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# taz.de -- Wahlen in der Türkei: Einheit gegen Erdoğan
> Die türkische Opposition steht vor den Wahlen geschlossen wie nie
> zusammen. So hat sie eine Chance gegen den schwächelnden Amtsinhaber
> Erdoğan.
Bild: Oppositionskandidat Kemal Kiliçdaroglu am Sonntag bei einer Wahlkampfver…
Izmir taz | Links leuchtet das Meer, und vor der Bühne, so weit das Auge
reicht, eine schier unendliche Menschenmenge: Als Istanbuls
Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu nach einer sehr emotionalen Rede erschöpft
das Mikrofon aus der Hand gibt, ertönt unmittelbar danach aus tausenden
Lautsprechern sein Slogan, der längst zum Leitmotiv der Oppositionskampagne
geworden ist: „Her şey çok güzel olacak“ – „Alles wird sehr schön w…
Gefühlt 100.000 Stimmen auf dem Platz am Meer in Izmir stimmen am Sonntag
mit ein, es scheint, als würde hier bereits der Sieg gefeiert. Rundum
strahlende Gesichter, die Leute hüpfen zum Sound aus den Lautsprechern hoch
und runter, die Menge ist wie elektrisiert. Am 14. Mai stimmt die Türkei
über ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten ab. Der Wahlkampf ist
im vollen Gange.
Als am Ende eines langen Nachmittags dann endlich auch der Kandidat selbst,
Kemal Kiliçdaroğlu, auf die Bühne tritt, ertönt noch einmal ein Aufschrei
auf dem Platz. Der Präsidentschaftskandidat der Opposition, noch vor
wenigen Wochen von vielen als Langweiler abgetan, wird gefeiert wie ein
Popstar. Fast egal, was er sagt, ob er den Erstwählern eine glänzende
Zukunft verspricht oder behauptet, man werde das von der aktuellen
Regierung gestohlene Geld wieder zurückholen: Jeder Satz wird begeistert
beklatscht.
Die Botschaft von Izmir ist deutlich: Der Kandidat und seine Anhänger haben
keinen Zweifel, dass sie am 14. Mai die „Schicksalswahl“ der Türkei
gewinnen werden. Es gibt gute Gründe, dass diese Überzeugung realistisch
ist. Die Umfragen für Kiliçdaroğlu sind gut, nie waren bislang mehr Leute
bei den Wahlveranstaltungen des Oppositionskandidaten, und nie war [1][die
Opposition gegen den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan] so
selbstbewusst wie in diesen Tagen. Sicher, die Metropole an der Ägäis ist
seit Jahrzehnten eine Hochburg der Opposition. Doch auch in anderen Städten
zeigt sich, dass immer mehr Menschen nach 22 Jahren Erdoğan an der
Regierung die Nase voll haben.
## Sie wollen Erdoğan überwinden
Das letzte Wochenende war noch einmal eine wichtige Demonstration der
Einheit. Alle ParteiführerInnen der Sechser-Koalition, einschließlich der
Frontfrau der IYI-Parti, Meral Akşener, die noch unmittelbar vor der
Nominierung von Kiliçdaroğlu Zweifel an ihm geäußert hatte, gingen in Izmir
auf die Bühne. Die demonstrative Einigkeit und Unterstützung für
Kiliçdaroğlu ist so deutlich, dass sie von niemandem mehr in Zweifel
gezogen wird.
Alle Wut, alle Verzweiflung und alle Demütigungen der letzten 20 Jahre
kulminieren nun in einer einzigen Forderung: Erdoğan muss weg! Sicher, es
geht um eine bessere Wirtschaftspolitik, die Rehabilitation der Justiz, um
Recht, Gesetz und Demokratie, wie immer wieder skandiert wird, doch erst
einmal muss die Alleinherrschaft des amtierenden Präsidenten überwunden
werden.
Schon vor Wochen sagte einer der wichtigsten oppositionellen Journalisten
von der Zeitung BirGün, es dürfe nur ein Ziel geben, dem sich alle
unterordnen müssen: „Karthago muss fallen, Karthago muss fallen“. Damals
war noch nicht klar, wer letztlich Präsidentschaftskandidat der Opposition
werden würde. „Egal, wer nominiert wird, alle müssen ihn unterstützen. Eine
andere Chance haben wir nicht mehr“, schrieb die Zeitung.
Daran hat die oppositionelle Sechserkoalition sich gehalten. Angefangen bei
der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP von Kiliçdaroğlu, über die
rechtsnationalistische IYI-Parti von Meral Akşener bis zu den beiden
früheren AKP-Ministern Ahmet Davutoğlu und Ali Babacan bleiben alle bei
dieser Marschroute. Es gibt keine Misstöne oder Querschläger, und das gilt
selbst für den Umgang mit der kurdischen HDP, obwohl Erdoğan genau an
diesem Punkt versucht, die Opposition auseinanderzutreiben.
## Krönungsmesse in Izmir
Bevor Kiliçdaroğlu am letzten Sonntag seine Krönungsmesse in Izmir feierte,
hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan unmittelbar am Tag davor auf demselben
Platz seinen ersten großen Live-Auftritt nach seinem krankheitsbedingten
Ausfall in der Woche zuvor. Was zu einer Art Auferstehung hätte werden
sollen, geriet dann tatsächlich zu einem peinlichen Hin und Her um die
Frage: Kommt er oder kommt er nicht? Obwohl [2][der angeschlagene
Präsident] am Samstagvormittag schon live bei einer Waffenmesse am alten
Istanbuler Flughafen aufgetreten war und deshalb alle in Izmir wussten,
dass Erdoğan wieder auf den Beinen stand, ließ er seine Fans doch fast drei
Stunden im Ungewissen, ob er nun kommen würde oder nicht.
Das Gerücht breitete sich aus, Erdoğan sei enttäuscht, weil zu wenig Leute
auf dem Platz wären, und er wolle deshalb nicht auftreten. „Nein, das kann
nicht stimmen“, machte sich ein Senior am Rande der Menge Mut. „Unser
Präsident kommt gleich“. Die Stimmung, die sowieso nicht gerade
enthusiastisch war, ging immer weiter in den Keller.
Als Erdoğan dann endlich doch noch auf der Bühne erschien, war er im
Vergleich zu früheren Wahlkampagnen kaum wiederzuerkennen. Statt
Aufbruchstimmung hatte er nur eine Botschaft: Kiliçdaroğlu sei der Kandidat
der „PKK-Terroristen“, weil die kurdische HDP neben vielen anderen auch zur
Wahl des Oppositionsführers aufgerufen hatte. Doch selbst bei dem eigenen
Anhang kann er mit diesem ständig wiederholten Anwurf kaum noch Empörung
auslösen. Deshalb verlegt sich der Präsident mehr und mehr auf Drohungen.
Einer Regierung von „Kandils Gnaden“, dem Hauptquartier der PKK im
Nordirak, „werden wir nicht dieses Land überlassen“, sagte er einen Tag
nach seinem enttäuschenden Auftritt in Izmir. Schon zuvor hatte sein
Innenminister orakelt, ein Sieg der Opposition wäre „ein Putsch des
Westens“. Je schlechter die Umfragen für Erdoğan aussehen, umso mehr nehmen
die Drohungen zu. „Wird der Präsident eine Niederlage überhaupt
anerkennen?“, fragen sich deshalb immer mehr Menschen in der Türkei.
In den sozialen Medien wird davor gewarnt, sich von diesen Drohungen
irritieren zu lassen. „Geht wählen, nehmt eure Nachbarn mit, erteilt der
Alleinherrschaft eines Mannes eine klare Absage“, ist auch die Antwort von
Kemal Kiliçdaroğlu. „Je deutlicher die Niederlage der Regierung ist, umso
schwieriger wird es ihnen fallen, durch Manipulation und Tricksereien
unseren Sieg infrage zu stellen“.
4 May 2023
## LINKS
[1] /Vor-den-Wahlen-in-der-Tuerkei/!5918739
[2] /Wahlkampf-in-der-Tuerkei/!5930887
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Wahlen in der Türkei 2023
Recep Tayyip Erdoğan
Kemal Kılıçdaroğlu
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Türkei
Wahlen in der Türkei 2023
Wahlen in der Türkei 2023
Schwerpunkt Pressefreiheit
Kolumne Der rote Faden
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