| # taz.de -- Konzeptalbum über Atomtestgelände: Musik über (un)sichtbare Wund… | |
| > Galya Bisengaliewa veröffentlicht „Polygon“. Elektrisierende Musik, die | |
| > sich mit Auswirkungen von Atomtests auf Semipalatinsk beschäftigt. | |
| Bild: Irisierende Erscheinung: Galya Bisengaliewa | |
| Fjodor Michailowitsch Dostojewski lebte fünf Jahre am Arsch der Welt – in | |
| Semipalatinsk. Vom Zaren Nilokaus wurde der russische Schriftsteller 1854 | |
| aus der Hauptstadt Sankt Petersburg an die südöstlichen Ausläufer des | |
| Zarenreiches verbannt – an diesen Ort mit weniger als 10.000 Einwohnern. | |
| Ein gutes Jahrhundert nach Dostojewskijs Strafexpedition hat Semipalatinsk | |
| um die 300.000 Einwohner. Postkarten aus den 1970ern zeigen eine | |
| zentralasiatische sozialistische Vorzeigestadt. Nur 130 Kilometer entfernt | |
| vom sowjetischen Atomwaffentestgelände, das nach der Stadt benannt wurde. | |
| Von 1949 bis 1989 wurden hier ober- und unterirdisch 496 Atombomben | |
| gezündet. | |
| Galya Bisengaliewa wurde Ende der 1980er Jahre in Almaty, der Hauptstadt | |
| der Kasachischen Sowjetrepublik, geboren. Zu jener Zeit wurden im | |
| Nordostzipfel Kasachstans die letzten Atomtests durchgeführt. Die | |
| Lebenserwartung der dort lebenden Bevölkerung hatte durch die Tests rapide | |
| abgenommen und die Geburten von missgebildeten Kindern waren extrem | |
| anstiegen. | |
| ## Versalzung des Aralsees | |
| Bisengaliewa wollte weg und hat später am Royal College of Music in London | |
| studiert, inzwischen leitet sie das London Contemporary Orchestra. | |
| Konsequent erweitert die Künstlerin den Spielraum ihres Instruments, der | |
| Geige – und füllt damit die Konzertsäle. Schon mit ihrem Debütalbum | |
| „Aralkum“ (2020) kehrt sie thematisch in die alte Heimat zurück. In der | |
| Musik gibt sie der Austrocknung und Versalzung des Aralsees, einer der | |
| größten vom Menschen verursachten Umweltkatastrophen, über die Musik eine | |
| Stimme. | |
| Mit ihrem neuen Album „Polygon“ setzt Bisengaliewa diese musikalische | |
| Heimkehr fort. Sie befragt das Atomwaffentestgelände Semipalatinsk, auch | |
| Polygon genannt. Die Atomtests wurden Anfang der 1990er Jahre, nachdem | |
| Kasachstan unabhängig geworden war, zwar endgültig eingestellt. Der | |
| „Rückbau“ des Geländes dauerte aber noch bis in die nuller Jahre. | |
| Sieht man sich heute Fotos von Semipalatinsk an, fällt der hohe Grad der | |
| sichtbaren Verwundung von Erde und Landschaft auf. Die unsichtbare Wunde, | |
| die Verstrahlung, steht wie ein nicht unsichtbarer Schatten daneben. | |
| Bisengaliewa nähert sich in den sieben Tracks spezifischen Orten innerhalb | |
| des Testgeländes an. Sie nimmt Stimme und Geige als Ausgangsmaterial. | |
| Beides bearbeitet sie elektronisch und es wird beim Hören als | |
| Instrumentalmusik wahrgenommen. In „Alash-kala“ entsteht über die | |
| Elektronik ein enormer Echoraum, ein akustisch starkes Signal für die Weite | |
| der kasachischen Steppe. | |
| ## Wenn die Geige springt | |
| Die Geige springt darin herum wie ein Reh, ist nah und fern und wirkt | |
| dadurch unberechenbar, fast bedrohlich. Als die Windwellen zunehmen, | |
| unterstützt von einer leichten, sich steigernden Percussion, schiebt sich | |
| das Bild von der ersten Detonation einer sowjetischen Atombombe, 1949, vier | |
| Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg vors innere Auge. | |
| Erst nachdem Bisengaliewa das alles wieder weggenommen hat, kann man etwas | |
| entspannter zuhören: Der Echoraum hat das Bedrohliche kurz abgestreift. | |
| Alle sieben Tracks finden in der Musik Bilder für die Bedrohung, die nicht | |
| greifbar ist, aber buchstäblich in der Luft hängt. Manche Songs, wie | |
| „Polygon“, dauern über sieben Minuten. | |
| Das ist extrem fordernd, weil sich der Klangteppich beim Hören reinfrisst, | |
| nicht über das Ohr, sondern über die Haut. Man ist diesem Bedrohlichen, das | |
| diese Musik in jeder Faser transportiert, ungeschützt ausgeliefert. Und | |
| registriert gleichzeitig die bizarre klangliche Schönheit, an der man sich | |
| nicht erfreuen kann. | |
| Bisengaliewa hat Musik geschaffen mit Erkenntniswert – das Akustische | |
| dringt hier in Sphären vor, die dem Visuellen verschlossen sind. Sie kommt | |
| ohne Sprache aus und trotzdem ist diese Musik hochpolitisch. Sie klagt an | |
| und nimmt Partei für die unzähligen Opfer der Atomtests. Auf dem ehemaligen | |
| Testgelände ist die Verstrahlung bis heute höher als in Tschernobyl, die | |
| Schwererkrankten werden in der Regel nicht entschädigt. | |
| 23 Dec 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Katja Kollmann | |
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