# taz.de -- Abschied von europäischen Gewohnheiten: Auf der Suche nach unserer… | |
> Die Europäer sind es nicht gewohnt, Machtpolitik zu betreiben. Aber wenn | |
> die USA als Schutzmacht ausfallen? Eine Zugfahrt kann Hoffnung machen. | |
Bild: Auch in einem tschechischen Speisewagen kann man nette Bekanntschaften ma… | |
In den Sommern meiner Kindheit prallten die Welten nur so aufeinander: Bei | |
meinen Verwandten galt ich als das Mädchen aus dem Westen – verwöhnt und | |
provinziell, weil ich bis dahin die meiste Zeit in Frieden und ohne große | |
weltpolitische Krisen aufgewachsen war. Sie hingegen, die im | |
Freilichtmuseum der untergegangenen Sowjetunion, in [1][Transnistrien], | |
unter russischem Einfluss lebten, verstanden sich als die wahren Hüter der | |
Freiheit. | |
„Die USA gehen bald unter, wirst du schon sehen“, schrie mein | |
Couch-Politologen-Onkel jedes Mal im Streit, den wir eigentlich gar nicht | |
haben durften, weil zu Beginn jedes Besuchs zwei Regeln aufgestellt worden | |
waren: keine Gespräche über Politik und keine über Religion. Ich weinte da | |
meistens schon, weil ich nicht verstehen konnte, wie ich mit diesen | |
Menschen verwandt sein konnte. Für die Verwandtschaft war das alles nur ein | |
Scherz: Haha, lustig! Wie ernst du alles nimmst! Für mich nicht. | |
Mit dem [2][Untergang der USA], damit hätte mein Onkel jetzt vielleicht | |
sogar recht, scherzte ein Kollege, als ich ihm von diesen Erinnerungen | |
erzählte. Ich musste lachen, ja, vielleicht, und es schauderte mich | |
zugleich. | |
Es mag naiv und albern klingen, aber die Existenz der Vereinigten Staaten | |
als westliche Großmacht, die Tatsache, dass sie eine Lebensversicherung für | |
die Länder des Westens verkörperten, hat mir immer Sicherheit gegeben. Ich | |
dachte: egal was kommt, die haben wir im Rücken. Weil ich umgekehrt wusste: | |
Unter russischem Einfluss, in putinschen Verhältnissen will ich niemals | |
leben. | |
## Mindestens angekratzt | |
Mit Donald Trump an der Spitze der USA ist das transatlantische Verhältnis | |
auf die Probe gestellt worden. Die einen sagen, es sei dahin, zerrüttet, | |
mindestens angekratzt. Wer steht jetzt noch für „den Westen“, wenn sein | |
einstiger Vorkämpfer und Anführer, die USA, in Arbeitsverweigerung getreten | |
sind, weil Trump die Idee eines freien Westens zutiefst verachtet? | |
Ich las davon, dass die EU mehr Mut bräuchte. Ist es das? Ich glaube nicht, | |
dass es um fehlenden Mut geht, eher um Bequemlichkeit, Zaghaftigkeit. Es | |
ist wie mit alten Gewohnheiten, die man ablegen möchte, um neue Routinen | |
aufzubauen: mit ihnen anzufangen ist schwer, meistens sträubt man sich, es | |
braucht ein paar Anläufe. Manchmal verwirft man sie, um sie im nächsten | |
Jahr wiederzuentdecken. Bis sie dann endlich sitzen, das braucht Zeit. Aber | |
diese haben die Ukrainer, hat Europa nicht. | |
[3][Die Europäer sind es nicht gewohnt, Machtpolitik zu betreiben.] Mussten | |
sie ja bislang nicht. Da war ein transatlantischer Verbündeter – und | |
Russland wurde lange Zeit nicht als Feind betrachtet. | |
„Erfolgreiche Diplomatie braucht Zwangsmittel im Hintergrund“, kommentierte | |
Journalist Jörg Lau kürzlich [4][im Deutschlandfunk Kultur]. Heißt: | |
Machtpolitik lebt von Diplomatie und von Drohungen. Nur aus einer Position | |
der Stärke kann erfolgreich verhandelt werden. Diese aufzubauen, hat Europa | |
in den vergangenen Jahren verpasst – und damit auch die Ukraine gefährdet. | |
## Ungleich, aber angenehm | |
Gerade erst fand ich mich in einem tschechischen Speisewagen wieder. Ein | |
ukrainisches Paar trank Tee und Bier, ich aß Gulaschsuppe und ein deutscher | |
Fußballfan sang betrunken Lieder. | |
Wir waren eine ungleiche, aber angenehme Gruppe. Dass seine Kenntnisse des | |
östlichen Europas jenseits der Grenze zu Polen endeten, offenbarte der in | |
Fußballschals gewickelte Betrunkene, da er nicht verstehen wollte, dass die | |
Kellner aus dem tschechischen Prag kamen, nicht aus Polen („Tschechien, | |
Tschechien, ich kenne nur Krakau.“). | |
Dem ukrainischen Paar zugewendet, bemerkte er, zu meiner Überraschung, dass | |
Trump sich nur für sich selbst interessiere, Russland der Aggressor sei, | |
und es ihm leid tue, dass der Angriffskrieg andauere. Die Ukrainer | |
lächelten amüsiert, überrascht und ein wenig dankbar. Und ich war | |
hoffnungsvoll, wenn auch für einen kurzen Moment. | |
16 Mar 2025 | |
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[4] http://www.deutschlandfunkkultur.de/kommentar-usa-ukraine-europa-diplomatie… | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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