# taz.de -- Niedergang der westlichen Demokratie: Bye-bye, Linksliberalismus | |
> Die westliche Demokratie scheiterte nicht erst in Afghanistan. Während | |
> die Gesellschaft zerfasert, wird die Politik zum Einheitsbrei. | |
Bild: Die große Spaltung: Die Reichen werden immer reicher und wissen nicht me… | |
Wer sagt, dass die Zeit der großen Erzählungen vorbei ist? Unsere große | |
Erzählung, in tausend Varianten, aber mit einem heißen mythischen Kern, | |
heißt: „[1][Der Untergang der westlichen Demokratie]“. An den imperialen | |
Rändern hat diese Erzählung einen militärischen und diplomatischen | |
Charakter. „Das große Versagen“ ist das Mindeste, was man von beidem sagen | |
kann, nicht erst seit [2][Afghanistan], aber dort mit einer so schaurigen | |
Gewissheit, dass alle Versuche des Schönredens vergeblich sind. | |
Im sozialen Innen wird diese Untergangserzählung von den großen Spaltungen | |
bestimmt: Die Reichen, die immer reicher werden und nicht mehr wohin wissen | |
mit dem Kapital, so dass es nur noch als Medium der Zerstörung wirken kann, | |
und die Armen, die immer weniger wissen, wie leben und überleben, und dabei | |
alle Kraft verlieren, die dringend für eine Gesellschaft und ihre | |
Entwicklung gebraucht würde. | |
Hier die Bürgerinnen und Bürger, die nur noch nach Sündenböcken und | |
Verschwörungen suchen können, um ihr (auch moralisches) Elend zu erklären, | |
und die immer weiter vom „konservativen“ zum reaktionären, | |
antidemokratischen und schließlich [3][faschistoiden] Impuls wechseln, und | |
dort die ökolinksliberalen Realdemokraten, die sich immer mehr in ihre | |
eigene Blase, ihre eigenen „Narrative“ und Begriffe zurückziehen. | |
Und während sich die Gesellschaft immer weiter spaltet, bildet sich als | |
Regierung ein Einheitsbrei: Koalitionen, in denen sich die Parteien | |
gegenseitig so in Schach halten, dass sich nichts ändert. Jedenfalls nichts | |
zum Besseren. Der innere Widerspruch im System des Westens ist der zwischen | |
Demokratie und Kapitalismus. Für eine historische Spanne war die Verbindung | |
von beidem ein Erfolgsrezept, das hier und da zum Exportgut, jedenfalls | |
aber zum vermeintlich hegemonialen Weltmodell werden konnte. | |
## Praktischer Liberalismus | |
[4][Angela Merkel] hatte ihm den treffenden Namen verpasst: „Marktkonforme | |
Demokratie“. Und nun? Was, wenn endlich nicht mehr zu verleugnen wäre, dass | |
das Marktkonforme und die Demokratie nicht mehr zueinander passen? Die | |
vielen Brüche in der Gesellschaft entsprechen dem einen großen Bruch, dem | |
Bruch zwischen Kapitalismus und Demokratie. Was bleibt, wenn das Projekt | |
Demokratie als nicht mehr (welt-)marktkonform entsorgt wird, das ist ein | |
gewisser praktischer Liberalismus. | |
Subjekt-Freiheit als Mix von Selbstverwirklichung, Toleranz, Spätaufklärung | |
und kultureller Offenheit wurde in den westlichen Demokratien von einem | |
speziellen Segment des progressistischen Kleinbürgertums entwickelt und | |
garantiert, dem man den Namen „linksliberal“ gab und das sich seit dem Ende | |
des vorigen Jahrhunderts um einen wesentlichen Bereich ökologischer Sorge | |
erweiterte. | |
Das ökolinksliberale Lebensgefühl bildete ein Milieu als Humus für | |
kritische, alternative oder dissidente Bewegungen, die sich darin gleichen, | |
dass sie nicht den Bruch mit dem System suchen, sondern seine Verbesserung. | |
Persönlich hieß das in aller Regel, Forderungen an ein System stellen, mit | |
und von dem man ansonsten ziemlich gut lebte. Solange beide Seiten flexibel | |
blieben und einen gemeinsamen, „modernen“ Begriff von Wirklichkeit hatten, | |
konnte man das noch modisch als Win-Win-Situation ansehen. | |
Staat und Ökonomie ließen das linksliberale Milieu gedeihen, das beidem im | |
Gegenzug kreative Energie und Geschmack an Innovation lieferte. Darüber | |
hinaus ließ sich eine Balance zwischen dem linksliberalen und dem | |
konservativ-reaktionären Segment der Mittelschicht als Beweis „lebendiger“ | |
Demokratie ausmachen. | |
Das linksliberale Milieu als Fabrik des demokratischen, humanistischen und | |
fortschrittlichen Aspekts im System der westlichen Kapital-Demokratien | |
geriet mit dem Aufstieg des Neoliberalismus in äußere wie innere Krisen. | |
## Ausgetrocknete Gehirne | |
Die äußeren Umstände, Abbau und Kapitalisierung von Kunst, Wissenschaft, | |
Pädagogik und Kommunikation, Paradigmenwechsel der einstmals verbündeten | |
politischen Organisationen, SPD, Gewerkschaften, reformerische Gruppen in | |
den Kirchen, Universitäten, Schulen und andere Foren verschärften die | |
inneren Krisen, die Widersprüche zwischen Idee und Lebenspraxis, | |
Flügelkämpfe, faule Kompromisse, Selbstbetrug. | |
Der [5][Neoliberalismus] hatte nämlich eine andere Option zu bieten: die | |
totale Freiheit des Subjekts unter Preisgabe der anderen demokratischen | |
Tugenden, der Solidarität und der Gerechtigkeit. Keine Frage: Das | |
linksliberale Milieu wurde regelrecht ausgetrocknet von einer Allianz von | |
Neoliberalismus, Populismus und Mainstream-Gleichgültigkeit. Doch mit | |
dieser Austrocknung des linksliberalen Milieus schien auch eine | |
Austrocknung etlicher Gehirne einherzugehen. | |
Man klammert sich an das letzte Gut des Kleinbürgertums in seiner | |
Geschichte: die moralische Überlegenheit. So bricht man über jeden Furz, | |
den ein anderer Linksliberaler lässt, in Empörung aus, zeigt sich | |
fassungslos und beleidigt, wenn nicht genau das reproduziert wird, was man | |
selbst schon immer gewusst hat. | |
Aus der demokratischen Win-Win-Situation ist ein semantisches und | |
sozialpsychologisches Einigeln geworden, die persönlichen Kompromisse | |
zwischen Idee und Lebenswirklichkeit, in der hohen Zeit des linksliberalen | |
Milieus mit einer gewissen Selbstironie bearbeitet, führen nun zu | |
hysterischen und fetischistischen Reaktionen, und die Lust auf Veränderung | |
wandelt sich in Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust. | |
Die Austrocknung des linksliberalen Milieus wird einst ein bedeutendes | |
Kapitel in der großen Erzählung vom Niedergang der westlichen Demokratien | |
bilden. Und vielleicht kommt darin vor, dass es seine Bewohner*innen | |
ihren Feinden allzu leicht gemacht haben. | |
1 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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