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# taz.de -- AKW-Pläne in Kasachstan: Kühe am Atomsee
> In Semipalatinsk testeten die Sowjets ihre Atombomben. Die Menschen
> wissen, dass das Leben dort ungesund ist. Jetzt will Kasachstan dort ein
> AKW bauen.
Bild: Die Sowjets schufen den See zur Erholung und Bewässerung. Drei Mikrosiev…
SEMIPALATINSK taz | So sieht wohl die Geburtsstätte von Godzilla aus.
Schilfpflanzen umwuchern einen Tümpel in der Senke, die ein aufgeworfener
Sandwall umschließt. Ein rostiges Eisenrohr ragt aus der Erde. Das Erdloch
liegt inmitten einer Steppenlandschaft, die sich in alle Himmelsrichtungen
zum Horizont erstreckt. Die unterirdische Explosion einer Atombombe riss
auf dem einstigen sowjetischen Testgelände Semipalatinsk dieses Loch in den
Boden. Der Geigerzähler misst heute 0,443 Mikrosievert pro Stunde.
Bis 1989 explodierten 496 Atombomben auf dem Testgelände der damaligen
kasachischen Sowjetrepublik, über 100 davon oberirdisch. Über Semipalatinsk
ging die Sprengkraft von 2.500 Hiroshima-Bomben nieder. Heute kann der
Reisende ungehindert über die mit Kratern überzogene Steppe ziehen, ohne
von einem Schlagbaum oder einem Zaun abgehalten zu werden. Eine
Reiseagentur aus der nordkasachischen Stadt Karaganda organisierte bis vor
Kurzem sogar Touren auf das Gelände zum Fotoshooting im Krater.
Nicht weit vom Loch ragt eine Betonstele aus dem Boden. Mit Gesichtsmaske
und Gummistiefel springt der Fahrer aus dem Jeep und legt den Geigerzähler
auf das Gestein. Elf Mikrosievert pro Stunde gibt dieser tickend an. Kühe
ziehen grasend durch die Steppe.
## „Für uns war das aufregend“
Kutescham Abuischejwa kann sich noch an die überirdischen Explosionen
erinnern. Die heute 86-jährige Frau geht am Stock. Ein weißes Tuch bedeckt
ihren Kopf, und eine braune Samtweste ist über dem grüngelben Kleid
zusammengeknöpft. „Ein roter Feuerball stieg in den Himmel“, erinnert sich
die Kasachin. Zuvor seien Uniformierte ins Dorf gekommen und hätten ihnen
gesagt, sie sollen nicht in den Himmel gucken. „Aber wir waren doch noch
klein, und für uns war das aufregend“, sagt Abuischejwa, ein Lächeln huscht
über das runzlige Gesicht. Die Erde habe gebebt und das Geschirr im Schrank
geklirrt.
Die alte Frau wohnt noch immer in Abai unweit des Testgeländes. Das Dorf
besteht aus kleinen einstöckigen Gehöften mit Zaun und Gärten. Die älteste
Tochter hat Karriere gemacht und steht der Gemeinde als Bürgermeisterin
vor, die andere ist tot, sie starb vor zwanzig Jahren an Krebs.
Unmittelbar um das Testgelände liegen Dörfer und Ortschaften. Die meisten
Bewohner in den Siedlungen wollen sich nicht an die Zeit erinnern. Viele
weigern sich standhaft, mit Fremden oder gar mit Journalisten zu reden. Die
sonst in Zentralasien übliche Gastfreundschaft weicht in der Umgebung des
Testgeländes Misstrauen, ja Feindschaft. Die Schotterstraßen sind wie
leergefegt. Einige Männer sitzen vor dem Badehaus und lassen eine
Wodkaflasche kreisen. Ein Gespräch lehnen sie brüsk ab. Und der Hirte, der
am Abend bei Sonnenuntergang mit den Pferden und Kühen von der Steppenweide
heimkehrt, kommt gar knüppelschwingend auf Fremde zu.
## Besuch von Journalisten ist unerwünscht
In Sarjal, einem kleinen Ort am südöstlichen Ende des Testgeländes, sitzt
müde Ajschon Imadalijewa im geweißten Raum der Krankenstation. „Die
Menschen sterben an Krebs, haben dauerhaft hohen Blutdruck und sind
aggressiv“, beschreibt die Ärztin den Gesundheitszustand der Bevölkerung.
„Sie attackieren mich, wenn ich mit Journalisten rede“, berichtet sie. Seit
dem Zerfall der Sowjetunion kämen immer mehr Journalisten und Forscher in
den Ort und hörten sich die Geschichten an, aber die Menschen sähen keine
wirkliche Hilfe. „Das verbittert sie“, sagt die Ärztin, man wisse
schließlich, dass das Leben hier ungesund sei, und die Menschen wollten
nicht wie in einem Zoo angegafft werden. Viele möchten aber auch gar nicht
weg. „Die Gräber der Familie liegen doch hier.“
Zwischen Sarjal und der kasachischen Stadt Semipalatinsk liegt auf dem
Testgelände der Atomsee. Als Beweis, dass die Sprengkraft dieser Bomben
auch zu friedlichen Mittel eingesetzt werden könnte, schufen die
sowjetischen Techniker mit einer gewaltigen Explosion dieses Gewässer, das
der Erholung und Bewässerung dienen sollte. Sowjetische Soldaten sollen
damals im See gebadet haben.
Drei Mikrosievert pro Stunde gibt der Geigenzähler am aufgeschütteten
Seeufer an. Unweit des Sees wohnt ein Hirte. Der Wind weht harsch über die
Steppe. Zwei Gäule haben sich losgerissen und laufen in die Weite. Der
Farmer hetzt fluchend hinterher. „Mir geht es gut hier. Die Tiere sind
gesund und ich verkaufe das Fleisch auf dem Markt in Semi“, sagt der Mann,
nachdem er die Pferde wieder angebunden hat, außer Atem.
Auf die Frage, ob die Pferde und Kühe auch zum Atomsee gingen, fliegt ein
Grinsen über das wettergegerbte Gesicht. „Hier gibt es keine Zäune, wer
soll sie daran hindern?“
## Japanische Wissenschaftler beobachten und messen
Das von sowjetischen Stadtplanern geprägte Semipalatinsk liegt an den Ufern
des aus Sibirien kommenden Flusses Irtysch. In den Markthallen wird ab dem
frühen Morgen gehandelt. In der Fleischabteilung hängen die Keulen und
Stücke am Haken. Eine Verkäuferin erklärt, dass die Hirten von der Umgebung
das Fleisch zum Markt brächten.
Tolebai Rachibekow ist Direktor der medizinischen Universität in der
kasachischen Provinzhauptstadt. In dem ausladenden Büro liegt auf einer
Anrichte ein Samurai-Schwert. „Mit den japanischen Kollegen haben wir enge
Beziehungen“, sagt der 49-jährige Wissenschaftler stolz. Es gäbe weltweit
kaum einen Landabschnitt, wo die Menschen über einen so langen Zeitraum
ständig neuer Strahlung ausgesetzt waren.
„Die Belastung der Menschen ist hoch“, räumt der Wissenschaftler ein, sie
würden gerade erforschen, wie sich die genetischen Veränderungen entwickle.
Kasachstan arbeite daran, eine umfassende Datenbank anzulegen, die alle
Menschen erfasst, die erhöhter Strahlung ausgesetzt waren.
## Auf dem Friedshof ist Kaum einer über 60
Die Strahlung in den Dörfern sei heute nicht mehr lebensbedrohlich,
versichert Rachibekow. Aber man beobachte die Auswirkungen. „Auf unseren
Friedhöfen gibt es kaum das Grab eines Menschen, der älter als sechzig
Jahre geworden ist.“
Die Arbeiter auf dem Friedhof von Tolon bestätigt die Angaben des
Direktors. Das Dorf liegt am Nordufer des Irtysch, der Strom ist die Grenze
der baumlosen Steppe, und die Ruhestätten liegen in hohen Kiefernwäldern.
Auf den mit Fotos geschmückten Gräbern findet sich kein Grabstein mit
Jahreszahlen, die von einem Greis erzählen.
Das Dorf Tolon geriet bei den überirischen Atomexplosionen durch ungünstige
Winde in den direkten Fallout. Viele Häuser sind heute verfallen. Es gibt
keine Arbeit, und viele Menschen ziehen weg.
## Ballsäle für die Wissenschaftler
Panu Kenschibekowa und dessen Mann Nurgali sind geblieben. „Wo sollen wir
auch hin?“, fragt die 74-Jährige in der Küche neben dem Ofen, ihr
weißhaariger Mann mit einem Spitzbart nickt zustimmend. Der 40-jährige Sohn
sitzt apathisch am Tisch, spricht kaum, kann sich nicht konzentrieren und
starrt in die Luft. Er erhält Invalidenrente, raunt die Mutter. „Uns hat
das Schicksal getroffen! Unserer Sohn ist ohne Antrieb und eine Tochter
früh gestorben.“
Die Atombombentests, die die Strahlenwolke nach Tolon brachten, haben die
sowjetischen Wissenschaftler in Kurtschatow ausgeheckt. Die Forscherstadt
am nordöstlichen Zipfel des Testgeländes wurde Ende der vierziger Jahre
errichtet und trägt den Namen des Atomphysikers Igor Kurtschatow, des
Vaters der sowjetischen Atombombe, der hier von Beginn an gearbeitet hat.
Noch heute ziert ein Denkmal des spitzbärtigen Wissenschaftlers das
Stadtzentrum.
Großzügige Villen, Theater und Ballsäle wurden hier für die Wissenschaftler
errichtet. Am Sackbahnhof fuhr auch Andrei Sacharow in die geschlossene
Stadt ein, um hier zu forschen. Nach dem Ende der Sowjetunion setzte der
Verfall ein. Die Bewohner verließen die Stadt, die Häuser leerten sich, die
Fassaden verfielen. Doch seit einiger Zeit tut sich etwas. Neue
Nuklearzentren eröffnen in Kurtschatow. Über den Straßen hängen Plakate,
die die „friedliche Nutzung der Atomenergie“ als Basis für das
wirtschaftliche Wachstum beschwören.
## 1991 die Atomwaffen freiwillig abgegeben
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat das unabhängige Kasachstan unter
dem seit 1991 regierenden Präsidenten Nursultan Nasarbajew die auf dem
Gebiet befindlichen Atomwaffen freiwillig abgegeben. Auch das Testgelände
Semipalatinsk wurde geschlossen. Seither feiert sich Nasarbajew als
Musterschüler des Atomwaffensperrvertrags.
Aber heute setzt der Steppenautokrat wieder auf die „friedliche Nutzung“
der Atomenergie. Kasachstan will Kernkraftwerke bauen – und Semipalatinsk
bietet sich als Standort an. Der jung- dynamische Bürgermeister von
Kurtschatow, Dimitri Garikow, schwärmt. „Wir haben hier weder eine Tsunami-
noch Erdbebengefahr.“ Seine Stadt sei schließlich viele tausende Kilometer
von einem Meer entfernt. Keine Flugzeuge kreuzen, der Luftraum gelte als
sicher.
„Es gibt keinen Grund zur Panikmache“, sagt Garikow. Krebs sei schließlich
eine allgemein verbreitete Krankheit, selbstverständlich könne man in
Kurtschatow leben. „Große Teile des Testgeländes sind unbedenklich“,
erklärt er. Und die gefährlichen Stellen seien gesichert. Die Betonstele
und den Atomsee kann er nicht gemeint haben.
„Unser Gelände bietet sich an“, sagt Dimitri Garikow noch einmal. Die
japanische Atomwirtschaft habe beim Bau eines Reaktors bereits Hilfe
zugesagt.
3 Dec 2013
## AUTOREN
Marcus Bensmann
## TAGS
Strahlenbelastung
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Atomenergie
Atomtest
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