# taz.de -- Belarussische Philosophin: „Krieg ist soziale Regression“ | |
> Olga Shparaga war bei den Protesten in Minsk involviert. Sie lebt heute | |
> im Exil. Ein Gespräch über Solidarität mit der Ukraine und humanitäres | |
> Engagement. | |
Bild: Schutzsuchende lauschen einem Konzert in einer U-Bahnstation in Charkiw, … | |
taz: Frau Shparaga, Sie sind vor anderthalb Jahren aus Belarus nach | |
Deutschland geflohen. Jetzt ist Krieg in der Ukraine. Was ging Ihnen am 24. | |
Februar durch den Kopf? | |
Olga Shparaga: Der Krieg hat ja eigentlich schon 2014 angefangen, aber dass | |
er so eskaliert, konnte ich trotzdem nicht glauben. Es war ein Schock. Mein | |
ganzes Leben habe ich die Ukraine, Russland und Belarus als brüderliche | |
Länder verstanden. Ich vermute, in Russland war dieses Narrativ auch stark | |
verbreitet. Aber wir Belaruss:innen sind natürlich sehr viel enger mit | |
Ukrainer:innen als mit Russ:innen verbunden, weil wir viele Verwandte | |
im Nachbarland haben. Aber auch, weil die Ukraine spätestens seit 2004 für | |
kritisch denkende Belaruss:innen als Beispiel beim Kampf für | |
[1][Demokratie] und menschliche Würde diente. Auch sind in den Jahren 2020 | |
und 2021 Tausende von Belaruss:innen wegen den politischen Repressionen | |
in die benachbarte Ukraine geflohen. Sie haben dort ihre zweite, wenn auch | |
nur temporäre Heimat gefunden. | |
Sie setzen sich in Ihrer Arbeit viel mit dem Thema Solidarität auseinander, | |
welche Formen der Solidarität beobachten Sie gerade? | |
Ich habe das Gefühl, dass gerade wahnsinnig viele Räume geschaffen werden, | |
um Ukrainer:innen zu helfen. In Deutschland, Polen und Litauen, aber | |
auch von [2][Belaruss:innen im Exil]: Fast alle Initiativen, die | |
während der Proteste aktiv geworden sind, setzen sich jetzt für | |
Ukrainer:innen ein. Ich sage jetzt immer: Bei den Protesten 2020 haben | |
wir vor allem gegen Lukaschenko gekämpft. Aber jetzt kämpfen wir gegen | |
Lukaschenko und [3][Putin]. Sie wenden sich zusammen gegen unsere Völker | |
und unsere Gesellschaft. Deshalb verstehen Belaruss:innen diesen Krieg | |
als ihren eigenen. Es geht um die [4][Verteidigung von demokratischen | |
Grundwerten], wofür wir auch schon 2020 gekämpft haben. Deswegen wäre es | |
unmöglich, sich nicht mit der Ukraine zu solidarisieren. | |
Welche Fragen stellen Sie sich in Bezug auf die Solidarität? | |
Ich habe angefangen, mich wissenschaftlich damit auseinanderzusetzen, wie | |
Formen der [5][Solidarität] in Situationen der Brutalität funktionieren. | |
Denn bei brutalen Repressionen, wie wir sie in Belarus erleben – hier gibt | |
es zum Beispiel noch immer mehr als 1.100 politische Gefangene –, wie auch | |
im Krieg, ändern sich die Formen der Solidarität. Sie bekommt sehr viel | |
mehr Aufmerksamkeit und Empathie. Ich habe beispielsweise das Gefühl, dass | |
die Verletzlichkeit von Menschen in verschiedenen Situationen zum Thema | |
klar benannt wird. Das entspricht der Definition von Solidarität des | |
US-Philosophen Richard Rorty aus den 1980er Jahren. Sie wurde damals schon | |
als Empfindlichkeit gegenüber anderen leidenden Menschen definiert. Und ich | |
glaube, wir haben in unserer globalisierten Welt eine stärkere Sensibilität | |
dafür entwickelt, vor allem auf zivilgesellschaftlicher Ebene. Diese caring | |
solidarity, wie ich sie nenne, gibt mir Hoffnung. Auch in diesem brutalen | |
Krieg. | |
Was macht ein Krieg wie dieser mit einer Gesellschaft? | |
Krieg bedeutet immer soziale Regression. Damit ist gemeint, dass unsere | |
gesellschaftlichen Strukturen enorm vereinfacht werden. Die sozialen | |
Institutionen verlieren ihre Autonomie und arbeiten für den Krieg. Viele | |
Schulen, Theater, U-Bahn-Stationen werden zerstört oder verwandeln sich in | |
Schutzräume und Bunker. In der Kriegssituation müssen wir nach klaren | |
Mustern und Strukturen funktionieren. Eine gewisse Unterordnung wird | |
wichtig. Wenn Menschen etwa eine Sirene hören, müssen sie sich verstecken. | |
Es entstehen soziale Strukturen, die dem Kampf dienen sollen. Diese | |
kategorischen Vereinfachungen sind problematisch, aber notwendig in einer | |
Grenzsituation wie dem Krieg. | |
Warum sind Vereinfachungen wie diese problematisch? | |
Sie verstärken gewisse Machtasymmetrien. Sie teilen Menschen in strikte | |
Kategorien ein, in Helden und Feinde oder in Helden und Opfer. Aber auch | |
bestimmte Emotionen wie Hass und Stolz werden wichtiger. In Zeiten des | |
Friedens haben wir immer versucht, diesen Helden-Begriff nicht zu nennen, | |
weil es bei diesem Begriff auch um Dominanz und Macht geht. Es ist ein | |
Narrativ, das nicht erlaubt, anders und vulnerabel zu sein. Jetzt brauchen | |
wir ihn. | |
Der ukrainische Präsident Selenski ist Teil dieses Helden-Narrativs, er ist | |
ein Mann. Erleben wir durch den Krieg eine Patriarchalisierung der | |
Gesellschaft? | |
Der Helden-Begriff ist nicht zwingend problematisch. Wir können dem Begriff | |
auch eine neue Dimension geben. Das hat bereits in der Pandemie angefangen. | |
Wir haben angefangen über „Heldinnen des Alltags“ zu sprechen. Also | |
Menschen, die sich um andere sorgen oder ihr Leben für andere aufs Spiel | |
setzen. Dieser Begriff muss also nicht nur mit traditionellen Rollen | |
besetzt werden. Man kann über Heldinnen in einem breiteren Sinne sprechen. | |
In der Ukraine sind das etwa Menschen, die für andere kochen. Menschen, | |
die beim Transport helfen, die unter den Bomben musizieren oder | |
unterrichten, die Tiere retten. Es gibt solche Zeichen der Humanität, die | |
der Destereotypisierung des Kriegs dienen. | |
Das heißt, der Krieg muss nicht automatische patriarchale Strukturen | |
verstärken? | |
Das Patriarchat lebt von ungleichen Machtverhältnissen und diese werden im | |
Krieg deutlich verstärkt. Das muss man klar benennen. Aber es wäre zu | |
einfach zu sagen, dass der Krieg lediglich patriarchale Strukturen | |
verstärkt. Es kommt immer auf die Perspektive an. Es gibt auch im Krieg | |
bestimmte Räume oder menschliche Verhältnisse, die sich diesen | |
Machtstrukturen widersetzen. In diesen horizontalen Verhältnissen liegt die | |
Solidarität. Ich lese zurzeit viele dieser Tagebücher von Ukrainer:innen. | |
Von Autor:innen, die beschreiben, was etwa in Kiew oder in Lwiw im Alltag | |
passiert. Die von Menschen erzählen, die Geflüchtete versorgen. Sie alle | |
sind das humanitäre Gesicht dieses Kriegs. | |
Das heißt, der Krieg hat auch eine humanitäre Dimension? | |
Ja, das hat er. Wir beobachten zwar eine schreckliche Spirale der Gewalt, | |
aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass gewisse Grenzen der legitimen | |
Gewalt nicht verrückt werden. Zum Beispiel bei dem Thema Menschenrechte, | |
sie spielen eine große Rolle in diesem Krieg. Man spricht etwa über ein | |
humanes Verhältnis gegenüber russischen Kriegsgefangenen. Und das sind | |
Forderungen von den Ukrainer:innen, die wollen, dass die russischen | |
Kriegsgefangenen nicht gequält werden, dass sie geschont werden. Man | |
spricht auch über die humanitäre Dimension in Bezug auf Vergewaltigungen. | |
Es hat beispielsweise schon jetzt ein Prozess angefangen, weil eine | |
ukrainische Frau während dem Krieg vergewaltigt wurde. | |
Gleichzeitig sehen wir schreckliche Bilder, wie kürzlich aus Butscha … | |
Ja, man kann leider kaum das Gleiche über die russische Seite sagen. Dort | |
sehen wir eine enorme Brutalität und damit müssen wir uns beschäftigen. Das | |
soll zum Problem im gesamten europäischen, wenn nicht im breiteren, | |
internationalen Raum werden. Viele internationale Verhältnisse und | |
Institutionen sollten neu organisiert werden, um der Brutalität und der | |
Dominanz des russischen Regimes Grenzen zu setzen. | |
22 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sabina Zollner | |
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