# taz.de -- Memoiren von Nobelpreisträger Sen: Erinnerungen eines Gottlosen | |
> Der Sozialwissenschaftler Amartya Sen hat seine Memoiren verfasst. Das | |
> Buch bietet ein intellektuelles Panorama von England im 20. Jahrhundert. | |
Bild: Schon als Jugendlicher entdeckte Amartya Sen seine Leidenschaft für Math… | |
Der 1933 geborene Friedens- und Nobelpreisträger für | |
Wirtschaftswissenschaften Amartya Sen lebte bis zum sechsten Lebensjahr im | |
Haus seiner Großeltern in Dhaka, das zu Ostbengalen, ab 1947 zu Ostpakistan | |
und seit 1971/72 zu Bangladesch gehört. Sens Vater war Chemieprofessor in | |
Kalkutta, sein Großvater hochgebildeter Richter, der seinem Enkel das | |
antike Sanskrit und [1][dessen Literatur, Geschichte und Philosophie] | |
nahebrachte. | |
Noch entscheidender für die Bildung des Kindes und Jugendlichen war jedoch | |
der Einfluss des westbengalischen Dichters, Philosophen, Bildungsreformers | |
und Literaturnobelpreisträgers von 1913 – Rabindranath Thakur Tagore | |
(1861–1941), der in Kalkutta und Santiniketan die bengalische Schule und | |
eine „Weltuniversität“ gründete. | |
Als Schulreformer trat Tagore für die Abschaffung des hinduistischen | |
Kastensystems und der Prügelstrafe in der Schule zu einem Zeitpunkt ein, | |
als die Disziplin der Soldaten in der britischen Armee in Indien noch durch | |
Auspeitschen mit dem in Urin getauchten, weltweit berüchtigten | |
Folterinstrument „neunschwänzige Katze“ („cat o’ nine tails“) durchg… | |
wurde und damit Soldaten lebenslang buchstäblich brandmarkte, was die große | |
Zahl von Deserteuren aus britischen Einheiten zu russischen zumindest zum | |
Teil erklärt, wie der Militärexperte Friedrich Engels bereits während des | |
Krimkriegs Mitte des 19. Jahrhunderts plausibel darlegte. | |
Schon als Jugendlicher entdeckte Sen seine Leidenschaft für Mathematik, | |
Physik und Sanskrit. Sanskrit war zwar auch die Sprache der Priesterschaft, | |
aber beim Studium der alten Grammatiker, etwa Paninis aus dem 4./5. | |
Jahrhundert v. u. Z., erkannte er in der alten Sprache ein „Medium | |
rationalen, ja materialistischen Denkens“. | |
Eine Vermischung von Ethik mit Religion und Politik, wie sie im Krieg der | |
verfeindeten Staaten Indiens und Pakistans bei der Abspaltung | |
Bengalens/Ostpakistans von Indien aufkam und Millionen von Muslimen der | |
Rache der militanten Hindus auslieferte oder diese aus ihrer Heimat | |
vertrieb, war Sen fremd. | |
## Skeptisch gegenüber Religion und Dogmen | |
Daraus resultierte eine lebenslange Abneigung gegen die Reduktion von | |
Menschen auf eine eingebildete, auf jeden Fall einzige religiöse, ethnische | |
oder politische Identität. Obwohl er Gautama Buddha und sein Werk | |
bewunderte, blieb er seiner Abneigung gegen religiös motivierten Fanatismus | |
und sich darauf berufende Identitätsansprüche zeitlebens treu. | |
Skeptisch blieb Sen auch gegenüber abstrakten moralischen Dogmen und | |
Pflichten. „Wir bräuchten eine andere – und bessere Welt, anstatt einfach | |
althergebrachte Regeln und Konventionen zu befolgen.“ Richtig zu handeln, | |
war ihm wichtiger als das Richtige zu glauben. | |
Im Bekenntnis zu wie in der Aufnötigung von „singulären Identitäten“ | |
erkannte Sen früh die Affinität zu Diskriminierung, Ungleichheit und | |
letztlich Gewalt. Trotz seiner Verwurzelung in der buddhistischen Tradition | |
bezeichnete sich Sen später als „gottlosen Sozialwissenschaftler“. | |
1953 ging Sen zum Studium nach Cambridge in England. An der dortigen | |
Universität, besonders am Trinity College, hatte damals „niemand so hohes | |
intellektuelles Ansehen wie Karl Marx“. Sen kam in Kontakt mit Piero | |
Sraffa, dem Herausgeber von Ricardos Werk und innovativen Marx-Interpreten, | |
mit den Historikern [2][Eric Hobsbawm] und Steadman Jones, den Marxisten | |
Maurice Dobb und Joan Robinson. | |
Wissenschaftlich prägte ein Streit zwischen Anhängern der | |
Grenznutzenschule, der Neoklassik, von Keynes, von Marx das intellektuelle | |
Klima und Niveau der Institution. | |
Sen trat verschiedenen Clubs bei (so dem Cambridge Socialist Club und der | |
Conversazione Society The Apostles, die sich später als Hort sowjetischer | |
Spionage (Guy Burgess, Anthony Blunt), entpuppte. Am Trinity College | |
lernte Sen Studierende aus dem ganzen gerade untergehenden Empire kennen. | |
Und wissenschaftlich verschrieb er sich der Erforschung der Wohlfahrts- und | |
Entwicklungsökonomie sowie der Preistheorie, über die er auch promovierte. | |
Zu seinem Nachteil gerät dem streckenweise sehr informativen Buch die | |
insgesamt etwas viel Platz einnehmende Darstellung von Sens großer und | |
verzweigter familiärer Verwandtschaft. Hier nähert sich das Buch dem bloßen | |
Namedropping. | |
8 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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