# taz.de -- US-Abzug aus Afghanistan: Ein Schritt zurück, ein Sprung vor | |
> Im Zuge der Afghanistanpolitik sprechen viele vom Ende der US-Hegemonie. | |
> Dabei haben die USA mit jedem verlorenen Krieg ihren Einfluss erweitert. | |
Bild: Das Bild von 1975 in Saigon lässt unweigerlich an Kabul in 2021 denken | |
Seit dem Einmarsch der Taliban in Kabul Mitte August konnte man dem | |
Vergleich nicht mehr entkommen: Auf allen Kanälen wurde das, was in | |
Afghanistan geschieht, mit den Bildern von Saigon vom 30. April 1975 | |
parallel gesetzt. [1][Beide Male landeten Hubschrauber, um das Personal der | |
US-Botschaft evakuieren.] | |
Was wir bei diesem Vergleich allerdings vermissen, ist, dass Kabul und | |
Saigon nicht als Ende der Geschichte angesehen werden, sondern als – gewiss | |
hochdramatische – Ereignisse, [2][die neue Entwicklungen nach sich ziehen.] | |
Damals in den 1970ern schien der panische Helikopterabflug von Saigon der | |
letzte Sargnagel zu sein im globalen amerikanischen Herrschaftsanspruch, | |
das zentrale Symbol für einen unmittelbar bevorstehenden und irreversiblen | |
Machtverfall. | |
Saigon stand für das Ende eines Krieges, der für die USA viel teurer und | |
blutiger war als die Intervention in Afghanistan. In Vietnam waren 536.000 | |
GIs im Einsatz, in Afghanistan 95.000 (plus knapp 8.000 Söldner privater | |
Sicherheitsfirmen); in Afghanistan starben 2.400 US-Soldaten (plus 3.800 | |
Söldner), in Vietnam fast 60.000. | |
Aber nicht nur diese Zahlen markieren den Unterschied: Die USA hatten in | |
den 1970er Jahren ein Jahrzehnt der erbitterten Proteste und politischen | |
Morde hinter sich. Die Kosten des Krieges sorgten für ein Rekorddefizit im | |
US-Haushalt, das 1944 eingeführte Währungssystem von Bretton-Woods brach | |
zusammen. 1973 folgte dann noch die unerwartete und deswegen umso | |
gravierendere erste Ölkrise. | |
## Die USA waren der absolute Hegemon | |
Überall in der Welt schien die US-Herrschaft zu bröckeln. In Chile 1973 | |
hatten die Amerikaner einen Putsch provozieren müssen, um das Land aus den | |
Händen der Sozialisten zu „retten“. In Lissabon hatten die „Roten“ 197… | |
der „Nelkenrevolution“ tatsächlich die Macht ergriffen, die ehemaligen | |
portugiesischen Kolonien Mosambik und Angola wandten sich der Sowjetunion | |
zu wie auch 1976 Äthiopien; das alles nach Watergate und dem Rücktritt von | |
Richard Nixon. | |
Während also Saigon fiel, steckten die USA in einer beispiellosen | |
institutionellen und ökonomischen Krise, der Einfluss der Sowjetunion | |
schien sich ungebremst auszuweiten. Nur 16 Jahre später, 1991, existierte | |
aber ebendiese Sowjetunion nicht mehr. Japan, das während der 1980er Jahre | |
in für die Jungen heute gar nicht mehr vorstellbarer Hysterie zum | |
wirtschaftlichen Hauptfeind ausgerufen worden war, stagnierte. Die USA | |
waren der absolute Hegemon und führten eine Koalition zum Sturz Sadam | |
Husseins im Irak an. | |
Davon ausgehend können wir die Bilder von 1975 neu betrachten: Sie zeigen | |
nicht die Niederlage des US-Imperiums, sondern stehen für den Beginn der | |
Gegenoffensive. Heute scheint China von der Niederlage in Afghanistan zu | |
profitieren, aber nach Vietnam war es eben die Sowjetunion, die als | |
Gewinner des Kalten Krieges festzustehen schien – wir wissen heute, wie die | |
Sache wirklich ausging. Vom Niedergang der USA höre ich seit Kindertagen, | |
den Topos gab es aber schon lange vorher – und ich bin 1947 geboren. | |
[3][Noam Chomsky lässt diesen Niedergang mit dem Ende des Zweiten | |
Weltkriegs beginnen], als die USA China an den Kommunismus verloren haben. | |
Aber auch 1992, nach dem Sieg im Kalten Krieg, hatten Artikel wie „Is | |
America in Decline?“ Konjunktur. Es ist richtig, dass der Vergleich der | |
UdSSR von 1975 mit dem des China von heute hinkt. Tatsächlich ist China im | |
Wettbewerb der Mächte ein viel stärkerer Player. | |
## Der Banalität entreißen | |
Was aber die USA so einzigartig macht, ist die Tatsache, dass, je mehr | |
Schlachten und Kriege sie verlieren, sie desto mehr wachsen und ihren | |
Einfluss ausweiten. Seit 1945 haben die USA so gut wie jeden Krieg | |
verloren, ihre Macht aber – finanziell, symbolisch, technologisch, | |
sprachlich und natürlich auch militärisch und diplomatisch – ist dabei | |
beständig gewachsen. | |
Zu dieser Beobachtung schrieb mir Victoria De Grazia, Historikerin an der | |
Columbia-Universität: „Ein Schritt zurück, ein großer Sprung nach vorne. | |
Jedes Mal, wenn die USA einen bedeutenden Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg | |
verloren haben (Korea, Vietnam, Irak/Afghanistan), beginnt ein Umbau der | |
amerikanischen Gesellschaft. | |
Nach Korea waren das Investitionen in Highways, Bildung und in das Arpanet, | |
den militärischen Vorläufer des Internets, in den 1960ern folgte das | |
gesellschaftliche Reformprojekt der Great Society. Die Liberalen alter | |
Schule haben immer darauf bestanden, dass es keine amerikanische Hegemonie | |
geben kann, ohne dass die US-Soft Power nach dem Modell des New Deal stetig | |
aktualisiert wird. | |
Ebendas versucht gerade Präsident [4][Joe Biden mit seinem | |
milliardenschweren Infrastrukturprogramm.] Globale Realpolitik ist eben | |
nicht die einzige Perspektive, unter der man die Geschehnisse in | |
Afghanistan betrachten kann. Es gibt in der modernen Politik kein | |
Nullsummenspiel, nachdem alles, was die USA verlieren, automatisch China | |
oder Russland in die Hände fällt.“ | |
Wenn wir also den Vergleich Saigon/Kabul der Banalität und der Häme | |
entreißen und produktiv machen wollen: Dann müssen wir uns damit | |
beschäftigen, welche Art von Gegenoffensive die USA gerade planen und wie | |
sie ihre Gesellschaft reorganisieren wollen, die heute, vielleicht noch | |
mehr als in den 1970er Jahren, am Rande eines Bürgerkriegs zu stehen | |
scheint. | |
Aus dem Italienischen von Ambros Waibel | |
26 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Die-USA-und-das-Afghanistan-Desaster/!5793953 | |
[2] /Afghanistan-und-der-Vietnamkrieg/!5789786 | |
[3] https://chomsky.info/20110824/ | |
[4] /Bidens-Billionen-Programm/!5759014 | |
## AUTOREN | |
Marco d'Eramo | |
## TAGS | |
Kabul | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Vietnamkrieg | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Schlagloch | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Hamburg | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die EU und Afghanistan: Schockstarre in Brüssel | |
Nach den Anschlägen am Flughafen von Kabul zeigen sich viele EU-Politiker | |
entsetzt. Doch das Afghanistan-Kapitel ist für die Union beschämend. | |
Joe Biden über Anschläge in Kabul: „Ihr werdet dafür bezahlen“ | |
Der US-Präsident hat angekündigt, militärisch gegen die Verantwortlichen | |
der Attacken vorzugehen. Gegen ihn werden Rücktrittsforderungen laut. | |
Evakuierungen aus Afghanistan: Propaganda und Panik | |
Die Taliban behaupten, auch nach dem Ende der Evakuierungen dürfe man | |
Afghanistan verlassen. Doch die Realität sieht schon jetzt anders aus. | |
Politisches Schachern um Afghanistan: Schämt euch! | |
Unaufmerksamkeit und Desinteresse gingen der menschlichen Katastrophe in | |
Kabul voraus. Erschwerend kommt jetzt noch deutsche Bürokratie dazu. | |
Plenarprotokoll zu Afghanistan: „Nicht gut für Deutschland“ | |
Ortskräfte unbürokratisch aufnehmen? Bis vor wenigen Wochen lehnte die | |
Große Koalition das im Parlament ab. Hier das gekürzte Protokoll. | |
Demo der Exilafghan:innen in Hamburg: Wer hat das Sagen? | |
Hamburg ist der größte Ballungsraum für Exilafghan:innen in ganz Europa. | |
Bei einer Demo am Jungfernstieg zeigte sich, wie uneins die Community ist. |