Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Autor Chaim Nachman Bialik: Geschichten, die Israel gemacht haben
> Eine Nation gründet sich nicht nur auf Werte, sondern auch auf Literatur.
> Der 1934 verstorbene Autor Chaim Nachman Bialik hatte das früh
> verstanden.
Bild: Schriftsteller Chaim Nachman Bialik vor einem Schiff
Es gibt Bücher, die einen mit einer gewissen Wucht treffen, und solche, die
wie ein leises Plätschern sind, sanft in die eigene Welt dringen und
genauso wieder verschwinden. [1][Chaim Nachman Bialiks „Wildwuchs“] gehört
zur ersten Kategorie. Eine Auswahl seiner Novellen ist erstmals auf Deutsch
erschienen. Was ein Glück!
Von Bialik habe ich [2][schon einmal erzählt.] Diesem großen jüdischen
Dichter und Schriftsteller, der ein Nationalstar war, noch bevor Israel
überhaupt gegründet wurde. Bialik war es, der das erste Pogrom gegen Juden
Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Gedicht „In der Stadt des Tötens“
beschrieb. Der die kaum aushaltbaren Grausamkeiten, den Tod, den Sadismus
der Täter präzise in Poesie goss, die Mörder benannte und dabei aber nicht
zimperlich war mit den jüdischen Männern, die nicht eingriffen, als ihre
Frauen vergewaltigt wurden.
Eine Nation gründet sich nicht nur auf Werte, Überzeugungen. Sie braucht
nicht nur Menschen, sondern eine gemeinsame Sprache, Worte, ja, auch
Literatur. Das verstand Bialik früh und wurde so zum Pionier der
hebräischen Sprache. Der im heute ukrainischen Schytomyr aufgewachsene und
streng religiös erzogene Dichter befreite das Hebräische, das bis dahin als
religiöse Gebetssprache und zum Thorastudium genutzt wurde, von seiner
dicken Staubschicht, machte es alltagstauglich, quasi säkular und
formulierte für die Juden von damals damit eine Zukunft. Diese hieß: raus
aus dem Schtetl, raus aus Osteuropa, hin ins Gelobte Land, nach Palästina.
Eine eigene Nation sollte her.
Gleichgesinnte für seine Ideen fand er in Odessa, damals eine
kosmopolitische Stadt, wenn man so will, ein Ort jüdischer Utopie. Denn in
Odessa wurden schon lange vor Theodor Herzl zionistische Gedanken
gesponnen, Texte geschrieben, wurde eine Bewegung formiert.
## Schriftsteller mit Visionen
Bialik war ein scharfsinniger, herausragender Beobachter. Jemand, der am
Rande stand, mit Stift und Zettel. Oder vielleicht doch mittendrin, Teil
des Geschehens, aber nicht unbedingt beteiligt. Er war kein politischer
Aktivist, seine Visionen formulierte er nicht als flammende Pamphlete,
sondern als Gedichte. Bialik war Dokumentarist, ein Schriftsteller mit
Visionen, wie man ihn sich auch heute wünschen würde.
Weil er ein großer Autor ist, beeindrucken seine Texte heute noch: mit
einer so klaren, kraftvollen Sprache und der Fähigkeit, persönliche und
gesellschaftspolitische Fragen miteinander zu Geschichten zu verweben.
„Hinter dem Zaun“ zum Beispiel kann als erotische Geschichte gelesen
werden: zwischen dem jüdischen Jungen Noah und dem russischen Mädchen
Marinka. Eine Liebe, die nicht sein darf. Oder als großes Ringen um die
Frage, ob Tradition mehr wiegt als das weltliche Leben. In der Erzählung
entscheidet sich Noah für die Familie, gibt der traditionellen Erziehung
nach und lässt das russische Mädchen hinter dem Zaun zurück. Ob er weiß,
dass Marinka ein Kind von ihm bekommen hat? Das bleibt offen.
In seinen Novellen erzählt Bialik von dem Vergangenen, von [3][Dörfern
seiner Kindheit, einer jüdischen Welt,] die er als Junge verlassen hat und
die trotzdem in ihm weiterlebt, ihn nicht loslässt. Was heißt Aufbruch in
ein neues Leben, ein neues Land? Können wir die Vergangenheit abschütteln?
Gerade das ist die Stärke seiner Texte. Sie beschreiben universelle Gefühle
und Fragen, die über die jüdische Erfahrung hinausgehen.
Bialiks Texte tragen mich und halten mich in einer Welt, die sich anfühlt,
als würde sie täglich an Stabilität verlieren. Und trotzdem wundere ich
mich, was Bialik wohl heute beobachten würde. Wie er die Welt, die
Grausamkeiten beschreiben und welche Zukunft er sehen würde. Eine Frage,
die ohne Antwort bleiben wird. Wie auch seine Texte oft uneindeutig enden.
So wie das Leben eben selbst.
2 Apr 2025
## LINKS
[1] https://www.chbeck.de/bialik-wildwuchs/product/37479584
[2] /Ein-Jahr-7-Oktober/!6041997
[3] /Forschung-zu-Ghetto-in-der-Ukraine/!5754579
## AUTOREN
Erica Zingher
## TAGS
Kolumne Grauzone
Jüdisches Leben
zionismus
Kolumne Grauzone
Das Leben einer Frau
Kolumne Grauzone
## ARTIKEL ZUM THEMA
Abschied von europäischen Gewohnheiten: Auf der Suche nach unserer Stärke
Die Europäer sind es nicht gewohnt, Machtpolitik zu betreiben. Aber wenn
die USA als Schutzmacht ausfallen? Eine Zugfahrt kann Hoffnung machen.
Altersarmut von Jüdinnen und Juden: „Ich gehe zur Tafel, und ich schäme mic…
220.000 Jüdinnen und Juden sind bis 2005 aus der Sowjetunion ins Land
gekommen. Viele von ihnen leben heute in Altersarmut. Drei Frauen erzählen.
Abschied von Shiri, Ariel und Kfir Bibas: Angehörige quälen ist eine Strategi…
Wie weiterleben, hat sich unsere Kolumnistin in den letzten Tagen gefragt.
Nicht für sich selbst, sondern für die Hinterbliebenen der Terroropfer.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.