Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Wahl in der Türkei: Das Ende einer Ära?
> Von der Macht will Erdoğan auch nach 20 Jahren nicht lassen. Aber diese
> Wahl wird kein Selbstläufer, nicht nur wegen seiner sinkenden
> Popularität.
Bild: Istanbul sechs Tage vor der Präsidentschaftswahl: Amtsinhaber Erdoğan h…
ISTANBUL taz | Seit 20 Jahren beherrscht der heute 69-jährige Recep Tayyip
Erdoğan die Türkei. Diese Ära könnte am Sonntag zu Ende gehen. Unter
TürkInnen kursiert in den vergangenen Wochen ein Spruch, der an den Beginn
von Erdoğans Herrschaft erinnert und eine Erklärung für das mögliche Ende
sein könnte: „Er kam mit einem Beben, und er geht mit einem Beben.“
Als Erdoğans neu gegründete AK-Parti im Herbst 2002 erstmals die Wahlen
gewann und Erdoğans 2003 Ministerpräsident wurde, lag das Land
wirtschaftlich am Boden. Im Sommer 1999 hatte ein schweres Erdbeben nur 100
Kilometer östlich von Istanbul 20.000 Menschen getötet und einen großen
Teil der industriellen Grundlage der Türkei zerstört.
Die damals regierende fragile Koalition aus Sozialdemokraten, Kemalisten
und Rechten unter der Führung des alt gewordenen Bülent Ecevit, bekam die
Folgen des Erdbebens nicht in Griff, was zu einer Bankenkrise und am Ende
zu einer schweren Wirtschaftskrise führte. Die Zeit war reif für einen
politischen Neuanfang, und Erdoğans AKP gewann aus dem Stand heraus eine
absolute Mehrheit im Parlament. Die heutige Situation in der Türkei
erinnert in einigen Punkten an diese Zeit.
Die Wirtschaft ist seit Längerem in einer Abwärtsspirale, Inflation und
Preisanstieg bedrohen außer den ärmeren Schichten auch den Mittelstand, und
die Leute haben kaum noch Hoffnungen, dass sich das unter Erdoğan ändern
könnte. Und dann kam Anfang Februar auch noch das schwere Erdbeben hinzu,
bei dem Zehntausende Menschen ihr Leben verloren und eine ganze Region im
Südosten der Türkei zerstört wurde.
## Ein Block gegen ihn
So wenig wie Ecevits Regierung in den Jahren 1999 und 2000, bekommt die
Erdoğan-Regierung nun die Folgen dieses Jahrhundertbebens in den Griff.
Ein riesiges Gebiet vom östlichen Mittelmeerrand bis in die anatolischen
Berge im Osten versinkt in völliger Hoffnungslosigkeit. [1][Viele Menschen
überleben nur durch zivilgesellschaftlich organisierte humanitäre Hilfe]
oder sind zu Verwandten in andere Teile des Landes geflüchtet.
Anders als im Jahr 2002 ist zwar jetzt keine ganz neue Partei am Start,
aber dass enge Bündnis von sechs Oppositionsparteien ist durchaus ein
Novum für die Türkei, in der Erdoğan in den vergangenen 20 Jahren immer
wieder von einer notorisch zerstrittenen Opposition profitiert hat.
[2][Jetzt tritt ein geschlossener Block gegen ihn an], der ideologisch von
linken Sozialdemokraten über Kemalisten, Nationalisten, enttäuschte
AKP-Anhänger bis zu einer kleinen islamistischen Partei reicht. Im
Wahlkampf zeigt dieses Bündnis eine große Geschlossenheit und hat darüber
hinaus auch noch die [3][Unterstützung der kurdischen HDP], die ebenfalls
zur Wahl des oppositionellen Präsidentschaftskandidaten [4][Kemal
Kılıçdaroğlu] aufruft.
## Millionen von Menschen landeten erstmal in Slums
Ein Wahlsieg der Opposition entspräche aber auch den langfristigen
soziologischen Trends der Türkei. Um die Jahrtausendwende befand die Türkei
sich in einer völlig anderen Situation als heute. Ab den 1970er Jahren des
vorigen Jahrhunderts hatte im Land eine regelrechte Völkerwanderung
eingesetzt.
Noch Mitte der 1960er Jahre lebten 70 Prozent aller TürkInnen auf dem Land
und nur 30 Prozent in der Stadt. Istanbul hatte 1965 nur 1,5 Millionen
Einwohner. Heutzutage hat Istanbul zwischen 16 und 18 Millionen
EinwohnerInnen und insgesamt leben nur noch 30 Prozent der TürkInnen auf
dem Land, alle anderen sind in die Städte, überwiegend in die Metropolen
eingewandert.
Diese Millionen von Menschen, die ihre Dörfer verließen und auf der Suche
nach Arbeit in die Metropolen zogen, landeten dort erst einmal überwiegend
in den Slums der Außenbezirke. Sie waren arm und kulturell blieben sie
zunächst weiterhin im Dorf.
## Noch stärker an Religion klammern
Weil sie sonst nichts hatten, klammerten sie sich stärker an die Religion
und den religiösen Habitus, als sie es in den Dörfern zuvor getan hatten.
Erdoğans Familie war genau eine dieser nach Istanbul eingewanderten
Dorffamilien, und Erdoğan wurde zum Helden und Role-Model dieser
BinnenmigrantInnen, die Ende der 1980er Jahre die Mehrheit der Bevölkerung
ausmachten.
Erdoğan wurde der Präsident dieser Leute, und weil er wenigstens in den
ersten Jahren seiner Herrschaft auch für deren wirtschaftliche und
kulturelle Interessen eintrat und ihre Situation spürbar verbesserte,
wurde er ihr Held, dem sie jedes Wort glaubten und deren Gefolgschaft auch
durch alle politischen Wendungen ihres „Reis“ (Führers) nicht erschüttert
wurde.
Mittlerweile hat sich die soziologische Situation der türkischen
Gesellschaft aber verändert. Die Kinder und Enkel der ehemaligen
Landbevölkerung, die in die Metropolen gewandert ist, sind heute
selbstverständlicher Teil der städtischen Gesellschaft. Sie haben sich
modernisiert und stellen andere Ansprüche als ihre Eltern und Großeltern.
Blinde Gefolgschaft für einen politischen Führer ist nicht mehr
selbstverständlich, und auch die „religiöse Generation“, die Erdoğan vom
türkischen Bildungssystem gefordert hatte, sind sie nicht geworden.
## Viele junge Menschen lehnen ihn ab
Der ganz überwiegende Teil der ErstwählerInnen und WählerInnen unter 30
lehnt Erdoğans autoritären Stil, sein patriarchales Gehabe und die
Unterdrückung der Meinungsfreiheit heute ab. Hinzu kommt, dass Erdoğan seit
der Niederschlagung des Gezi-Aufstands 2013 und der folgenden Stagnation
der Wirtschaft immer weniger zu verteilen hat. Statt das durchschnittliche
jährliche Pro-Kopf-Einkommen – wie von ihm versprochen – von 10.000 auf
20.000 Dollar zu steigern, ist es wieder deutlich unter 10.000 Dollar
abgerutscht.
Seit er 2014 erstmals Präsident wurde, werden die noch vorhandenen Profite
mehr und mehr nur noch auf Erdoğans Clique verteilt, was natürlich auch
seine WählerInnen zu spüren bekommen. Um seine Macht dennoch zu sichern,
hat Erdoğan die Repression seit dem Putschversuch 2016 deutlich
ausgeweitet. Es betrifft jetzt nicht mehr nur Kurden, Aleviten,
regierungskritische Journalisten und die LGBTIQ- Community, sondern jeden
politischen Abweichler, auch aus den eigenen Reihen.
Alles zusammen hat dazu geführt, dass Erdoğans Popularität seit Jahren
schrumpft. Das deutlichste Zeichen dafür, dass seine Ära zu Ende geht,
waren die Kommunalwahlen 2019. Seine AKP verlor nicht nur in Istanbul und
Ankara, sondern in den neun größten Städten des Landes.
Die [5][Bürgermeister dieser Metropolen] sind so etwas wie die hiesigen
Ministerpräsidenten. Sie unterstützen den Oppositionskandidaten
Kılıçdaroğlu, allen voran Ekrem İmamoğlu aus Istanbul und Mansur Yavaş
aus Ankara. Erdoğans scheinbare Allmacht erodiert schon länger, das
Erdbeben könnte jetzt für sein politisches Aus der letzte Anstoß gewesen
sein.
14 May 2023
## LINKS
[1] /Wiederaufbau-nach-Erdbeben-in-Tuerkei/!5924719
[2] /Wahlen-in-der-Tuerkei/!5928729
[3] /Tuerkische-Angriffe-auf-Kurden-in-Syrien/!5929943
[4] /Vor-den-Wahlen-in-der-Tuerkei/!5918739
[5] /Wahlkampf-in-der-Tuerkei/!5905679
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Wahlen in der Türkei 2023
Recep Tayyip Erdoğan
wochentaz
Präsidentschaftswahl in der Türkei
Türkei
Schwerpunkt Türkei
Kemal Kılıçdaroğlu
Wahlen
Kolumne La dolce Vita
Recep Tayyip Erdoğan
Wahlen in der Türkei 2023
Wahlen in der Türkei 2023
Präsidentschaftswahl in der Türkei
Kemal Kılıçdaroğlu
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kurd*innen in der Türkei: Die tragenden Säulen der Proteste
In der deutschen Berichterstattung über die Wahlen in der Türkei fehlt die
kurdische Perspektive. Für Kurd*innen geht der Kampf weiter.
Wahlen in der Türkei: Opposition setzt auf zweite Wahlrunde
In einer Stichwahl zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu wird über das künft…
türkische Staatsoberhaupt entschieden. Stimmen werden noch ausgezählt.
+++ Nachrichten zur Türkei-Wahl +++: Stichwahl steht fest
Erdoğan bleibt unter 50 Prozent der Stimmen. In 14 Tagen tritt er dann
gegen Herausforderer Kılıçdaroğlu in einer Stichwahl um die Präsidentschaft
an.
Die Türkei vor den Wahlen: Denunziation per Mausklick
Erdoğans AKP hetzt, was das Zeug hält. Aber reicht all das, um ohne
Manipulation der Auszählung die Wahlen in der Türkei für sich zu gewinnen?
Vor den Wahlen in der Türkei: Es geht um Erdoğans Macht
Die Türkei wählt am Sonntag ihr Parlament und ihren Präsidenten. Aber sind
die Wahlen fair? Und was hat es mit der Stichwahl auf sich? Ein kurzes Q&A.
Vor den Wahlen in der Türkei: Die Opposition ist optimistisch
Durch den Rückzug eines Zählkandidaten steigen die Chancen auf einen
Wahlsieg der Opposition. Vor allem junge Leute wollen den Wechsel.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.