# taz.de -- Linken-Politiker über Sahra Wagenknecht: „Sie bekommt Zuspruch v… | |
> Sahra Wagenknecht beleidigt viele, die sich für eine andere Klimapolitik | |
> oder gegen Rassismus engagieren, sagt Linken-Politiker Luigi Pantisano. | |
Bild: Schon öfters haben Aussagen von Sahra Wagenknecht für Unruhe innerhalb … | |
taz: Herr Pantisano, Sahra Wagenknecht hat ein [1][neues Buch geschrieben, | |
es heißt „Die Selbstgerechten“], Sie schreiben auf Twitter, der richtige | |
Titel wäre gewesen: „Die Selbstgerechte“. Was stört Sie an dem Buch? | |
Luigi Pantisano: Es ist die reinste Abrechnung mit dem Programm der Partei | |
Die Linke und mit der gesellschaftlichen Linken. Sie beleidigt viele | |
Menschen und Bewegungen, die sich für eine andere Klimapolitik und gegen | |
Rassismus einsetzen. Das macht es schwierig, sich mit ihrem Buch sachlich | |
auseinander zu setzen. | |
Wollen wir konkreter werden, weil nicht alle [2][das Buch gelesen] haben? | |
Ich habe drei Zitate rausgesucht, Sie sagen etwas dazu? | |
Ja, gern. | |
Okay, das erste Zitat: „Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das | |
Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, | |
die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie | |
sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den | |
Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein.“ Was halten Sie davon? | |
Was sie schreibt, ist falsch. Ich setze mich nicht gegen Rassismus ein, | |
weil ich irgendwelche individuellen Merkmale habe und irgendeinen Anspruch | |
daraus ableite. Ich setze mich gegen Rassismus ein, damit das Aussehen oder | |
die Herkunft einer Person nicht zum Nachteil geriert – sei es bei der Job-, | |
bei der Wohnungssuche oder in anderen Bereichen, in denen es um | |
gesellschaftliche Teilhabe geht. Und ich will auch nicht von der Polizei | |
ständig kontrolliert werden, weil ich schwarze Locken habe. | |
Das sind doch keine Marotten, sondern ganz konkrete Kämpfe, die bestehen. | |
Es geht somit nicht um persönliche Identität oder um Gefühle. Aufgrund | |
bestimmter Merkmale erfahren Menschen Diskriminierung, die zu einer | |
schlechteren Bezahlung führen und oft eine schlechtere Wohnung bedeuten. | |
Wagenknecht ignoriert einfach, dass der Einsatz gegen Rassismus sich sowohl | |
gegen individuelle Diskriminierung als auch gegen sozioökonomische | |
Benachteiligungen richtet. | |
Wagenknecht kritisiert in dem Buch immer wieder, dass sich die | |
„Lifestyle-Linke“ von der Arbeiterklasse entfernt habe. Wie sehen Sie das? | |
Ich nehme das persönlich. Meine Mutter hat zwei bis drei Jobs gleichzeitig | |
gehabt. Sie hat am Nachmittag Klos geputzt in den Häusern meiner | |
Klassenkameraden. Sie hat das gemacht, damit ich studieren kann. Ich bin | |
ein Arbeiterkind, ich habe einen Hauptschulabschluss, ich habe mir meine | |
zwei Diplomabschlüsse über den zweiten Bildungsweg erkämpft. Und das wird | |
mir jetzt zum Vorwurf gemacht von einer Frau, die in ihrem Leben vermutlich | |
nur zu ihrer eigenen Putzfrau Kontakt hatte? Mich ärgert das. | |
Viele Linke oder Linken-Mitglieder haben oft aus persönlichen Erfahrungen | |
ein Engagement entwickelt. Aber wir haben auch eine Politik entwickelt, die | |
über das Persönliche hinaus geht. Menschen, die sich für eine vielfältige, | |
klima- und sozial gerechte Gesellschaft einsetzen, wirft sie vor, sich von | |
der sogenannten Arbeiterklasse zu entfernen. Aber wann stand denn Sahra | |
Wagenknecht zuletzt vor einem Werkstor oder hat eine Fabrik von innen | |
gesehen? Ich und viele andere Studierende haben während des Studiums in den | |
Semesterferien monatelang in Fabriken gearbeitet, um uns das Studium zu | |
finanzieren. | |
Ist das wichtig, ob sie eine Fabrik von innen gesehen hat? | |
Sie greift einen großen Teil der Linken an und bezeichnet diese | |
herablassend als „Lifestyle-Linke“. Ich frage mich wirklich, aus welcher | |
Position heraus sie das macht. Die taz hat ja auch einige Genoss*innen | |
aus Nordrhein-Westfalen zitiert: den Bundestagsabgeordneten Niema Movassat, | |
Daniel Kerekeš vom Kreisverband Essen. Wir wohnen in Vierteln, in denen vor | |
allem Migrant*innen leben, Arbeiter*innen. Wir sind in Familien groß | |
geworden, dessen Eltern Arbeiter*innen waren und noch sind, und wir | |
haben uns meist hoch gekämpft. Und jetzt wird uns zum Vorwurf gemacht, dass | |
wir Akademiker*innen sind und uns entfernt hätten von der | |
Arbeiterklasse? Diesen Vorwurf akzeptiere ich nicht. | |
Es scheint, dass es gerade en vogue ist, über Identitätspolitik zu | |
streiten, aber es verstehen alle etwas anderes darunter. Eine [3][ähnliche | |
Debatte gab es zuletzt ja auch mit Wolfgang Thierse]. Sehen Sie da | |
Parallelen? | |
Mein Bruder Alfonso Pantisano hat innerhalb der SPD diese Thierse-Debatte | |
mit losgetreten. Er hat [4][in der taz auch einen Artikel zu dieser | |
Auseinandersetzung] geschrieben. | |
Ach, ich wusste nicht, dass das Ihr Bruder ist! | |
Ja, diesen Zusammenhang gibt es. (lacht) Aber zurück zum Thema: Ich glaube, | |
dass es aktuell en vogue ist, über dieses Thema zu streiten. Mit Sarrazin | |
in der SPD und mit Boris Palmer bei den Grünen gab es ähnliche | |
Auseinandersetzungen auch schon in der Vergangenheit. Es prallen hier | |
unterschiedliche Weltbilder zusammen. Kritiker wie Wagenknecht meinen, | |
früher sei alles besser gewesen. Aber sie verkennen die vielfältige | |
Gesellschaft und neue Realitäten, in denen wir heute leben. Menschen, deren | |
Eltern eingewandert sind – und das sind mittlerweile viele – reden jetzt | |
mit. Wir sind nicht mehr still, wir mischen uns ein. Das ist das, was sich | |
geändert hat, und das stört manche wohl sehr. | |
Wagenknecht wird vorgeworfen, rechte Positionen zu vertreten. Würden Sie | |
das auch sagen? | |
In Teilen ja. Sie selbst sagt zwar in ihrem Buch, sie ist linkskonservativ, | |
aber manche Dinge, die sie sagt, sind nicht linkskonservativ, sondern | |
rechtskonservativ. Stellen Sie sich vor, ein CDU-Politiker würde sich heute | |
hinstellen und fordern, dass man mehr über Glaube, Nation und Heimat | |
sprechen soll. Es gäbe sicher viel Widerspruch zu einer solchen Forderung. | |
Das Problem ist, dass Sahra Wagenknecht unter anderem genau das fordert in | |
ihrem neuen Buch. Zudem verteidigt Sie in diesem Buch rechte Politiker wie | |
Bernd Lucke oder Jörg Meuthen. | |
Moment, zu dem Thema habe ich auch ein Zitat: „Es ist ja richtig, den | |
Anfängen zu wehren. Aber wer den wirtschaftsliberalen Professor einer | |
Verwaltungshochschule Jörg Meuthen verdächtigt, er wollte einen neuen | |
Faschismus in Deutschland einführen, erreicht damit nur, dass Warnungen | |
selbst da, wo sie berechtigt sind, nicht mehr ernst genommen werden. Wenn | |
jedes AfD-Mitglied ein Nazi ist, was ist dann Björn Höcke?“, schreibt | |
Wagenknecht. | |
Björn Höcke ist Mitglied der Partei, dessen Vorsitz Meuthen hat. Was | |
Meuthen als Wirtschaftsprofessor auszeichnet, ist doch völlig irrelevant. | |
Er ist Vorsitzender einer zutiefst rechtsextremen und faschistischen | |
Partei. Sich als bekannte Linkenpolitikerin hinzustellen und die Personen | |
zu kritisieren, die Kritik üben an Meuthen, das verstehe ich einfach nicht. | |
Viele Mitglieder der Linken, aber auch anderer demokratischer Parteien, der | |
Grünen, der SPD, stehen auf Demos und stellen sich der AfD entgegen. Das | |
als Linke zu kritisieren, das geht nicht. | |
Umstritten sind auch Passagen zum Thema Migration. „Dass die Löhne | |
allerdings in vielen Branchen um bis zu 20 Prozent sanken und selbst ein | |
jahrelang anhaltendes Wirtschaftswachstum daran nichts ändern konnte, das | |
war allein wegen der hohen Migration nach Deutschland möglich. Denn nur sie | |
stellte sicher, dass die Unternehmen die Arbeitsplätze zu den niedrigen | |
Löhnen unverändert besetzen konnten.“ | |
Das ist ein Part, wo ich sagen würde, das könnte genauso von einem | |
AfD-Politiker kommen. Im Grunde genommen sagt sie damit, die deutschen | |
Arbeiter*innen verdienen so schlecht, weil wir Zuwanderung haben. Dabei | |
verkennt sie völlig die Rolle der Migrant*innen in der deutschen | |
Arbeiterschaft in Deutschland – auch historisch betrachtet. Viele | |
Arbeitskämpfe und Verbesserungen für bessere Löhne und geringere | |
Arbeitszeiten hätte es nicht gegeben ohne die Migrant*innen, die mit auf | |
die Straße gegangen sind, um die Masse zu erzeugen. Ich kann Wagenknecht | |
gerne mal einladen, mit mir in eine Werkshalle bei Daimler zu gehen. Dann | |
soll sie mal gucken, wer da steht. Sie soll sich anschauen, wer hier für | |
bessere Löhne kämpft. Was sie schreibt, hat nichts mit der Realität in | |
Deutschland zu tun. | |
Sie arbeiten auch für Bernd Riexinger, der bekanntermaßen ein Gegenspieler | |
von Sahra Wagenknecht ist. Geht es Ihnen um das Buch oder geht es auch um | |
einen Lagerkampf innerhalb der Partei? | |
Nein, das hat nichts damit zu tun, dass ich für Riexinger arbeite. Übrigens | |
hat sie ihm auch immer vorgeworfen, sich von der Arbeiterklasse zu | |
entfernen. Dabei ist er viel auf Demos von Gewerkschaften und begleitet | |
Arbeitskämpfe. Aber darum geht es hier nicht. Es geht mir um mein eigenes | |
politisches Arbeiten. Ich bin [5][in Konstanz zur Oberbürgermeisterwahl | |
angetreten] – und habe eines der besten Ergebnisse in Westdeutschland für | |
einen Linken bei einer Wahl erreicht. | |
Im ersten Wahlgang haben Sie mit 38 Prozent die meisten Stimmen geholt, im | |
zweiten Wahlgang haben Sie mit 45 Prozent verloren. | |
Ich habe dieses gute Ergebnis erreicht, indem ich ein breites Bündnis | |
geschaffen habe. Ich wurde unterstützt von Grünen, von Linken, anderen | |
ökosozialen Organisationen und von außerparlamentarischen Bewegungen wie | |
Fridays for Future, Seebrücke und Black Lives Matter. Aber Wagenknecht | |
kritisiert in ihrem Buch genau diese Bewegungen und behauptet, durch diese | |
Zusammenarbeit marginalisiere sich die Linke. Mein Ergebnis bei der OB-Wahl | |
in Konstanz beweist das Gegenteil. Wir brauchen mehr Kooperationen und | |
Zusammenarbeit mit der Klimabewegung und mit antirassistischen Bündnissen | |
und nicht weniger. | |
Ich sitze ja auch im Stuttgarter Gemeinderat im Sozialausschuss. Wir | |
kämpfen auf der einen Seite darum, Kitagebühren zu senken, wir haben dafür | |
gesorgt, dass es ein Sozialticket für Menschen gibt, die Hartz IV beziehen, | |
wir versuchen Schüler*innen aus Arbeiterfamilien zu unterstützen. Aber | |
wir sind auch diejenigen, die kritisieren, wenn „Querdenker“ durch | |
Stuttgart laufen zusammen mit Neonazis und Rechtsextremist*innen. Das ist | |
doch kein Widerspruch. | |
Sie wollen nicht, dass Sahra Wagenknecht am Samstag zur Spitzenkandidatin | |
in Nordrhein-Westfalen gewählt wird. Weil sie dieses Buch geschrieben hat? | |
Ihr Buch ist der letzte Beweis dafür, dass es nicht nur um einzelne | |
problematische Sätze bei ihr geht, die mal wieder falsch verstanden werden. | |
Sie macht in ihrem Buch ein Gegenprogramm zur Linken auf. Wenn sie so viele | |
Positionen kritisiert, wofür viele Linke heute stehen, die Vorsitzenden, | |
der Vorstand, viele Kreisverbände, Mitglieder, dann kann sie nicht auf | |
einem Spitzenplatz für die Bundestagswahl stehen. Wenn sie alles so meint, | |
wie sie das in diesem Buch schreibt, dann muss sie sich mittlerweile | |
überlegen, ob sie noch in der richtigen Partei ist. | |
Müsste die Linke das nicht unter Meinungspluralität aushalten? | |
Es geht hier nicht darum, eine andere Meinung auszuhalten. Sie überzieht in | |
ihrem Buch viele Menschen, die eine andere Meinung haben, mit Häme, | |
bezichtigt sie ja schon im Titel als „selbstgerecht“. Sie verteidigt rechte | |
Politiker. Da kann man schon darüber nachdenken, ob sie eine geeignete | |
Person ist als Vertreterin der Linken im Bundestag. | |
Sahra Wagenknecht ist zwar umstritten, aber auch populär. | |
Ja, aber sie bekommt eben auch viel Zuspruch aus dem rechten Lager. Sie | |
könnte sich auch mal fragen, warum das so ist. | |
Aber jetzt zerfleischt sich die Linke wieder selbst. | |
Ja, leider. Aber wir müssen auch klarstellen, dass Wagenknecht ihr sehr | |
eigenes Programm hat und nicht für die Linke als Ganze spricht. | |
9 Apr 2021 | |
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Jasmin Kalarickal | |
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