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# taz.de -- IS-Gefangene in Syrien: Die Kinder des Kalifats
> Im syrischen Lager al-Hol leben Tausende Frauen und Kinder ehemaliger
> IS-Kämpfer. Viele von ihnen halten am Kampf des Gottesstaates fest.
Bild: Sicherheitskräfte sichern Mitte April das Lager al-Hol, in dem Angehöri…
Die Soldat*innen stehen in Tarnfleck und schusssicheren Westen unter der
sengenden Sonne, das Gesicht zum Stacheldraht, der das Flüchtlingslager
al-Hol eingrenzt. Sie tragen schwarze Helme und Sturmhauben, in den Händen
Schutzschilde und Schlagstöcke. Vor ihnen sitzen Frauen, in schwarze Abayas
gehüllt, wie gesichtslose Gestalten – Dutzende sind es. Einige haben kleine
Plastikstühle und Regenschirme mitgebracht, die sie zwar vor der Sonne,
doch nicht vor der Hitze schützen. Kinder mischen sich unter sie. Hinter
ihnen, jenseits des Stacheldrahts, liegt eine dürre Ebene aus Sand, Geröll
und verdorrtem Wüstengras.
Seit knapp drei Stunden sitzen sie dort, zwischen Staub und Steinen. Und
genauso lange stehen die Militärs in Vollmontur vor ihnen, den Blick auf
die stille Frauenmenge gerichtet. Unterdessen, nicht mal hundert Meter
weiter, durchsuchen Amanus Kobani und sein Team die Zelte der Frauen im
Annex.
Annex, das ist zum Schreckenswort für die Kurd*innen geworden, die das
Lager al-Hol betreiben. Hier leben die Frauen und jüngeren Kinder von
ehemaligen Foreign Fighters des „Islamischen Staates“. Die Foreign
Fighters, das sind diejenigen Kämpfer, die während des syrischen
Bürgerkriegs aus Pakistan, Usbekistan, aber auch aus England und
Deutschland nach Nordsyrien kamen, um ihren Kalifatstraum auszuleben, ihn
zur Not mit Waffengewalt zu erzwingen. Es sind die ideologisch motivierten,
die gut ausgebildeten – also die gefährlichsten.
## Annex ist zum Schreckenswort geworden
Kobani trägt Helm, Balaklava und eine kugelsichere Weste mit den gekreuzten
Schwertern, dem Symbol der kurdischen Antiterror-Eliteeinheiten YAT, auf
der schwarzen Uniform. In den Händen hält er ein etwas abgenutztes
Maschinengewehr, eine Hand auf dem mit Bandage überzogenen Griff und den
Zeigefinger neben dem Abzug.
Neben ihm steht eine Frau mit Sturmhaube und langen Haaren unter dem
Hightech-Helm, die Hände auf der schusssicheren Weste, aus der verschiedene
Mikrofone und Geräte herausragen. Zu müde sei sie, um Fragen zu
beantworten, sagt sie mit einem Seufzen und geht zurück in das Zelt, in dem
ihre Kolleg*innen gerade Taschen und Boxen inspizieren.
Ein Soldat öffnet mit einem gut 20 Zentimeter langen Messer eine
überdimensionale schwarze Plastiktüte, ein anderer kontrolliert die draußen
aufgehängten Teppiche. IS-Terroristen waren berüchtigt dafür, Sprengstoff
in Alltagsgegenständen zu verstecken. Teppichen, Matratzen, Schuhen,
Lichtschaltern. Ein weiterer Militär öffnet den neben dem Zelt
aufgestellten Wassertank und lehnt sich mit dem Gesicht über die Öffnung,
schaut ins Innere des Behälters und schraubt dann den schwarzen
Plastikdeckel wieder zu.
Waffen suchen sie, vornehmlich. „Wir konnten heute Morgen noch nichts
finden“, sagt Kobani mit heiserer Stimme. Doch die Suche geht weiter. Seit
zwei Tagen hält die Sicherheitsoperation, [1][Razzia könnte man sie nennen,
im Flüchtlingslager al-Hol an.] Die YAT-Einheiten, die sie gerade
durchführen, sollen vor Jahren von der CIA für den Kampf gegen die
Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) ausgebildet und ausgerüstet worden
sein – wenngleich die USA dies nie offiziell bestätigt haben. Die
Spezialkräfte hätten mitbekommen, dass IS-Sympathisant*innen Waffen im
Annex versteckten.
## al-Hol gleicht einem armseligen Campingplatz
Bei der Razzia darf die taz exklusiv dabei sein, ausländische Medien sind
in der Regel bei diesen Einsätzen nicht zugelassen. Gestattet wird meistens
eine Fahrt entlang der Begrenzungslinie, außerhalb des Stacheldrahts, was
einen Beigeschmack von Menschenzoo-Besuch hinterlässt. Die Menschen
innerhalb des Areals seien zu gefährlich. Ein Soldat warnt davor, dass
Kinder Steine auf Fremde werfen. Mit den schweigenden Frauen zu reden, ist
auch der taz nicht erlaubt.
Die dicht aneinandergedrängten Zelte, die die Wüste wie ein armseliger
Campingplatz unterbrechen, sind weiß und cremefarben, die Plastikplanen
notdürftig mit Seilen und Nägeln am Boden befestigt. Neben dem Zelt, das
gerade durchsucht wird und in dem eine Familie schläft, steht eine kleine
Küche, ein Einzelraum aus Ziegeln. Draußen wartet ein beiger Panzerwagen
auf die Streitkräfte, zwei Soldaten in Camouflage und mit OP-Masken über
dem Mund lehnen entspannt an dem Fahrzeug. Noch tagelang werden sie im
Flüchtlingslager nach IS-Schläferzellen suchen.
Die Ideologie des tot erklärten Kalifats lebt im Annex weiter, sagen die
kurdischen Behörden. Die Mütter gäben sie an ihre Kinder weiter, in ihren
Behausungen mitten in der Wüste Nordostsyriens, sagt der Sprecher der
kurdischen YPG-Streitkräfte Siamand Ali. Wer sich davon distanziert, wer
mit der Zeit gemäßigter wird, der werde von den Hardliner*innen
angegriffen, sagen NGO-Mitarbeiterinnen, die anonym bleiben möchten. Als
Bestrafung für Abtrünnige seien schon Zelte angezündet worden.
„Diese enge Jeans ziehe ich nicht an, wenn ich in den Annex gehe“, erzählt
eine junge Frau, die in al-Hol für eine Nichtregierungsorganisation
arbeitet, und zeigt Bilder von sich selbst im Lager, unter einer langen,
schwarzen Abaya, umgeben von vollverschleierten Frauen. Die junge Frau und
einige Kolleginnen sitzen in einem Café in der 40 Kilometer entfernten
Stadt Hasakah, trinken Saft und rauchen Shishas mit Minz- und
Apfelgeschmack. Alle tragen bunte Kopftücher. „Wir sind auch Musliminnen,
aber die Frauen dort nennen uns Kuffar, „Ungläubige“, sagt eine von ihnen
laut, um die arabische Musik im Raum zu übertönen. „Sie warten auf die
Rückkehr des Kalifats.“
Zwischen 5.000 und 6.000 Frauen und Kinder wohnen im Annex. Sie kommen aus
Usbekistan, aus England, aus Pakistan. Mehr als 40 Nationalitäten sollen
dort vertreten sein. Darunter auch drei Familien aus Deutschland, insgesamt
neun Personen. In dieser Ödnis leben die Frauen weiter unter sich. So, wie
sie in den letzten Tagen des IS-„Kalifats“ gelebt haben. Wasser und Nahrung
bekommen sie von NGOs. Bei medizinischen Notfällen werden sie, sofern
genehmigt, in Kliniken eskortiert.
## Im Lager mangelt es an vielem, aber nicht an Gewalt
Deradikalisierungsprogramme gibt es nicht. Psychologische Hilfe wird selten
angenommen. Aus Furcht, stigmatisiert zu werden im Lager. Aus einem
Misstrauen heraus gegenüber allem, was als „westlich“ gilt. Ausbildungen,
etwa als Friseurin oder Näherin, die NGOs anbieten, müssen sich den
strikten Sicherheitsregeln anpassen. Scharfe Scheren etwa würden aus
Sicherheitsgründen konfisziert, sagen die Mitarbeiterinnen.
Gemeinschaftszentren gibt es wenige, Schulen ebenso. „Gleich null“ sei die
Bildung, die die Kinder von al-Hol bekommen, so die NGO-Mitarbeiterinnen.
Sie wachsen in einer öden Wüste auf, der aber ein guter Nährboden ist für
extreme Gedanken.
Sobald die Söhne 13 Jahre alt sind, nähmen die kurdischstämmige
Soldat*innen sie ihren Müttern weg, brächten sie zu sogenannten
Erziehungszentren und gelegentlich auch in [2][Gefängnisse außerhalb des
Lagers.] Damit sie sich nicht weiter radikalisieren und selbst Familien im
Lager gründen, in denen die IS-Ideologie weiterlebt. Jihan Hanan, die
Direktorin von al-Hol, bestreitet jedoch, dass dies noch geschehe. „Es gab
einige Medienberichte, die uns vorwarfen, Kinder von den Müttern zu
trennen“, sagt sie.
Hanan spricht von „Erziehungs- und Deradikalisierungsmaßnahmen“, aber einer
konkreten Antwort, ob die Medienbericht stimmen, weicht sie aus. Und jetzt,
sagt sie, seien die Kapazitäten für Maßnahmen eh erschöpft. Diese Kinder
wachsen meist ohne Väter auf, die in der Regel entweder tot sind oder in
Haft. Die Jugendlichen werden zu Männern in einem Gefängnis, das sie nur in
den seltensten Fällen verlassen dürfen. Einige haben nur diesen trostlosen
Ort von der Welt gesehen, andere haben davor noch Krieg und Tod erlebt.
Im Wüstenlager mangelt es an vielem, aber nicht an Gewalt.
Sicherheitskräfte würden die Frauen im Annex harsch behandeln, denn diese
drohten ihnen oft mit dem Tod, sagen die Helferinnen. Die Soldat*inne
müssen jetzt die Verwandten der Männer bewachen, die ihre Freunde und
Angehörigen gefoltert, vergewaltigt und getötet haben. Helfer*innen der
NGOs berichten von Fällen sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen im
Lager. Und die Gesundheitslage ist ebenso schlecht: Immer wieder gibt es
Ausbrüche von Cholera.
Lager-Chefin Hanan, eine Frau in ihren 40ern mit langen, schwarzen Haaren
und beiger Turnjacke, spricht langsam und bedacht über den IS und den
Mangel an Ressourcen im Lager.
Die Lage ist angespannt. In den Wochen vor der Razzia hatte die NGO
Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte immer wieder Angriffe auf
Soldat*innen, Checkpoints und Zivilist*innen durch IS-Anhänger
vermeldet.
Der IS ist laut YPG-Sprecher Ali jetzt um das Zehnfache stärker als noch im
Dezember. Das Sicherheitsvakuum im nördlichen Gebiet, das der Abzug der
russischen und iranischen Streitkräfte nach dem Fall Assads hinterlassen
hat, konnten die kurdischen Milizen nicht vollständig ausfüllen, denn sie
waren bis dahin an der Front gegen die Türkei und deren Alliierte in Syrien
beschäftigt. Die Waffen, die Assads Truppen hinterlassen haben, seien in
die Hände des IS gefallen. Drei Angriffe habe es allein diese Woche
gegeben, zählt Ali auf. „Al-Hol sowie auch die anderen Lager sind einer der
Gründe, weswegen der Daesch noch existiert.“ Mit „Daesch“ meint er die
Terrororganisation und drückt damit seine Verachtung aus.
## So wie der Annex ist das gesamte Lager al-Hol ein Knast
In einem Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP)
von 2022 organisierten die Frauen zu der Zeit im Lager eine Art
Sittenpolizei wie zur Zeit des Kalifats. Sie sollen nicht nur Zelte
abgebrannt, sondern auch diejenigen gefoltert und getötet haben, die sich
ihnen widersetzen. Immer wieder berichteten Medien über
IS-Propaganda-Postings in den sozialen Medien, die von den Bewohnerinnen
des Annex stammen sollen.
„Meiner Meinung nach sollten sie alle in die Heimat zurückgeschickt werden.
Aber es ist schwierig, denn jeder, der hier lebt, hat einen anderen
Background, eine andere Mentalität“, sagt sie und erzählt weiter: „Manche
wollen nicht zurück, weil sie in ihrer Heimat gesucht werden, andere halten
noch an der IS-Ideologie fest und wollen hierbleiben.“ Eine pakistanische
Frau im Annex habe ihr gesagt, sie wolle nicht weg, denn so – mit schwarzem
Gesichtsschleier – könne sie sich in ihrer Heimat nicht anziehen. Auf die
Frage, was sie denn in Zukunft tun wolle, antwortete sie, sie habe einen
Plan – wolle den aber nicht verraten.
Gut 16.000 Syrer*innen, 13.000 Iraker*innen und 6.000 weitere
Ausländer*innen wohnen im gesamten Lager. 35.000 Menschen, größtenteils
Frauen und Kinder. Sie kamen, als das letzte Bollwerk des Kalifats fiel,
die kleine Grenzstadt Baghuz im Osten des Landes. 2019 war das, und die
syrisch-kurdischen SDF-Einheiten, unterstützt durch Luftangriffe der
internationalen Koalition unter Führung der USA, konnten nach
kräftezehrenden Guerrillakämpfen die letzte IS-Bastion zurückerobern. Die
Familien, die in den Monaten vor dem Fall von dort aus flohen, sind
wahrscheinlich Angehörige von IS-Kämpfern. Wie viele von ihnen enge
Beziehungen zur Terrororganisation selbst unterhielten, ist unklar.
## Genug Personal und nicht genug Unterstützung
Mehr als 1.000 Polizist*innen und etwa 1.000 Zivilist*innen
arbeiten in al-Hol. Genug Personal, aber dennoch nicht genug Unterstützung,
sagt Hanan. Es ist kein Geheimnis, dass die von US-Präsident Donald Trump
beschlossenen Einschnitte bei den Auslandshilfen die Lage in al-Hol negativ
beeinflusst. Nicht unbedingt die Verwaltung, wohl aber die NGOs, die in dem
Lager arbeiten, betrifft das. Ein Helfer, der anonym bleiben möchte,
berichtet, er habe seinen Job deswegen Ende Januar verloren. Sein Verein
kümmert sich um die Eingliederung von Ex-Bewohnerinnen in die Gesellschaft.
Global nimmt die Finanzierung von Hilfsprojekten insgesamt ab: Der
Norwegische Flüchtlingsrat wird wegen fehlender Mittel ebenfalls ein
Bildungszentrum in al-Hol schließen.
Hasan scheint müde, immer wieder mit Medien über dieselben Probleme zu
reden, gegen Windmühlen anzukämpfen. Sie bietet schwarzen Kaffee an,
Schokoladenpralinen liegen in ihrer schimmernden Folie neben den
kristallenen Aschenbechern. Der IS versuche immer wieder, Familien aus dem
Lager zu schmuggeln. Und manchmal schaffe er es auch. Wo diese Frauen und
Kinder dann landeten – ungewiss.
So wie der Annex ist das gesamte Lager al-Hol ein Knast. Eine kleine
Zeltstadt, deren weiße Planen so dicht aneinandergedrängt sind, als wären
sie ein einziger Ozean aus Nylon, mitten in einer Weite aus staubiger Erde
und Geröll. Das nächstgelegene Dorf, al-Hol, ist eine ländliche
Gemeinschaft. Männer, Frauen und sogar Kinder hacken die gelockerte Erde am
Straßenrand oder lassen die Schafe weiden, die Häuser sind zumeist
würfelformige Bauten aus nackten Ziegeln oder aus Schlamm gebaut, so
sandfarben wie die Erde unter ihnen. Bis zur nächsten Stadt Hasakah sind es
acht Checkpoints und 40 Kilometer Luftlinie.
Das Flüchtlingslager entstand in den 90er Jahren, wurde von irakischen
Geflüchteten genutzt und dann, im Zuge des syrischen Bürgerkriegs, von
Syrer*innen, Iraker*innen und weiteren Ausländer*innen. Vor wem sie
flohen, das ist eine der zentralen Fragen und auch eine, die für
Außenstehende schwer zu beantworten ist. Vor den Schurken des IS? Oder doch
vor den Kugeln der Kurdenkoalition? Vor den Bomben Assads? Oder den
amerikanischen?
Diese Ungewissheit erschwert die Rückkehr der Geflüchteten in ihre
Heimatländer – denn niemand weiß, wie gefährlich die Menschen im Lager
al-Hol tatsächlich sind. Was verbirgt sich hinter den Frauen, die
schweigend in schwarzen Gewändern unter der Sonne sitzen?
Viele Staaten zögern, i[3][hre Mitbürgerinnen zurückzuholen, auch
Deutschland]. 1.150 Islamist*innen verließen laut Innenministerium bis
2019 die Bundesrepublik in Richtung Kalifat, zogen in den Heiligen Krieg,
Frauen waren auch dabei. Sie sollten Nachwuchs zeugen, die Kämpfer bei
Laune halten, übernahmen aber teilweise auch deutlich aktivere Rollen bei
Tötungen und Folterungen. Beispielhaft ist der Fall der 27-jährigen
Jennifer W. aus Lohne, die eine fünfjährige versklavte Jesidin in ihrem Hof
im irakischen Falludscha verdursten ließ.
Von diesen 1.150 Islamist*innen aus Deutschland sollen fast 300 im
Ausland gestorben sein, 460 sind zurückgekehrt. Gut 400 halten sich noch in
Syrien, Irak oder der Türkei auf. Knapp 750 waren laut Innenministerium
vermutlich in Kampfhandlungen involviert. Aus dem Auswärtigen Amt heißt,
eine Rückholung der Männer aus der Haft in Nordostsyrien sei nicht geplant.
Bei den Frauen und Kindern sei dies möglich, aber nur auf freiwilliger
Basis und nach Überprüfung des Falls. Dennoch sind mehrere Tausend
Geflüchtete bereits aus al-Hol in ihre Heimatländer oder in ihre
Heimatstädte in Syrien zurückgebracht worden. Drei Tage vor unserem Besuch
Mitte April verließen 850 Menschen das Lager in Richtung Irak. Es sind
alles freiwillige Rückkehrer*innen, die genug hatten vom Leben im Lager.
„Doch wir öffnen nicht einfach so die Tür und lassen sie herausspazieren,
wir haben Abkommen mit der irakischen Regierung. Und überprüfen die
Syrer*innen, die in ihre Heimatstädte zurückkehren wollen“, sagt
YPG-Sprecher Siamand Ali auf die Frage, ob er keine Angst habe, dass sich
kampfbereite Terrorist*innen unter ihnen verstecken könnten. Ali, ein
schmächtiger, lächelnder Mann in Camouflage und mit grauen Haaren, steht an
diesem Tag im April vor den noch leeren Mikrofonen der Reporter*innen
im Flüchtlingslager. Später wird er die Ergebnisse der Razzia des Tages
bekanntgeben.
Im März haben SDF-Kommandeur Mazloum Abdi und Syriens Präsident Ahmed
al-Scharaa ein Abkommen unterzeichnet. Demnach sollen die SDF in die
syrische Armee übergehen und alle Institutionen im Nordosten Syriens von
der Zentralregierung in Damaskus übernommen werden. Noch ist unklar, wie
das praktisch umgesetzt werden soll. Gleichzeitig wollen die USA laut
Medienberichten mehr als 1.000 Soldat*innen aus Syrien abziehen, was
Anti-Terror-Expert*innen besorgt.
## Große Sorge auf kurdischer Seite
Aus gut informierten Kreisen ist zu hören, dass große Sorge auf kurdischer
Seite herrscht vor einer eventuellen Übernahme von al-Hol durch die
syrische Armee. Offenbar schreckt die dschihadistische Vergangenheit
al-Scharaas sowie die radikale Mentalität einiger seiner Soldaten und
Verbündeter die Kurd*innen ab. Die Angst ist groß, dass ehemalige
IS-Kämpfer auf freien Fuß kommen könnten. Al-Scharaa selbst hat sich
mehrfach von seiner radikalen Vergangenheit distanziert.
Während die Razzia im Annex fortschreitet, geht das Leben auf dem zentralen
Markt des Flüchtlingslagers weiter. Durch die staubigen Gassen zwischen den
Zelten laufen vollverschleierte Frauen in Schwarz, nur die Augen sichtbar,
sowie Kinder und Männer. Einige tragen Eier und Gemüse in der Hand, in der
Hitze setzen sich Fliegen immer wieder auf die verschwitzte Kleidung. Ein
fauler Geruch liegt in der Luft. Ein Geschäft bietet bunte Langkleider an,
die niemand zu kaufen scheint.
Mit dem IS will hier niemand zu tun gehabt haben. Eine Frau mit schwarzem
Gesichtsschleier und runzligen Händen schreit aufgeregt: „Niemand hört auf
das, was wir sagen!“ Ihr Sohn, einziger Brotverdiener in der Familie, sei
bei der Razzia festgenommen worden. Sie schwört, er habe nichts getan. Ob
das stimmt, ist fraglich. Sie selbst sei 2018 nach al-Hol gekommen, aus
Baghuz, der IS-Hochburg.
Einige Männer klagen, jemand hätte das Chaos der Razzia ausgenutzt, um
Sachen aus den Zelten zu stehlen. Eine weitere Frau, Meyan,
vollverschleiert und mit löchrigen Handschuhen, beschwert sich, ihre
Tochter sei Irakerin, doch mit einem Syrer verheiratet. Als Ausländerin
dürfe sie nicht aus dem Lager, und in den Irak dürften ihre Kinder nicht,
denn sie haben nur die syrische Staatsangehörigkeit. Ein 31jähriger Mann
mit Adidas-Shirt und breitem Grinsen, der Handyzubehör in einem engen Raum
verkauft und sich Abu Yusef nennt, sagt, er wolle mit dem nächsten
freiwilligen Kontingent zurück in den Irak. Hier, für seine fünf Kinder,
sieht er keine Zukunft. Keine guten Schulen, keine guten Jobaussichten.
Derweil sitzen die Frauen und Kinder im Annex weiter unter der Sonne. Am
Nachmittag verkündet Siamand Ali vor den Journalist*innen, dass die SDF 16
IS-Männer verhaftet und drei Kalaschnikows, zwei Pistolen sowie Patronen
beschlagnahmt haben. Die Razzien werden indes noch Tage weitergehen.
Einige Wochen nach dem Besuch in al-Hol haben die SDF ein Abkommen mit der
syrischen Regierung getroffen. Sie wollen die freiwillige Rückkehr von
Syrer*innen unterstützen. Doch die Ausländer*innen bleiben im Lager,
mitten in der Wüste, unter der sengenden Sonne.
1 Jun 2025
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## AUTOREN
Serena Bilanceri
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„Islamischer Staat“ (IS)
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