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# taz.de -- Studie „Der Sommer des Großinquisitors“: Jesus kam nicht bis M…
> In der Studie „Der Sommer des Großinquisitors“ entfacht Helmut Lethen,
> fasziniert von Dostojewski, ein Feuerwerk der Belesenheit.
Bild: Der Schriftsteller und Philosoph Fjodor Michailowitsch Dostojewski 1861
„Die Faszination des monotheistisch Bösen, die sich an politische,
militärische oder religiöse Gehäuse klammert, hat ausgedient.“ Schön wäre
es, wenn das Fazit dieses Buches zuträfe.
Kurz nachdem es geschrieben war, stellte das Böse im russischen
Vernichtungskrieg gegen die Ukraine wieder seine ganze Faszinationskraft
unter Beweis – bei den Exekutoren von Putins Mordbefehlen und den
Kollaborateuren im Bundestag oder am Stammtisch. Und bei allen, die
unverdrossen mit einem Land Geschäfte anbahnen, das sich so bösartig zeigt
wie auf Xi Jinpings Parteitagen der KP Chinas.
Helmut Lethen war die hoffnungsvolle Sentenz nicht im Blick auf die
Weltlage in den Sinn gekommen, sondern in der Nachverfolgung eines
literarischen Motivs, das so allbekannt wie apokryph ist: der Episode „Der
Großinquisitor“ in [1][Fjodor M. Dostojewskis] Roman „Die Brüder Karamaso…
(1881). Darauf kam der Kulturwissenschaftler, berühmt geworden durch seine
„Verhaltenslehren der Kälte“ (1994), im Coronasommer, als er sich „die
großen Russen“ zur Lektüre vorgenommen hatte.
## Jesus kehrt zurück nach 1.600 Jahren
Der Inhalt des 30-seitigen Romanexkurses in aller Kürze: Iwan Karamasow,
ein atheistischer Intellektueller, erzählt seinem Bruder, dem frommen Mönch
Aljoscha, die Fantasie von einer Begegnung des nach 1.600 Jahren auf die
Erde zurückgekehrten (und sogleich wieder Wunder wirkenden) Jesus mit dem
Großinquisitor in Sevilla.
Der ist alles andere als beglückt, dem Sohn Gottes zu begegnen, vielmehr
will er ihn mit anderen Ketzern dem Scheiterhaufen der spanischen
Inquisition überantworten. Denn der vom Papst eingesetzte Strafverfolger,
das ist die erste Pointe, ist im Bunde mit dem Teufel, ja dieser selbst. Er
behauptet, die Katholische Kirche habe sich zu Recht vom Jesusideal der
Bergpredigt abgewandt und aus guten Gründen in eine autoritäre Maschine
verwandelt.
Lethen sieht darin einen Diskurs der Herrschaft bis ins 20. Jahrhundert
hinein angelegt. „Wer Macht ausüben wolle, müsse die Gebote der Bergpredigt
zu den Akten legen, Empörung führe zwangsläufig zu Vernichtung, die
Willensfreiheit sei ein trügerisches Geschenk. Die Einschätzung von
Machtverhältnissen solle nicht durch Kategorien der Moral verstellt werden,
realitätstüchtige Politik müsse sich diabolischer Mittel bedienen, die
Verwaltung zukünftigen Heils möge man der Kirche überlassen. Humanismus
erzeuge nur kraftlose Kreaturen, Ohnmacht ziehe Aggressoren an. […] Gott
ist tot, doch die Teufel sind sehr lebendig; letztlich sind nur sie
Garanten des Machterhalts.“
## Aus libertären Rebellen wurden Möchtegernstalinisten
Der Dostojewski-Begeisterte gesteht, wie sehr ihn „die Sätze der
kardinalroten Klugheitslehre faszinierten“. Warum eigentlich? Kokette
Anspielungen lassen erkennen, dass auch der einstige Maoist totalitären
Ideologien erlegen war und das Problem heute in der eigenen Beziehung hat.
Aus libertären Rebellen wurden Möchtegernstalinisten, (zu viel?) Freiheit
führt in Selbstversklavung. Heute gibt er natürlich Albert Camus recht.
Einige Kapitel sind wahre Kabinettstücke geworden, die den „Sound der
Väter“ hörbar machen und „Staatsräten“ bei der Arbeit zuschauen ([2][um
Lethens jüngere Bücher zu zitieren]).
Die meisten sind westlichen Intellektuellen von Max Weber über Carl Schmitt
bis Helmut Lethen gewidmet, die sich mal mehr, mal weniger (Thomas Mann)
auf das Großinquisitormotiv eingelassen haben – am meisten esoterische
Epigonen und der Wiener Dandy René Fülöp-Miller (1891–1963), der in den
1920er Jahren Dostojewskis Nachlass sicherte.
Die philologische Verifizierung der Motivwanderung hat Lethen, wie er
freimütig einräumt, Slawisten überlassen, er schwingt sich freihändig durch
Höhen und Tiefen des Ideenhimmels und entzündet ein Feuerwerk der
Belesenheit, das bisweilen durch eine übermäßige Fixierung auf den großen
Russen verdunkelt wird.
Mit den beiden Russen, die Dostojewski weiterdachten, hat Lethen eher
Schwierigkeiten. Der einst führende russische Philosoph Wladimir Solowjow
(1853–1900) holte den Großinquisitor in seiner „Kurzen Erzählung vom
Antichrist“ (1890) in die Gegenwart; Russland, dessen geistige Welt damals
zwischen Slawophilie, Westorientierung und Revolutionsfurcht schwankte,
wollte er in eine christliche Theokratie verwandeln.
## Der Antichrist im gottlosen Westen
Wenn Christus wiederkäme, würde er sich mit seinem zynischen Gegenüber vom
katholischen Imperium abwenden, Moskau zum dritten Rom erheben und den
Antichrist im gottlosen Westen besiegen.
Der weniger bekannte Philosoph Wassili Rosanow (1856–1919), der
Dostojewskis einstige Geliebte Polina Suslowa ehelichte, sah Gott allein im
orthodoxen Russland beheimatet, nur dort herrsche noch die „Vorstellung des
gütigen Gottes, des Mitleids und der grenzenlosen Duldung“. Kein Wunder,
dass dieses Raunen die Antieuropäer in Moskau und ihre Freunde im Westen am
stärksten begeistert.
Wie interpretiert man nun die zweite Pointe des Romanexkurses, den
überraschenden Abschiedskuss des Gottessohns, der dem konsternierten
Großinquisitor während seiner Suada schweigend ins Gesicht geblickt hat und
ihn am Ende einfach stehen lässt? Vielleicht wie der von Lethen nur
gestreifte rheinisch-katholische Schriftsteller Stefan Andres, der 1936
seinen Roman „El Greco malt den Großinquisitor“ im Nazi-Deutschland
publizieren konnte, weil Kritik am Katholizismus ankam, auch wenn die
verdeckte Kritik der NS-Tyrannei kaum zu überlesen war.
Nach der Anfertigung des von dem Großinquisitor Fernando Niño de Guevara
bestellten Porträts legt er dem Maler des 1600 entstandenen Gemäldes die
Künstlerworte in den Mund: „Wisst, es ist umsonst, die Inquisitoren zu
töten. Was wir können, ist – das Antlitz dieser Ächter Christi
festzuhalten.“ Jesus war stärker als der von El Greco malerisch erledigte
Inquisitor.
## Dostojewskis rüder Judenhass
Der politisch-theologische Ost-West-Gegensatz wird von Putins imperialer
Propaganda eifrig gepflegt. Da wirkt es befremdlich, dass Lethen
Dostojewskis Publizistik auslässt, die eindeutiger als seine
vielschichtigen Romanfiguren eine antiliberale und antiwestliche Spitze
aufweist und oft in rüden Judenhass abstürzt.
Sicher ist ein vor 140 Jahren in Tageskämpfe verwickelter Schriftsteller
nicht für aktuelle Entwicklungen verantwortlich, aber zum vollständigen
Dostojewski gehört, dass auch er eine christliche Theokratie unter der
aggressiven Führung Russlands befürwortete und alle Übel in den Westen
verlegte.
Im „Tagebuch eines Schriftstellers“ kommentierte er zur Krimfrage, „dass
man die Tataren nicht schonen sollte, sie sollen abgeschoben werden, und an
ihrer Stelle sollen Russen die Halbinsel kolonisieren“. Denn „wenn die
Russen nicht an ihre Stelle treten, werden die Juden mit Sicherheit die
Krim angreifen und den Boden der Region zerstören“.
Dass Aljoscha Karamasows Traum von Russland als einem großen Kloster in den
Albtraum eines riesigen Gulags mündete, wurde in solchen Hetzereien
antizipiert. Und so folgte dem kurzen Sommer des Inquisitors noch stets der
lange Winter des Diktators.
18 Dec 2022
## LINKS
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[2] /Helmut-Lethen-auf-der-Buchmesse/!5492081
## AUTOREN
Claus Leggewie
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