# taz.de -- Zanetti „Spielarten des Kompromisses“: Triff mich in der Mitte | |
> Sie ist der Feind der großen Würfe und dennoch eine Tugend: die | |
> Verhandlungslösung. Véronique Zanetti zeigt die „Spielarten des | |
> Kompromisses“ auf. | |
Bild: Zuletzt und insbesondere in Lützerath hart zu akzeptieren: der Kohlekomp… | |
Als die Grünen vor fast vierzig Jahren in den Bundestag einzogen, hatten | |
die meisten irgendwelche „Atomkraft? Nein Danke!“-Buttons am Kragen. Jetzt | |
sind sie in der Regierung, der Atomausstieg rückt näher – und ausgerechnet | |
die Grünen müssen die Restlaufzeit von AKWs verlängern. Ein schmerzlicher | |
Kompromiss. Aber mit wem wird der überhaupt eingegangen? Mit der FDP, die | |
noch längere Laufzeiten wünscht? Oder eher mit der Wirklichkeit, also mit | |
neuen Umständen, die Pragmatismus erzwingen? | |
Der Kompromiss hat keinen guten Ruf: Er verwässert klare Prinzipien, wird | |
ihm nachgesagt. Ein Kompromiss ist etwas für Leute, die keine gefestigte | |
Haltung haben. Einen „Buh-Hurra-Begriff“ hat der israelische Philosoph | |
Avishai Margalit den Kompromiss einmal genannt. Mal wird er gefeiert, etwa | |
wenn langjährige Kriegsgegner endlich einen Kompromiss schließen, mal wird | |
er verdammt. | |
Margalit: „Kompromisse gelten manchmal als Ausdruck guten Willens, und bei | |
anderer Gelegenheit empfindet man sie als Wischiwaschi.“ Gern wird er mit | |
dem Attribut „lau“ versehen, nicht selten ist der Vorwurf des „faulen | |
Kompromisses“. | |
In der Philosophie ist der Kompromiss bisher weitgehend ignoriert worden, | |
schreibt die deutsch-französische Professorin für politische Philosophie, | |
Véronique Zanetti, in ihrer Studie „Spielarten des Kompromisses“. | |
Das Buch kulminiert in einem „Plädoyer für den Kompromiss“. Dabei macht es | |
sich die Autorin keineswegs leicht. Sie weiß, dass „große soziale | |
Veränderungen“ meist von jenen Menschen vorangetrieben wurden, „die sich | |
kompromisslos für eine Sache eingesetzt haben“. Aber zugleich sind diese | |
Veränderungen in Kompromissen verwirklicht worden. | |
Zanetti hält bei ihren Betrachtungen zunächst einmal zweierlei auseinander: | |
Den Kompromiss als „Prozess“, also den Aushandlungsprozess, und | |
andererseits das „Ergebnis“ – kurzum das, was in dem Aushandlungsprozess | |
herauskommt. Schon der Prozess selbst ist eine Tugend, denn er kommt nur in | |
Gang, wenn die Konfliktparteien den Vorrang einer friedlichen Lösung | |
anerkennen. In diesem Prozess sind es die Konfliktparteien selbst, die den | |
Kompromiss finden – und am Ende auch verteidigen. | |
Mal bewundern wir Menschen, die „konsequent“ sind, aber wer rigide und | |
kompromisslos ist, erweist sich nicht selten als eher anstrengender | |
Zeitgenosse. Wer mit seiner Meinung nie hinter dem Berg hält, nervt häufig. | |
Das Herdentier Mensch muss auf andere Rücksicht nehmen, wenn es durchs | |
Leben kommen will. „Ganz wir selbst“ können wir nur um den Preis der | |
Dissoziation sein. | |
Kompromisse geht man im Lebensvollzug ein. Manchmal geht man sogar | |
Kompromisse mit sich selbst ein. Und dann sind da die großen Kompromisse, | |
die politischen Kompromisse, seien sie in Koalitionsgesprächen oder | |
Friedensverhandlungen. Kompromisse in Sachfragen („Eingangssteuersatz 14 | |
Prozent oder doch besser 13?“) sind leichter zu finden als Kompromisse in | |
Wertefragen oder in solchen, die die eigene Identität berühren. | |
## Irgendwann Kompromiss mit Putin | |
Wirkliche „faule Kompromisse“ sind, so Zanetti, jene, die ein inakzeptables | |
moralisches Übel akzeptieren. Aber auch die können gerechtfertigt werden. | |
Irgendwann könnte auch ein Kompromiss mit Putin geboten sein. Während des | |
Holocausts verhandelten die Alliierten sogar mit Adolf Eichmann, der die | |
Rettung von einigen Tausenden Juden gegen die Lieferung von Lkws in | |
Aussicht stellte. | |
Kompromisse mit Despotien sind etwas fundamental anderes als Kompromisse | |
innerhalb von pluralistischen Demokratien. Hier ist die Kompromissbildung | |
im parlamentarischen Verfahren verankert. Absolute Mehrheiten hat sowieso | |
keiner mehr, und gäbe es sie, könnte man dennoch nicht mit 51 Prozent der | |
Stimmen gegen 49 Prozent andere streng durchregieren. | |
Mehr noch: Die tragende Idee ist, dass das Ergebnis kompromissorientierter | |
Verfahren am Ende besser ist als die divergierenden Ausgangspositionen, | |
weil es vielfältige Gesichtspunkte berücksichtigt. Véronique Zanettis Buch | |
ist eine Lobpreisung des Kompromisses. Der hat diese Würdigung verdient, | |
gerade in Zeiten einer viel beklagten Polarisierung. | |
9 Feb 2023 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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