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# taz.de -- Politisches Schachern um Afghanistan: Schämt euch!
> Unaufmerksamkeit und Desinteresse gingen der menschlichen Katastrophe in
> Kabul voraus. Erschwerend kommt jetzt noch deutsche Bürokratie dazu.
Bild: Ein Baby wird im Chaos der flüchtenden Menge den US-Soldaten hinaufgerei…
Noch während ich diese Kolumne schreibe, erklärt Bundesaußenminister Heiko
Maas: „[1][Die Zeit wird nicht ausreichen, alle auszufliegen, die wir
ausfliegen wollen].“ Man stelle sich diesen Satz als Bildunterschrift der
Bilder vor, die seit Tagen in den Medien kursieren.
Unter Eltern, die ihr Baby in die Hände von Soldaten geben, ganz gleich,
was kommt, unter Bilder von Journalisten, die Strafe der Taliban fürchten
für ihre Berichterstattung, unter Bilder von Menschen, die sich aus
Verzweiflung lieber an ein Flugzeug hängen, als bei den Taliban zu bleiben,
weil sie dort nur zur Trophäe werden könnten für den Sieg, den die Taliban
gegen die Freiheit errungen haben.
Seit bald zehn Tagen sehen wir die Bilder dieser humanitären und
militärischen Katastrophe, und man weiß leider, dass die
Wohlstandsverwahrlosten, die Freiheit so wertvoll finden, bald schon keine
Kraft mehr haben werden für das Elend der anderen. Es wird schnell zu viel
sein, neben den eigenen Sorgen noch an Menschen zu denken, die so weit weg
im Elend leben.
Es liegt nun an jedem von uns, den Regierenden klarzumachen, dass wir
repräsentative Demokratie nicht so verstehen, dass man in unserem Namen
Menschen in Kriegsgebieten zurücklässt. Die Bundesregierung schafft seit
zehn Tagen einmal mehr ein bürokratisches Chaos, wie bei so vielen Themen,
wo es am Ende mehr Papier als Lösungen gibt. Doch hier geht es um
Menschenleben. Schnell wurde bekannt, dass Menschen, die gerettet werden
müssen, auf Listen kommen sollen.
## Triage auf dem Flughafen
Wie sie aber zum Flughafen kommen sollen, dafür fühlte sich die
Bundesregierung zunächst nicht zuständig. Es begann ein [2][Schachern] um
den Status, nach dem die Bundesregierung verantwortlich sei: Festangestellt
oder nicht, weisungsgebunden oder nur bei Subunternehmen angestellt,
dieselbe perfide neoliberale Logik wie auch hierzulande:
Dienstleistungen von Menschen zu erkaufen und ihnen als Arbeitgeber
gleichzeitig so wenig Verbindliches wie möglich bieten zu müssen, diese
ohnehin unmenschliche Logik wollte man kurzerhand auch in eine Situation
übertragen, in der Krieg herrscht, wo es ums Leben oder Tod geht: Wir haben
keine Fürsorgepflicht für dich, du warst ja nicht weisungsgebunden, auch
wenn du uns die letzten Jahre geholfen hast.
Wer wird gerettet? Und wie? Die WDR-Moderatorin [3][Isabel Schayani], der
wir, so wie [4][Natalie Amiri], wichtige Informationen über die Lage in
Afghanistan verdanken, setzte vor vier Tagen einen Tweet und fasste damit
die Doppelmoral der Bundesregierung zusammen: „Bei Corona versuchten wir
alles, um den Ärztinnen eine Triage zu ersparen. Zu Recht. Was da in
[5][#KabulAirport] abgeht, muss Super-Selektion sein. Triage zum Quadrat.
Überleben der Stärksten. Die armen Menschen, die da Listen führen und
entscheiden, wer mitkommt und wer nicht.“
„Die Zeit wird nicht ausreichen, alle auszufliegen, die wir ausfliegen
wollen“, sagt Heiko Maas. Unterdessen fürchten Frauenrechtlerinnen um ihr
Leben und mit ihnen viele deutsche Hilfsorganisationen. Innenminister Horst
Seehofer bestritt, es dürften alle kommen, ohne Bürokratie, während
Frauenorganisationen warten und nicht wissen, wie das Kommen umgesetzt
werden kann.
Auch die internationale Frauenorganisation Medica Mondiale, die sich noch
in Zeiten des Krieges in Ex-Jugoslawien gegründet hatte, weiß immer noch
nicht, wie es weitergeht. Deren Gründerin, die Ärztin [6][Monika Hauser],
erklärte mir gegenüber: „Unsere Kolleginnen können nicht raus aus
Afghanistan, weil es immer noch keinen gesicherten Korridor gibt. Selbst
wenn sie es zum Flughafen schaffen, ist nicht klar, ob sie das Flugfeld
betreten dürfen.“
## Warnungen schlicht ignoriert
Müsste es nicht so laufen, dass die Bundesregierung auf die
Menschenrechtsorganisationen zugeht, statt dass sich jede einzeln durch den
Apparat kämpfen muss, um zu erfahren, wie es weitergeht? In einer
funktionierenden Demokratie kann die Zivilgesellschaft nicht nur in die
Pflicht genommen werden, man kann nicht Projekte vergeben an Träger, die
dann vertrauensvoll Entwicklungsarbeit leisten, um im Notfall machtlos
dazustehen und den eigenen Leuten sagen zu müssen, dass man von der eigenen
Regierung nicht mehr unterstützt wurde?
[7][Marcus Grotian] vom Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte hat
mehr für die Aufklärung über die Arbeit der Bundesregierung getan als jedes
Ministerium. Die Transparenz über das Handeln und Scheitern in den
Ministerien scheint den Regierenden kein Bedürfnis zu sein. Grotian
berichtet von Unterlassungen, mit denen er umgehen musste, seit er Menschen
aus Afghanistan retten will. Er bot dem Bundeskanzleramt seine Hilfe an,
weil die Ministerien sich gegenseitig blockierten und zu lange brauchten.
Er erhielt keine Reaktion, keine Antwort. Man muss danach fragen, ob sich
noch jemand schämt. Wer kann eine Mail von Marcus Grotian lesen und einfach
nicht darauf antworten? Repräsentative Demokratie ist Politik im Namen des
Volkes. Wenn Privatleute ein persönliches Wertesystem haben, dass es ihnen
ermöglicht, solche Mails auszusitzen, fein. Mein Beileid. Aber nicht als
Amtsträger, nicht als jemand, der Verantwortung übernommen hat. Das Leid in
Afghanistan ist Konsequenz eines internationalen Scheiterns, ja.
Doch in Deutschland wird es zunehmend zu einer Vertrauensfrage zwischen
Bundesregierung und Zivilgesellschaft. Selbst wenn die internationalen
Geheimdienste versagt haben – Menschen wie Marcus Grotian hatten frühzeitig
Alarm geschlagen, weil sein Verantwortungsgefühl für die Menschen größer zu
sein scheint als das jener, die die politische Verantwortung tragen.
Vor der Bundespressekonferenz warf er am Dienstag der Bundesregierung
„unterlassene Hilfeleistung“ vor. Man muss jetzt den Regierenden deutlich
machen: „Nicht in unserem Namen!“
25 Aug 2021
## LINKS
[1] https://web.de/magazine/politik/afghanistan/maas-evakuierungszeit-reicht-10…
[2] /Aufnahme-von-afghanischen-Gefluechteten/!5791219
[3] https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-908245.html
[4] https://www.deutschlandfunk.de/journalisten-in-afghanistan-amiri-die-verzwe…
[5] https://twitter.com/search?q=triage&src=typed_query
[6] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/interview-hauser-frauen-afghanistan…
[7] /Aktuelle-Nachrichten-zu-Afghanistan/!5795194
## AUTOREN
Jagoda Marinić
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