ein Ort der Hoffnungslosigkeit | |
Der Europa-Abgeordneten Katrin Langensiepen bereitet vor allem dieser Annex | |
Sorgen. Das sei „ein Ort der absoluten Hoffnungslosigkeit, des Drecks, der | |
fehlenden Bildung“, sagt die Parlamentarierin. Aus dem syrischen Teil des | |
Lagers hätten die Kinder ihr noch zugewunken, aus dem Annex zeigten sie ihr | |
den Zeigefinger, den IS-Gruß. Zwei von drei Insassen in al-Hol sind | |
minderjährig, jeder zweite hat noch nicht einmal seinen zwölften Geburtstag | |
gefeiert. „Sie tun mir unendlich leid“, sagt Langensiepen, „aber die sind | |
knallhart drauf und je älter sie werden, desto krasser sind sie.“ Monatlich | |
kämen fünfzig Babys hinzu. „Da werden Teenagerjungs in den Annex geschleust | |
und dann hat auch ein 13- oder 14-Jähriger mal drei Frauen und zeugt | |
Kinder.“ In al-Hol, so ist sie überzeugt, werde die nächste | |
Terrorgeneration hochgezüchtet. | |
Von der „nächsten Generation des IS“ spricht auch Omar. „25.000 Kinder in | |
al-Hol werden gemäß der IS-Ideologie erzogen“, sagt er und betont: „Al-Hol | |
ist ein internationales Problem.“ Die Selbstverwaltung werde allein | |
gelassen. Mehr Unterstützung fordert auch er und erzählt, dass besonders | |
gefährliche Jungs ihren Müttern mit zwölf oder 13 Jahren weggenommen und in | |
ein Deradikalisierungszentrum geschickt würden. Dieses eine Zentrum reiche | |
aber nicht aus, es bräuchte fünfzehn bis zwanzig davon. | |
„Wir brauchen einen wirklichen politischen Plan“, sagt Langensiepen. Sie | |
spricht sich für deutlich mehr Unterstützung aus, wobei Europa auch vor | |
einer „De-facto-Anerkennung“ der Selbstverwaltung nicht zurückschrecken | |
dürfe. Für al-Hol stellt sie eine Dezentralisierung des Lagers zur Debatte. | |
Einen Masterplan für die Zukunft hat jedoch niemand. Ärzte ohne Grenzen | |
warnt vor einem reinen Management des Lagers im Sinne der | |
Terrorismusbekämpfung. Das würde „Tausende von Zivilisten in einem | |
Kreislauf aus unbefristeter Inhaftierung, Gefahr und Unsicherheit | |
gefangenhalten, der sie ihrer grundlegenden Menschenrechte beraubt.“ Ein | |
Szenario, das wahrscheinlich ist. Und brandgefährlich. | |
1 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=wekLnBx-xIQ | |
[2] https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/spenden/retten-sie-mit-ihrer-spende-lebe… | |
[3] https://www.nzz.ch/international/syrien-zwei-gekoepfte-maedchen-im-al-hol-l… | |
[4] /Tuerkisch-kurdischer-Grenzkrieg/!5893664 | |
[5] https://www.katrin-langensiepen.eu/ | |
## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
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