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# taz.de -- Debatte um Sahra Wagenknecht: Der kulturelle Faktor
> Sahra Wagenknecht macht symbolische Bedürfnisse verächtlich. Damit
> offenbart sie die kulturelle Achillesferse der politischen Linken.
Bild: Mischung aus Populismus und Häme: Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht p…
„Man muß sich auch davor hüten, die Bedeutung der Kunst für den
Emanzipationskampf des Proletariats zu überschätzen“. An dieses Verdikt des
sozialistischen Historikers Franz Mehring fühlt man sich erinnert bei der
[1][jüngsten Debatte um Sahra Wagenknecht.]
Die Mischung aus Populismus und Häme, mit der die Linken-Politikerin
argumentiert – geschenkt. Ihre Attacke belegt aber einmal mehr die groteske
Missachtung dessen, was man den kulturellen Faktor nennen könnte – ein
Kardinalfehler der Linken, nicht nur in der Partei ohne Sternchen, als die
Wagenknecht Die Linke gern sähe.
Gegen ihr Zerrbild der Linksliberalen, gegen das Argument, Gender- und
Sternchen seien Probleme der verwöhnten Gören der arrivierten
Mittelschichten, ist schon genug eingewandt worden. Auch gegen die
empathielose Herablassung, mit der sie real existierende Marginalisierte an
den Katzentisch der „skurrilen Minderheiten“ verbannt. Der Kampf um
nichtmaterielle Identitätsbedürfnisse wird keineswegs nur von
Hafermilch-Trinker:innen mit von den Professor:inneneltern
finanzierter Eigentumswohnung und Greta-Aufkleber auf dem Tesla mit
Sitzheizung in Prenzlauer Berg ausgefochten. Meist entstammen die
Aufbegehrenden, die sich den Feldern von LGTIB+ oder People of Color
zurechnen, eher der prekären Subkultur.
Zwar mag manche Fraktionierung, die sich dort vollzieht, auch übertrieben
und essenzialistisch sein. Dass es immer mehr werden, zeigt aber, dass das
Aufbrechen der heteronormativen Zwangsjacke, das seit einigen Jahren in den
Kulturen des Westens zu beobachten ist, einer bislang schwer vorstellbaren
Vielfalt sexueller, ethnischer und kultureller Selbstverortungen endlich
Raum und Sichtbarkeit gegeben hat.
Wenn Wagenknecht jetzt davon spricht, dass die Mehrzahl der Menschen sich
„immer noch als Mann und Frau“ versteht, beruft sie sich auf eine
verstaubte Spießermoral. Fast wundert es einen, dass sie nicht auch noch
vor „Sodomiten“ gewarnt hat. Mit ihrer Wortwahl befestigt sie auch die
Machtverhältnisse, auf denen diese Rollenverteilung in der Regel fußt.
## Wechsel akzeptiert
Dass keineswegs nur Gender-Aktivist:innen darum kämpfen,
Geschlechtervielfalt als Teil der menschlichen Kultur und Geschichte
anzuerkennen, sondern auch Ethnolog:innen, scheint bei der Mutter Teresa
der Proletarier aus Marzahn-Hellersdorf und Wanne-Eickel nie angekommen zu
sein. Von Nordamerika über Indien bis Thailand fanden fanden
Genderforscher:innen unzählige Varianten und Kombinationen „dritter“,
„vierter“ und weiterer Geschlechter. Viele präkolumbianische Kulturen
kannten mehr als zwanzig soziale Geschlechter. Die allesamt den
institutionalisierten Wechsel von Geschlechterrollen akzeptierten.
Nur an der Oberfläche unserer Wahrnehmung besteht die Welt aus binären
Gegensätzen: Himmel und Erde, Feuer und Wasser oder Mann und Frau. Sie
wieder festschreiben zu wollen, zeugt von dem mangelnden Verständnis für
die ins Fließen geratenen Übergänge zwischen diesen Polen. Sie zeugt auch
von kolonialistischem Hochmut. Die Pathologisierung solcher Lebensformen
kam mit den Eroberern aus dem Westen.
Vor allem negiert Wagenknecht, dass es neben der sozialen auch so etwas wie
symbolische Ungerechtigkeit gibt. Denn diese bislang nicht bemerkten und im
Alltag nicht bloß über die Gehaltshöhe, sondern auch auf dem sozialen
„Bildschirm“ ausgeblendeten Identitäten haben ein Recht darauf, als solche
angesprochen, dargestellt zu werden: Teilhabe ist nicht nur soziale und
materielle Teilhabe, sondern auch symbolische.
## Symbolische Gewalt
Das fängt bei der zu niedrigen Zahl von Frauen in den Parlamenten weltweit
an und hört bei den genderneutralen Toiletten nicht auf. Es war auch lange
„ungerecht“, dass es keine Nachrichtensprecher:innen mit
Migrationshintergrund gab, obwohl die Gesellschaft, zu denen sie sprachen,
längst nicht mehr biodeutsch aussah. Es war immer ungerecht, ja, es
entsprach symbolischer Gewalt, Menschen mit einem Geschlechtsdispositiv zu
bezeichnen, das ihnen nicht entspricht.
Es gibt also eine veritable Krise der symbolischen Anerkennung. Gerechte
Repräsentation funktioniert in der postindustriellen, digitalisierten und
durchvisualisierten Gesellschaft nun mal auch über den Schein: also über
Sprache, Symbole, Zeichen, Chiffren. Womit wir bei der Kunst wären, die
Franz Mehring abtat.
Sie sind nicht deswegen plötzlich zweitrangig oder bloß die
(post)strukturalistische Marotte eines intellektuellen Geistesadels
französischer Provenienz, weil sich die Klassenfrage – weniger martialisch
ausgedrückt: die Schere zwischen Arm und Reich – derart zugespitzt hat. Und
mit dem Nichtmateriellen, dem Schein haben (materialistische) Linke
offenbar immer noch ihre Probleme.
Das symbolische und kulturelle Kapital, dieser von den Mechanismen [2][in
der Welt der „feinen Unterschiede“, also dem Feld, in dem symbolische
Machtkämpfe ausgefochten werden, abgeleitete Begriff Pierre Bourdieus]
steht bei Klassenkämpfern noch immer unter dem Verdacht, den orthodoxen
Kapitalbegriff aufzuweichen. Dabei reproduzieren sich Klassen,
Pseudomalocher:innen vom Schlage Wagenknechts sei’s gesagt, nicht nur
über Geld und Vermögen, sondern auch über die unsichtbaren Reichtümer:
Geschmack, Manieren, Haltung. Auch bekannt unter dem Namen Habitus.
Mit diesem verkürzten Gesellschaftsbild ist kein alternativer Staat zu
machen. Solange Linke aller Parteien kein Verständnis für diese kulturelle
Dimension des „Klassenkampfes“ entwickeln, so lange wird die
„Arbeiterklasse“, für die Wagenknecht zu kämpfen vorgibt, „ohnmächtig …
diese erhabenen Mächte“ (Franz Mehring) bleiben.
Warum also nicht die materielle mit der symbolischen Emanzipation
verknüpfen? Sie sind die zwei Seiten derselben Medaille des Kampfes gegen
Unterdrückung in all ihren Manifestationen. So wie Sahra Wagenknecht das
eine gegen das andere ausspielt, hinkt das nicht nur Lichtjahre dem Diskurs
hinterher. Es ist ganz einfach dumm und reaktionär.
26 Apr 2021
## LINKS
[1] /Neues-Buch-von-Sahra-Wagenknecht/!5764480
[2] /Pierre-Bourdieus-90-Geburtstag/!5697549
## AUTOREN
Ingo Arend
## TAGS
Diversität
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Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
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