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# taz.de -- Korrumpierte Linksliberale: Frische linke Luft braucht's
> Ins Abseits des politischen Diskurses geraten ist der Linksliberalismus.
> Als Grundlage für einen demokratischen Sozialismus taugt er grad wenig.
Bild: Zurzeit ist der Liberalismus ziemlich am Arsch
Ich riskiere wahrscheinlich nicht viel, wenn ich über die Leser*innen
der [1][taz], an die ich mich in gewissen Zeitabständen und ohne
Themenvorgabe wenden darf, eine Behauptung aufstelle: Sie fühlen sich
mehrheitlich einem Diskurs und/oder einem Milieu verbunden, den/das man
früher „linksliberal“ nannte.
Zwar ist dies nun mit Aspekten der Ökologie, des Feminismus und des Post-
oder Antikolonialismus angereichert, aber in alledem setzt sich doch die
Bemühung fort, zwei Dinge unter einen Hut zu bringen, die ihre
Widersprüchlichkeit gar nicht verbergen. Der Liberalismus ist die ein klein
wenig ältere Zutat, es ist die politische Philosophie, die den
demokratischen Staat und zugleich die bürgerlich-kapitalistische Besitz-
und Arbeitsordnung hervorbrachte.
Immer wieder kamen sich der [2][Wirtschaftsliberalismus] und der politische
Liberalismus ins Gehege, und wenn es schon was aus der Geschichte zu lernen
gäbe, dann dies: Wenn’s um die Verteilung von Geld und Besitz geht, dann
opfert ein Großteil des Bürgertums gern den politischen und kulturellen
zugunsten des ökonomischen Liberalismus. Und wenn’s in die Krise geht, dann
werden sich die beiden spinnefeind.
Das Korrektiv für diesen heillosen Widerspruch war eine Bewegung, die sich
darauf besann, dass politische Freiheiten nicht viel taugen, wenn sich
gleichzeitig soziale Ungerechtigkeit ausbreitet. Das heißt: Die Politik
muss der ökonomischen Freiheit der Besitzenden Grenzen setzen und sie an
soziale Verantwortung binden. Dieser Sozialliberalismus oder eben
Linksliberalismus war freilich seit seiner Entstehung im vorvorherigen
Jahrhundert meistens ein Minderheitenprojekt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieben sich eine Reihe europäischer Staaten
die soziale Komponente der Freiheit in ihre Verfassungen und vergaßen dann
die Sache mit der Sozialbindung von Eigentum rasch wieder. In der
Bundesrepublik gab es eine Regierung aus Sozialdemokraten und FDP, der man
den Namen sozialliberale Koalition gab.
## Neoliberale und Faschisten
Ihr Scheitern war eines der Symptome der großen Wandlung: Der
[3][Neoliberalismus] verband sich vorsorglich statt mit politischem und
kulturellem Liberalismus mit den Konservativen, den Reaktionären und gern
auch mal mit neuen Faschisten. Und die Linksliberalen wurden aus den
Diskursen der politischen Ökonomie verdrängt und zogen sich weitgehend in
ihr Milieu zurück.
Und das veränderte sich: Auf die politische Entmachtung folgte eine
Doppelstrategie: Man arrangiert sich mit dem neoliberalen Mainstream, hilft
ja nichts, zumal dieser sich ja ein paar hippe Elemente der einstmals
immerhin medial durchaus „führenden“ linksliberalen Kultur angeeignet hat.
Sobald es ums (eigene) Geld geht oder um die Verteilung von Rechten und
Pflichten, zeigt sich auch in diesem „Irgendwie immer noch links“-Milieu,
wie viel man vom Neoliberalismus verinnerlicht hat.
War schon die Verbindung von links und liberal eine spannende
Angelegenheit, so ist der Linksneoliberalismus, in dem sich offenkundig
ganze Szenen und Schichten eingerichtet haben, nur in einer Blase zu
ertragen, in der sich politische Ohnmacht, ökonomische Korruption und
kulturelle Privilegien mit einer beständigen Performance der eigenen
moralischen Überlegenheit verbinden lässt.
In dieser Blase scheint man vordringlich damit beschäftigt, die Werte des
neuen und alten Liberalismus in Sprach- und Zeichennormen zu verwandeln.
Aus dem Geist von Erfahrung und Begegnung sind Rechthaberei und
gegenseitiges Misstrauen gewachsen.
## Spottnahrung für den Rechtsliberalismus
Das „links“ hatte einst die Gefahr einer Leninisierung mit sich gebracht,
das heißt die Verwandlung einer Erkenntnismethode in ein Machtinstrument,
und nun zeigt das „liberal“ in linksliberal die Gefahr einer
Calvinisierung: Die Gemeinde wird zu einem Instrument der wechselseitigen
Überwachung und Maßregelung. Eben deswegen muss der gemeinsame Wert von
einst in eine äußere Norm umgewandelt werden.
Das ist keineswegs auf die längst öffentlich debattierten Felder von
„politisch korrekter Sprache“, von [4][Gendern, Canceln] und dergleichen,
beschränkt, die dem anderen, dem Rechtsliberalismus so viel Spottnahrung
zuspielen. Die Calvinisierung der postlinksliberalen Milieus geht tiefer.
Sie bringt das gegenseitige Misstrauen, die Furcht vor intellektueller
„Ausgelassenheit“ und ein unangenehmes Eiferertum hervor.
Wo man sich zuvor über die gemeinsamen Werte freute, fühlt man sich nun von
den Normen unterdrückt. Ein Wert braucht keine Norm, um zu wirken, und mit
einer Norm kann man keinen Wert erzeugen. Nur die Entscheidung zwischen
Unterwerfung und Trotz. Als politische Haltung verstanden muss der
Liberalismus ständig erweitert und vertieft werden, um nicht als Genuss von
Privilegien unter dem Mantel einer allgemeinen Laisser-faire-Toleranz zu
verkommen.
Andererseits verlangt er auch immer wieder die paradoxe liberale
Auseinandersetzung mit dem Illiberalismus. Dass sich derzeit einige Regimes
mit dem Titel einer „[5][illiberalen Demokratie]“ schmücken, mag darauf
hinweisen, dass Liberalismus und Demokratie zwar eine Beziehung miteinander
haben, aber nicht miteinander identisch sind. Wenn das „Neo“ im
Liberalismus hegemonial wird, kommt er auch ganz gut ohne Demokratie aus.
Ein Leben ohne Liberalismus ist jedenfalls für uns Insassen von
Mitteleuropa einigermaßen unerträglich. Glücklicherweise bietet der
Liberalismus selbst die Grundlage für seine ständige Kritik, seine ständige
Veränderung, seine ständige Erneuerung. Zurzeit, sagen wir’s mal so, ist
der Liberalismus ziemlich am Arsch.
Der Linksliberalismus als politische Philosophie, vielleicht als Grundlage
für die Konstruktion eines demokratischen Sozialismus für die
postkapitalistische Zeit, muss aus seiner freud- und fantasielosen Blase
befreit werden. Das linksliberale Milieu, unser Milieu, braucht dringend
frische Luft.
9 Nov 2022
## LINKS
[1] /
[2] /Vorwuerfe-gegen-Christian-Lindner/!5867139
[3] /Neoliberalismus-der-Jungen-Liberalen/!5814267
[4] /Gendergerechte-Sprache/!5867685
[5] /Orban-wirbt-fuer-illiberale-Demokratie/!5613881
## AUTOREN
Georg Seeßlen
## TAGS
Neoliberalismus
Sozialismus
Schlagloch
Eigentum
Krise der Demokratie
Wolfgang Streeck
Sozialpolitik
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