# taz.de -- Neues Buch von Sahra Wagenknecht: „Ich finde Hedonismus sympathis… | |
> Die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht ist der Ansicht, | |
> „Lifestyle-Linke“ bereiten Sozialabbau und Rechtspopulismus den Weg. Ein | |
> Interview. | |
Bild: „Ich bin Ökonom“: Sahra Wagenknecht | |
taz am wochenende: Frau Wagenknecht, ich bin neue Mittelschicht, | |
Sozial-Ökologe, Europäer, Möchtegern-Weltbürger. Nach Ihrer Definition ein | |
Lifestyle-Linker. Ein Selbstgerechter, mit dem Sie die Welt weder retten | |
wollen noch können? | |
Sahra Wagenknecht: Nein, nicht der Lebensstil und auch nicht die | |
persönlichen Werte definieren den Lifestyle-Linken, sondern die Arroganz, | |
die eigene Lebensweise zum Maßstab progressiven Lebens zu verklären und auf | |
Menschen herabzublicken, die anderen Werten folgen und anders leben. Mit | |
dem Begriff attackiere ich eine Überheblichkeit, die in bestimmten Milieus | |
und auch in vielen linken Debatten erkennbar ist. | |
Ich musste beim Lesen schallend lachen, wenn ich mich schön entlarvt | |
fühlte. Aber die Frage ist, warum Sie so überziehen und sich in dieses | |
zugespitzte Klischeebild des angeblichen Lifestyle-Linken verbissen haben? | |
Weil ich glaube, dass es leider kein Klischee ist. Wir müssen ernsthaft | |
darüber nachdenken, warum die linken Parteien immer mehr Rückhalt verlieren | |
– das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für die meisten europäischen | |
Länder. Klar, die Grünen schwimmen gerade auf einer Welle der Zustimmung. | |
Aber die Grünen vertreten ein gut situiertes akademisches Großstadtmilieu, | |
Menschen, die sich vielleicht als links verstehen, aber denen es im Großen | |
und Ganzen gut geht. Linke Parteien dagegen sollten eigentlich die | |
vertreten, denen Bildungs- und Aufstiegschancen vorenthalten wurden, die | |
Verlierer von Neoliberalismus und Globalisierung, Menschen, die um ihren | |
Wohlstand kämpfen müssen und teilweise gar keinen haben, weil sie für | |
Niedriglöhne arbeiten müssen. Diese Menschen erreichen die linken Parteien | |
immer weniger. Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung fühlt sich politisch | |
überhaupt nicht mehr repräsentiert. Und genau deshalb kommen SPD und Linke | |
zusammen kaum noch auf 25 Prozent. | |
Für Sie sind die Lifestyle-Linken auch Pseudolinksliberale. Dieser | |
Linksliberalismus ist für Sie das größte Übel überhaupt. Warum? | |
Die Fortschrittserzählung des Linksliberalismus ist ja: Wir leben heute in | |
einer Gesellschaft, die besser, liberaler, bunter geworden ist. Natürlich | |
sind wir in dem Sinne liberaler, dass wir inzwischen die [1][Ehe für alle] | |
haben oder auch viel mehr Menschen mit Migrationshintergrund in den | |
Parlamenten. Aber die soziale Homogenisierung von lukrativen Berufen und | |
auch von politischen Institutionen wie eben dem Parlament wird komplett | |
ausgeblendet: dass dort immer weniger Menschen hingelangen, die aus armen | |
Verhältnissen kommen. Die soziale Herkunft bestimmt heute weit mehr | |
darüber, welchen Wohlstand jemand erreicht als die eigene Leistung. In | |
diesem Punkt ist die Gesellschaft nicht liberaler geworden, sondern | |
feudaler. | |
Warum sind die Lifestyle-Linken nicht links? | |
Nehmen wir nur die These, dass der Nationalstaat überholt ist. Leider haben | |
wir Sozialstaaten nicht auf globaler Ebene. Wir haben sie nicht auf | |
europäischer Ebene. Der vielgescholtene Nationalstaat ist immer noch die | |
handlungsfähigste Institution, die wir haben, um Märkte zu bändigen und | |
sozialen Ausgleich zu erreichen. Das hat auch damit zu tun, dass das | |
Wir-Gefühl innerhalb der einzelnen Länder stärker ist als auf europäischer | |
Ebene. Eine europäische Transferunion wird jenseits akademischer Kreise | |
überwiegend abgelehnt. Wenn wir die sozialen Regelungen auf die europäische | |
Ebene verlagern, wäre das verbunden mit radikalem Sozialabbau. Das muss man | |
einfach wissen. Das wird dann schön verkleidet als glühendes Europäertum. | |
Die EU ist schon heute ein Motor des Neoliberalismus, ihre Interventionen | |
sind nicht zufällig immer darauf gerichtet, Arbeitnehmerrechte zu | |
beschneiden und Privatisierungen voranzutreiben. Außerdem hat die EU in | |
jeder Krise aufs Neue gezeigt, dass sie nicht handlungsfähig ist. | |
Eine wiederkehrende Kritik lautet, dass Sie einen Lafontaine’ schen Glauben | |
an den Nationalstaat hätten und Deutschland zurück in die 70er beamen | |
möchten, als die Welt noch in Ordnung war, mit sicheren Grenzen für | |
Arbeitsplätze und Menschen? | |
Das ist die übliche Diffamierung. Ich will nicht zurück in die 70er, aber | |
ich bin der Überzeugung, dass der Sozialstaat in den 70er Jahren besser | |
war als heute, dass es damals für Kinder ärmerer Familien bessere Bildungs- | |
und Aufstiegschancen gab. Etwa weil damals anteilig zur Wirtschaftsleistung | |
sehr viel mehr Geld ins Bildungssystem gesteckt wurde. Weil kommunaler | |
Wohnungsbau für sozial durchmischte Wohnviertel sorgte. Weil man sogar ohne | |
Studium einen soliden Wohlstand erreichen konnte. | |
In einem [2][NZZ-Gespräch] stimmten Sie der These zu, dass ein Bündnis von | |
Linksliberalen und Neoliberalen zum Aufstieg des Rechtspopulismus geführt | |
hat. Inwiefern? | |
Dass sich die Menschen von den linken Parteien nicht mehr repräsentiert | |
fühlen, hat auch mit der neoliberalen Politik zu tun. Das Politikpaket aus | |
Links- und Neoliberalismus besteht darin, dass man fleißig | |
Antidiskriminierungs- oder Frauenbeauftragte schafft und gleichzeitig einen | |
riesigen Niedriglohnsektor, in den vor allem Frauen und Migranten | |
abgedrängt werden. Das eine ist fürs gute linke Gewissen und das andere ist | |
die bittere Realität für Millionen Menschen, deren Lebensverhältnisse sich | |
verschlechtern. Die rechten Parteien sind ein Ventil für die dadurch | |
entstehende Wut. Heute wählen viele Geringverdiener gar nicht mehr oder | |
eben rechts. Es sollte eigentlich jeden Linken umtreiben, dass die AfD eine | |
Art neuer Arbeiterpartei ist. Keine Partei wird von so vielen Arbeitern | |
gewählt wie die AfD, obwohl sie gar kein soziales Angebot für die | |
Arbeiterschaft hat. | |
Wie holt man Leute zurück, die aus Frust zur AfD gegangen sind? | |
Indem man ihre Interessen vertritt. | |
Da würde jetzt Ihr Klischee-Lifestyle-Linker sagen: Also | |
Fremdenfeindlichkeit bedienen? | |
Die AfD-Wählerschaft ist durchaus differenziert. Da gibt es überzeugte | |
Rechte, die sind für uns nicht ansprechbar. Das ist aber nur ein kleiner | |
Teil. Im Westen ist die AfD dort besonders stark, wo früher Hochburgen der | |
SPD waren wie im Ruhrgebiet, und im Osten in früheren Hochburgen der | |
Linken. Diese Wähler kann man zurückgewinnen. Weil sich diese Menschen | |
tatsächlich mehr sozialen Ausgleich, aber auch mehr Respekt für ihre | |
Lebenssituation, für ihre Werte, für ihre Sicht auf die Welt wünschen. Weil | |
sie nicht von oben herab behandelt werden wollen. Es geht auch nicht nur um | |
AfD-Wähler, sondern auch darum, die Vielen zu gewinnen, die nicht mehr | |
wählen. Das ist ein wichtiger Punkt, den ich in vielen Mails und meinen | |
Veranstaltungen immer wieder genannt bekomme: Es fühlen sich viele Menschen | |
von den Linken belehrt und bevormundet. Wer wählt eine Partei, von der er | |
sich verachtet fühlt? Keiner! | |
Könnte es sein, dass der Rechtspopulismus in Europa nicht wegen | |
Lifestyle-Linken und Genderdiskussionen zunimmt, sondern weil seine | |
Anhänger genau das wollen, was er verspricht: Sicherheit durch | |
Sozialpolitik und Abgrenzung gegen das Fremde? | |
Soziale Sicherheit ist ein urlinkes Anliegen. Den meisten Menschen geht es | |
nicht um „Abgrenzung gegen das Fremde“. Sie lehnen Zuwanderung ab, wenn sie | |
zulasten ihres ohnehin meist bescheidenen Lebensstandards geht. Natürlich | |
ist eine junge Familie nicht erfreut, wenn sie noch länger auf eine der | |
spärlich gesäten Sozialwohnungen warten muss, weil auch immer mehr | |
Einwanderer auf der Liste stehen. Natürlich ärgert es Beschäftigte, wenn | |
das Lohnniveau sinkt, weil Unternehmen Migranten als Lohndrücker | |
missbrauchen. Die Zustände in der deutschen [3][Fleischindustrie] sind nur | |
ein Beispiel von vielen. Und wer möchte seine Kinder in einer Schule | |
wissen, in der die Mehrheit bei der Einschulung kein Deutsch spricht? Wenn | |
gutsituierte Leute, die mit all diesen Problemen nie konfrontiert sind, | |
dann Schlechtergestellte belehren, dass es solche Probleme gar nicht gibt | |
und nur Rassisten sie herbeireden, dann ist das genau die Arroganz, die ich | |
meine. | |
Machtpolitisch gesehen ist der Lifestyle-Linke doch bestenfalls ein | |
Mitläufer – ohne Power, was Ökonomie und Finanzmarkt angeht? | |
Stimmt, der Lifestyle-Linke ist nicht unbedingt Teil der wirtschaftlichen | |
Macht. Aber die wirtschaftlich Mächtigen können sich mit dieser Art des | |
Links-Seins wunderbar arrangieren. Die Heuschrecke Blackstone hat kürzlich | |
verkündet, dass in den aufgekauften Unternehmen nur noch jedes dritte | |
Vorstandsmitglied ein weißer Mann sein darf. Was für ein Fortschritt! Dann | |
werfen in Zukunft also Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund die | |
Belegschaften raus, die vorher von weißen Männern rausgeworfen wurden. Das | |
stört die Wirtschaft nicht, das kostet auch nichts. Das ist linke | |
Alibipolitik. Oder man führt Sprachregelungen ein, schafft Lehrstühle für | |
Gendertheorie – und gleichzeitig macht man eine Politik, die die | |
Ungleichheit vergrößert und so nicht zuletzt die soziale Situation von | |
Frauen verschlechtert. Das ist die Heuchelei der sogenannten Kulturlinken. | |
In Ihrem Buch kommt der mündige, selbstbestimmte und auch hedonistische | |
Mensch gar nicht vor – oder nur als egoistischer Selbstverwirklicher. | |
Also, ich würde mich selber schon auch als Hedonisten bezeichnen. | |
Sie lachen? | |
Ich finde Hedonismus sehr sympathisch. Aber dieses Herangehen setzt | |
natürlich eine gewisse soziale Absicherung voraus. Wer ständig an der Kante | |
des sozialen Absturzes steht, immer schuften muss, um nicht abzustürzen, | |
der kann schwerlich auf Einkommen zugunsten von Freizeit verzichten. Für | |
den ist Hedonismus eine Lebensart, die er sich schlicht nicht leisten kann. | |
Dass man darauf auch noch herabsieht, ist überheblich. | |
Das ist das, was Sie dem Lifestyle-Linken vorwerfen: als Moral getarnte | |
Verachtung der Armen. | |
Der persönliche Lebensstil ist eine private Angelegenheit. Aber was mich | |
nervt, ist die Arroganz, mit der ein bestimmtes Milieu den eigenen | |
Lebensstil als besondere Tugend überhöht und auf andere herabsieht, die | |
andere Werte haben, aber die sich den angeblich progressiven Lebensstil | |
auch gar nicht leisten könnten. E-Auto fahren, Bioprodukte kaufen, lässig | |
damit klarkommen, wenn der Spritpreis und die Heizkosten steigen – wer kann | |
das? Oder in der Innenstadt wohnen, wo man mit dem Fahrrad zum Job fahren | |
kann? | |
Die Grünen sind für Sie die größten Pseudo-Links-Fuzzis – kann man das so | |
sagen? | |
Würde ich vielleicht etwas anders ausdrücken, aber im Kern: ja. Die Grünen | |
sehen sich selbst nicht mehr als linke Partei. Und sie sind auch keine | |
linke Partei, sondern eine, die sehr erfolgreich das großstädtische, | |
akademische Milieu vertritt. Deren Interessen – das ist keine Ächtung, | |
sondern eine Analyse – unterscheiden sich von denen, die im | |
Niedriglohnsektor arbeiten. Das sind die Servicekräfte, die der | |
gutsituierte Großstadtakademiker braucht: die Haushaltshilfe, der | |
Paketschlepper, die Bedienung im Restaurant. Niemand würde das gern | |
zugeben, aber objektiv ist der Niedriglohnsektor für die neue akademische | |
Mittelschicht kein Nachteil, weil für sie das meiste dadurch billiger wird. | |
Eine politische Repräsentation des unteren Drittels der Gesellschaft ist | |
dringend nötig. Aber für eine politische Mehrheit muss man in einer | |
pluralistischen Gesellschaft Allianzen der Ungleichen zusammenbringen. Sie | |
watschen alles ab, was Teil einer Allianz sein könnte, während Grünen-Chef | |
Robert Habeck in seinem Buch alles streichelt. Mir scheint seine Strategie | |
erfolgversprechender. | |
Mir geht es darum, wie linke Parteien sich aufstellen sollten. Dass man am | |
Ende auch mit den Grünen koalieren könnte, wenn das für eine Mehrheit | |
notwendig wäre, ist klar. Aber die Frage ist doch, wer prägte diese | |
Koalition, wer bestimmt die Schwerpunkte. Wenn die Grünen mit 25 Prozent | |
reingehen, die SPD mit mickrigen 15 und wir vielleicht mit 8, dann wird es | |
verdammt schwer, ein Programm durchzusetzen, das mehr sozialen Ausgleich | |
und weniger Ungleichheit erreicht. | |
Wie hätten Sie es denn gern? | |
Anders wäre es, wenn eine nach links gewendete SPD wieder eine Politik | |
macht wie einst unter Willy Brandt und dann auch ein entsprechendes | |
Ergebnis erzielt. Und die Linke mindestens zweistellig wird. Dann könnten | |
die Grünen ihre Akzente setzen, aber eine Wiederherstellung des | |
Sozialstaates, Abrüstung und eine friedlichere Außenpolitik wären weit eher | |
möglich. Die zentrale Frage ist also: Wie können die linken Parteien | |
stärker werden? Sicher nicht, wenn sie primär mit den Grünen um deren | |
Wählerklientel konkurrieren. | |
[4][Pablo Iglesias] ist mit Podemos in Spanien gescheitert, im Gegensatz zu | |
Le Pen geht es mit Mélenchon in Frankreich bergab. Die versuchen doch, was | |
Sie fordern. Vielleicht wollen die Leute einfach keine Linken oder | |
Linkspopulisten mehr? | |
Podemos erreichte zu seinen besten Zeiten in einem Linksbündnis über 20 | |
Prozent, das schlechteste Ergebnis lag bei knapp 13 Prozent, neben einer | |
mit 28 Prozent immer noch relativ starken Sozialdemokratie. Wenn meine | |
Partei im September 13 Prozent erreichte, würden wir feiern. Und Mélenchon | |
hat bei der letzten Präsidentschaftswahl mit fast 20 Prozent die Stichwahl | |
nur knapp verfehlt. Auch dieses Ergebnis muss man erst mal erreichen. Das | |
Problem bei beiden Parteien ist vielleicht, dass sie nur einen einzigen | |
charismatischen Kopf haben und daher verletzlich sind, wenn gezielt Zweifel | |
an dessen Integrität geschürt werden, was in beiden Fällen geschehen ist. | |
Es klingt, als hätten Sie die Zuspitzungen Ihrer Kritik an der linken | |
Identitätskultur wie „immer beleidigte Mimosen, immer skurrilere | |
Minderheiten“, „Identität in einer Marotte finden“ speziell für den | |
Empörungsmarkt produziert. Aber Sie triggern damit auch jüngere | |
Linksparteimitglieder, für die Sprachpolitik und Antirassismus zur | |
politischen DNA gehört. Was soll das bringen? | |
Es soll bringen, dass wir aufhören, Symbolpolitik zu machen und uns wieder | |
auf unsere Aufgaben als Linke konzentrieren. Es gab nicht wenige | |
Linken-Mitglieder, die mir gesagt oder geschrieben haben: Das war | |
überfällig, du sprichst mir aus dem Herzen. Diese Reaktionen überwiegen, | |
zumindest bei dem, was bei mir ankommt. Weil sich eben auch viele Sorgen | |
machen angesichts unseres Abstiegs bei Wahlen und Umfragen. Man muss auch | |
beim Antirassismus unterscheiden. Wenn jemand sich mit einem arabischen | |
Namen um eine Wohnung oder einen Job bewirbt – und das gilt gerade bei den | |
nicht akademischen Jobs – dann ist er benachteiligt. Das sind echte | |
Diskriminierungen, gegen die man etwas tun muss. Aber die Menschen, die | |
davon betroffen sind, führen keine Debatten über Sprachregeln oder „weiße | |
Privilegien“. | |
Sondern? | |
Solche Debatten führen hauptsächlich Privilegierte, die oft kaum reale | |
Diskriminierungserfahrungen haben. Und die sich dann mit großem Pathos zum | |
Opfer stilisieren. Ich könnte jetzt auch sagen: Ich bin ein Opfer. Ich habe | |
einen iranischen Vater, ich bin als Kind gehänselt worden in dem Dorf, wo | |
ich aufgewachsen bin, weil ich eben dunklere Haare, dunklere Augen hatte. | |
Tun Sie aber nicht? | |
Ich bin kein Opfer, ich konnte studieren, es geht mir gut. Ein Opfer ist | |
weit eher der Zusteller, der mir das Paket vor die Tür schleppt. Er hat | |
vielleicht 1.200 Euro netto im Monat, und zwar ganz unabhängig davon, ob er | |
deutsche Eltern hat oder zugewanderte. Pöbeleien gegen Menschen anderer | |
Hautfarbe, tätliche Angriffe, rassistische Morde wie in Hanau – das ist | |
Rassismus. Aber es rassistisch zu nennen, wenn einer die neuesten | |
Sprachregelungen woker Akademiker gar nicht kennt, ist eine Verharmlosung | |
von echtem Rassismus. | |
In Ihrem Buch kommt nicht vor, dass Sie einen iranischen Vater haben. Erst | |
bei Ihrer Bewerbungsrede um das Bundestagsmandat haben Sie darauf | |
hingewiesen. War das zu dem Zeitpunkt notwendig? | |
Im Grunde gehört das überhaupt nicht in die Öffentlichkeit. Es ist | |
irrelevant, welche Vorfahren ich habe. Ich habe das in der Bewerbungsrede | |
nur deshalb angeführt, weil ich mich allen Ernstes gegen den absurden | |
Vorwurf wehren musste, ich sei ein Rassist. | |
Sie nennen in Ihrem Buch die langjährigen Parteivorsitzenden Kipping und | |
Riexinger nicht beim Namen, das wirkt unsouverän. | |
Ja, warum soll ich sie beim Namen nennen? Es ist kein Buch über die Partei | |
Die Linke und auch keine Auseinandersetzungen mit zwei Leuten, mit denen | |
ich bekanntermaßen Spannungen hatte, die mittlerweile politisch keine Rolle | |
mehr spielen. | |
Sie verwenden in Ihrem Buch und beim Sprechen immer das generische | |
Maskulinum und sagen: „Ich bin Ökonom“. Meine Tochter würde ausrasten. | |
Wenn ich irgendwo sage: Ich bin Ökonom, dann belehren mich bevorzugt | |
Männer, dass ich doch bitteschön sagen soll, ich sei Ökonomin. Ich empfinde | |
das als Frechheit. Ökonom beschreibt eine bestimmte Ausbildung, eine | |
Kompetenz. Ich verstehe nicht, wieso das differenziert werden soll nach | |
Frau oder Mann. Es gibt ja auch keinen speziellen Begriff für einen homo- | |
oder heterosexuellen Ökonomen. Oder für einen mit Migrationshintergrund. | |
Diskriminierung ist, wenn Frauen, und das ist in Deutschland die Regel, | |
weniger verdienen als Männer, wenn sie in schlechte Jobs abgedrängt werden. | |
Das wird nicht dadurch besser, dass in den Abendnachrichten jetzt | |
Bürger…innen gesagt wird, damit sich auch wirklich alle wiederfinden. | |
Ich habe den Eindruck, dass Sie strategisch den gleichen Trick benutzen wie | |
die Wokies. Sie bauschen selbst Dinge auf, die Sie dann vehement | |
kritisieren. | |
Ich wünschte, ich würde sie aufbauschen. Aber Debatten um solche Fragen | |
haben doch ein immer größeres Gewicht und viele verbinden mit diesen | |
abgehobenen Debatten heute das Label „links“, weil sie vor allem von | |
Meinungsführern aus dem linken Spektrum geführt werden. Natürlich tritt | |
etwa die Linke für sehr viele richtige soziale Forderungen ein, höheren | |
Mindestlohn, bessere Renten. Aber wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir uns | |
gleichzeitig an schrägen Debatten beteiligen, die das teilweise überlagern | |
und die Leute verprellen. | |
Die Annahme der jüngeren, identitätspolitisch geprägten Linken ist, dass | |
Klassenpolitik und Identitätsfrage nicht zu trennen sei. Aber vielleicht | |
ist das in Wahrheit ein linker Widerspruch? Wenn man der EU keine | |
Sozialpolitik zutraut wie Sie, dann ist Identitätspolitik ein Angriff auf | |
den Nationalstaat und damit auf linke Sozialpolitik? | |
[5][Identitätspolitik] ist vor allem ein Angriff auf Solidarität und | |
Wir-Gefühl. Weil sie das Trennende in den Vordergrund stellt, statt das | |
Gemeinsame. Wertgeschätzt wird, was von der Mehrheitsgesellschaft abweicht. | |
Das „Normale“ ist geradezu verdächtig. Und die Abstammung oder die sexuelle | |
Orientierung sollen darüber entscheiden, wer sich wozu überhaupt äußern | |
darf. Das ist eine Diskussion, die am Ende den rechten | |
Identitätspolitikern, die dankbar für diese Vorlagen sind, die Bälle | |
zuspielt. | |
Im Vorwort schreiben Sie, dass Sie das machen „in dem Wissen, dass ich | |
jetzt ebenfalls gecancelt werden könnte“. Dann kommt aus Dantes „Göttlich… | |
Komödie“ das Zitat „Aber für diejenigen, die sich in Zeiten des Umbruchs | |
heraushalten, sei die unterste Ebene der Hölle reserviert“. Wollen Sie für | |
das Buch jetzt in den Himmel kommen? | |
Weder in den Himmel noch in die Hölle. | |
Sie lachen? | |
Ich bin ja Atheist. Und bisher auch noch nicht gecancelt worden. Aber ich | |
finde schon, dass man Position beziehen sollte, wenn die Linke abschmiert | |
und die politische Rechte tendenziell stärker wird. Ich will nicht, dass | |
sich unsere Gesellschaft in einer Weise verändert, dass wir irgendwann | |
schwer bereuen, nichts dagegen getan zu haben. | |
30 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Pro-und-Contra-Normalisierung/!5604168 | |
[2] https://www.nzz.ch/international/deutschland/sahra-wagenknecht-identitaetsp… | |
[3] /Tarifvertrag-in-der-Fleischindustrie/!5750726 | |
[4] /Nach-den-Regionalwahlen-in-Madrid/!5765569 | |
[5] /Abrechnung-mit-linker-Identitaetspolitik/!5769316 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
## TAGS | |
Sahra Wagenknecht | |
Die Linke | |
Lifestyle | |
Hedonismus | |
Identitätspolitik | |
Solidarität | |
Populismus | |
IG | |
Krise der Demokratie | |
Sahra Wagenknecht | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Schwerpunkt Landtagswahl in Sachsen-Anhalt | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Diversität | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Niedergang der westlichen Demokratie: Bye-bye, Linksliberalismus | |
Die westliche Demokratie scheiterte nicht erst in Afghanistan. Während die | |
Gesellschaft zerfasert, wird die Politik zum Einheitsbrei. | |
Wahlkampf mit Wagenknecht: Selfies mit Sahra | |
Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht machen in Weimar Wahlkampf. Dies ist | |
das Ergebnis einer heiklen diplomatischen Mission. | |
Antrag auf Parteiausschluss: Revolte gegen Wagenknecht | |
Linken-Mitglieder wollen die einstige Bundestags-Fraktionschefin aus der | |
Partei werfen. Führende Politiker:innen der Linkspartei sind dagegen. | |
Linkspartei in Sachsen-Anhalt: Punkten mit dem Ossi-Thema | |
Den Linken droht bei der Landtagswahl kommenden Sonntag ein Debakel. Dabei | |
lief der Wahlkampf gar nicht schlecht. | |
Spitzenkandidat Bartsch über die Linke: „Wir brauchen einen neuen Marx“ | |
Dietmar Bartsch führt die Linke mit Janine Wissler in den Wahlkampf. Für | |
die Schwäche der Partei macht er intellektuelle Ratlosigkeit | |
verantwortlich. | |
Debatte um Sahra Wagenknecht: Der kulturelle Faktor | |
Sahra Wagenknecht macht symbolische Bedürfnisse verächtlich. Damit | |
offenbart sie die kulturelle Achillesferse der politischen Linken. | |
Linkspartei in Nordrhein-Westfalen: Wagenknecht bleibt Spitze | |
Trotz scharfer Kritik wird Sahra Wagenknecht erneut zur Spitzenkandidatin | |
der Linkspartei in NRW gewählt. Aber mit einem schlechten Ergebnis. |