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# taz.de -- Vordenkerin Susan Sontag: Ikone der Intensität
> Susan Sontag, Amerikas glamouröseste Intellektuelle, wird drei Jahre nach
> ihrem Tod neu entdeckt: als It-Girl einer Epoche, die noch voll
> Beginnergefühl war.
Bild: Mehr als nur eine Intellektuellendarstellerin: Susan Sontag
Wir sehen, wonach wir suchen, und Größe liegt zunächst im Auge des
Betrachters, was immer er im Betrachteten auch zu erkennen vermag. So sagt
es, wenn eine Zeit einen Autor entdeckt oder wiederentdeckt, stets
mindestens so viel über die Zeit selbst aus wie über den Autor. Was sie in
ihm wahrnimmt, sind ihre Sehnsüchte. Und was sie ersehnt, ist das, woran
sie Mangel zu leiden glaubt. "Die beiden Pole eines ausgeprägt modernen
Bewusstseins sind Nostalgie und Utopie", schreibt Susan Sontag in dem Essay
"Dreißig Jahre später", den sie der spanischen Neuauflage einer ihrer
Schriften aus den frühen Sechzigerjahren voranstellte. "Das vielleicht
interessanteste Merkmal der Zeit, die heute als die Sechzigerjahre
etikettiert wird, war die Tatsache, dass es so wenig Nostalgie gab. In dem
Sinne handelte es sich tatsächlich um einen utopischen Moment."
Womöglich gibt es heute ein Verlangen nach einer Zeit ohne Nostalgie, nach
den Augenblicken, die noch voll waren mit dem, was Bertolt Brecht
"Beginnergefühl" nannte. Man blickt zurück in Zeiten, in denen allgemein
nach vorne geschaut wurde. Nostalgische Sehnsucht nach der Utopie, kurios
genug - aber Nostalgie und Utopie sind schon immer originelle Bündnisse
eingegangen. "Dont look back", heißt P. A. Pennebakers legendärer Film über
Bob Dylans Englandtournee, aber das war damals schon halb eine Beschwörung.
Eine Konstellation, nicht ohne Paradoxie, innerhalb deren die
Wiederentdeckung von Susan Sontag ein Symptom ist. Als sie vor drei Jahren
starb, war Susan Sontag noch hoffnungslos "out", belächelte Repräsentantin
der Kultur der "politisch intervenierenden Schriftsteller". Fad wie Grass.
Keine Protestresolution, die nicht von ihr unterzeichnet war. In den USA
behandelte man sie halb wie eine Närrin, halb wie eine Staatsfeindin, seit
sie wenige Tage nach dem 11. September 2001 den Jargon des "Kriegs gegen
den Terror" zornig attackiert hatte.
Damals hatte sie geschrieben: "Wo findet sich das Eingeständnis, dass dies
kein ,feiger' Angriff auf ,die Zivilisation' oder ,die Freiheit' oder ,die
Menschheit' oder ,die freie Welt' war, sondern ein Angriff auf die selbst
ernannte Supermacht dieser Erde, unternommen infolge ganz bestimmter
Allianzen und Aktionen, auf die Amerika sich eingelassen hat? […] Und was
das Wort ,feige' angeht, so trifft es auf Leute, die vom Himmel herab und
unerreichbar für jegliche Vergeltung töten, wohl eher zu als auf jene, die
bereit sind, zu sterben, um andere zu töten. Zur Frage des Mutes (einer
moralisch neutralen Tugend) nur dies: Was immer man über jene sagen mag,
die das Blutbad vom Dienstag angerichtet haben - Feiglinge waren sie
nicht."
Sontags Intervention, die sie damals zur Persona non grata machte, kann man
in dem Band mit letzten Essays nachlesen, der jüngst im Hanser Verlag
erschien - wenngleich man das skandalöse Potenzial dieser Wortmeldung nach
sieben Jahren des Jingoismus von George W. Bush kaum mehr ermessen kann,
weil die überwältigende Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten
inzwischen die Dinge in etwa so sieht wie Sontag damals.
Aber nicht nur deshalb ist die eben erst Verfemte mittlerweile beinahe so
etwas wie eine Legende. Neben dem jüngsten Band mit literarischen Essays,
politischen Kommentaren und diversen Preisreden ist unlängst eine erste
Susan-Sontag-Biografie erschienen. "Geist und Glamour", so der
programmatische Titel. Demnächst sollen auch Sontags Tagebücher sukzessive
auf den Markt kommen, umfangreiche Auszüge brachte das New York Times
Magazine bereits vorab.
"Warum ist Schreiben so wichtig? Hauptsächlich wegen Egoismus, nehme ich
an. Weil ich diese Person sein will, ein Schriftsteller, und nicht weil da
etwas wäre, was ich sagen muss. Aber warum nicht auch deshalb? Mit etwas
Ich-Modellierung - wie mithilfe dieses Tagebuches - sollte ich auch die
Sicherheit gewinnen, dass ich (ICH) etwas zu sagen habe, das gesagt werden
sollte", schrieb Sontag Ende der Fünfzigerjahre in ihr Tagebuch. Es sind
erstaunliche Notate, die die Literaturtheoretiker und Kulturhistoriker auf
Jahre hinaus mit Material ausstatten werden. Ab 2009 sollen sie auch in
Buchform zu haben sein.
Sontag hatte blutjung den Freudianer Philip Rieff geheiratet, mit ihm den
Sohn David bekommen, ein paar Studienjahre eingelegt (unter anderem bei Leo
Strauss, Jakob Taubes, Herbert Marcuse) und sich dann nach Paris
davongemacht.
Dort hat sie sich voller Lebensappetit in den Kreisen der hauptstädtischen
Intelligenz herumgetrieben und ihre Homosexualität akzeptiert. Sie traf
Sartre auf Partys, begegnete Simone de Beauvoir. Sie sog Ideen auf, aber
auch Mentalitäten und Gesten. Später ging sie nach New York und schrieb
dort für die führenden linken Blätter, voran die legendäre Partisan Review.
Sontag sprengte die engen Rahmen, die hermetischen Zirkel der literarischen
und akademischen Produktion. Sie interessierte sich für Populär- und
Gegenkultur, für französische und japanische Filme, war Tag und Nacht auf
den Beinen und wurde zur kultivierten Stimme eines "Lebensgefühls" zu einer
Zeit, als dieses Wort noch nicht erfunden war. Und sie setzte als eine der
ersten Intellektuellen eine moderne Prominenzstrategie ein - sie wurde ein
"It-Girl" der Theorie. Sie platzierte ihre Texte auch in
Lifestylezeitschriften. Ihr legendärer Essay "Trip to Hanoi" etwa erschien
in Esquire. Ein kalkulierter Tabubruch, der ein raffiniertes
Prominenzfeedback zur Folge hatte: Weil die junge, schöne, schicke Autorin
Sontag in diesen Zeitungen veröffentlichte, steigerte das wiederum ihre
Prominenz - das versicherte erst ihren Chic.
Nebenbei wuchs ihre Bekanntheit über die Kreise hinaus, die sich ansonsten
für Kulturkritik interessieren. Sie war eine Intellektuellendarstellerin,
aber nicht nur; sie repräsentierte ein Zeitgefühl, aber immer auch mehr als
das; in ihren Essays gab sie dem Augenblick die Stichwörter, aber die
hatten eine Wahrheit über den Moment hinaus; sie war ein Postergirl des
Radical Chic, das aber mit unironischer Ernsthaftigkeit. Über Albert Camus
schrieb sie, er sei ein Autor, "der ein überaus interessantes Leben führte,
ein Leben, das … nicht nur als Innenleben, sondern auch äußerlich
interessant war". Wie immer schrieb die Kritikerin da auch ein wenig über
sich.
Dabei war sie sowohl Kind ihrer Zeit als auch ein Fall für sich. Sie pries
die neuen Formen, hielt sich aber an die alten. Ihre Essays waren
konventionell im besten Sinne - stilsicher war sie schon in ihren
Zwanzigern, gelehrt, klug, hatte sie schnell ihren eigenen Sound. Sie sah,
las und schrieb. Über Avantgardefilme, die neuesten Tendenzen der bildenden
Kunst, Lebenskulturphänomene. Ihr Aufsatz über die "Camp"-Kultur - die
augenzwinkernde Freude am Trash, wie man sie zuerst in der Schwulenszene
kultivierte - machte sie zu einer Celebrity. Sontag drückte aus, was in der
Luft lag, aber doch war sie es, die es ausdrückte - schließlich, wer ein
Kind seiner Zeit ist, ist doch auch ein Akteur dieser Zeit.
Oder ihr Essay "Against Interpretation". Darin beschwört sie das Eigenleben
der Kunst und verdammt die intellektuelle Suche nach "Bedeutungen". Die
Interpretation sei die "Rache des Intellekts an der Kunst", denn wer das
Kunstwerk auf seinen "Inhalt" reduziert, der zähmt es. Es ist ein Hohelied
auf die "sinnliche Erfahrung". Es war, in gewissem Sinn, ein Angriff der
Kritikerin auf ihr ureigenes Geschäft, der antiintellektuelle Wutausbruch
einer Intellektuellen.
Es ist ein alteingesessenes intellektuellenfeindliches Vorurteil, dass das
Denken lustfeindlich wäre. Wie falsch das ist, zeigen viele
Intellektuellenleben. "Sinnliche Erfahrung", "sensorische Fähigkeiten",
"Abstumpfung", "Erotik der Kunst" - es sind solche Formulierungen des
reichen Erlebens, die Sontags "Interpretations"-Essay durchziehen.
Antagonistisch zum kritischen Räsonieren muss eine solche Sensitivität
nicht sein. "Intellektuelles ,Begehren' wie sexuelles Begehren", notierte
sie in ihr Tagebuch. Und: "Intellektuelle Ekstase". Auch die Dichte des
Denkens ist eine Intensität des Erlebens. Kaum ein Begriff steht so zentral
in Sontags Essayistik wie der Begriff der "Intensität". Große
Schriftsteller, schreibt sie, "sind entweder Ehemänner oder Liebhaber.
Bekanntermaßen sind Frauen bereit, beim Liebhaber um des intensiven Gefühls
willen, das er in ihnen erweckt, Eigenschaften - wie launisches Gebaren,
Selbstsucht, Unzuverlässigkeit und Brutalität - zu tolerieren, die sie beim
Ehemann niemals dulden würden."
Über die Spannung zwischen Lyrik und Prosa schrieb sie, die Romantik
verteidigte die Lyrik, indem sie die Prosa verächtlich machte, indem sie
"prosaisch" zu einem herabsetzenden Begriff machte, "in der Bedeutung von
langweilig, abgedroschen, alltäglich, zahm", während die Poesie "als ein
Ideal von Intensität" gefeiert würde. Die Prosa galt da schnell als etwas
für lahme Gemüter.
Immer wieder fällt bei ihr dieses Stichwort: Intensität. Tempo, der Reiz,
den eine "Tendenz zum Ungesunden" verströmt, das Ideal persönlicher Kraft.
Oder auch, wie noch in den spätesten Essays: Risiko.
Wenn Susan Sontag von etwas getrieben war, dann von der Gier nach Leben,
der Sucht nach Intensität. Sie hat das durchgezogen, bis sie mit
einundsiebzig Jahren starb. In Daniel Schreibers fesselnder Biografie kann
man das nachlesen. Radikal war sie noch im Kampf gegen den Tod, den sie als
42-Jährige erstmals gewann, als sie sich mit den härtesten Therapien gegen
den Brustkrebs verteidigte, und später noch einmal, als sie eine seltene
Form von Unterleibskrebs bezwang (erst die Leukämie, Folge der
Chemotherapien, brachte sie mit 71 Jahren um). Selbst in Phasen der
Rekonvaleszenz warf sie sich ins Leben: Kein Tag ohne Kino, kein Abend ohne
Ausstellungsbesuch, immer unterwegs zwischen New York, Paris, Berlin,
Sarajevo. Und alles, noch der Krebs, wurde Material: "Krankheit als
Metapher" wurde einer ihrer berühmtesten Essays.
Es gibt zwei romantische Ideen -wenn man so will: Klischees - vom
Schriftsteller: die vom solitären Genie und die vom dem, der sich der Welt
aussetzt, das Leben in seiner dichtesten Form als Rohstoff nimmt. Der eine
schreibt seine Verse, wo immer er einsam genug dafür ist, ihm brennt sich
seine Zeit ein, weil er sich von ihr fernhält; der andere braucht die
anderen, er verkörpert seine Zeit, indem er sie möglichst nahe an sich
heranlässt. Wie jedes Klischee hat auch dieses seine Verankerung in der
Realität. Es gibt Orte, an denen sich ein Übermaß an Talenten konzentriert,
und Momente, in denen der Zeitgeist dem Neuen günstig ist. Greenwich
Village war so ein Ort, und die frühen Sechzigerjahre waren so eine Zeit.
Und Susan Sontag war so ein Autorentypus. Sie war, im besten aller
möglichen Sinne, Produkt ihrer Umstände. Wer ein Programm wie das ihre auf
sich allein gestellt zu verfechten suchte, der stünde auf verlorenem
Posten. So befruchtete sich eine ganze Generation gegenseitig: der
Sänger-Poet Bob Dylan, Konzeptkunst, die Happeningszene, Autoren wie
William S. Burroughs und Alain Ginsberg, die nach einer neuen Sprache
suchten, Musiker wie John Cage. Sex, Drugs, Rock n Roll. Norman Mailer,
Andy Warhol, Merce Cunningham, Robert Wilson - man hatte bei Gott nicht
immer gemeinsame ästhetische Konzepte, aber man bewohnte dasselbe Viertel.
Mit Warren Beatty hatte sie damals eine Beziehung, ihr letztes
Männerverhältnis. Später wurde sie mit der Starfotografin Annie Leibovitz
New Yorks "First Lesbian Couple". Publik machte Sontag, die ansonsten so
sehr auch auf die öffentliche "Celebrity" achtete, ihre Beziehung nie.
Offenkundig, weil sie die allgemeine Reputation als "Schriftstellerin" der
speziellen Reputation der "lesbischen Schriftstellerin" vorzog.
Biotop nannte man solche Gegenden, schon bevor noch von "Creative
Industries", "Creative Classes" und "Gentrifizierung" die Rede war. Man war
jung in einem eminenten Sinne. "Forever Young", sang Bob Dylan. Damit war
mehr gemeint als die biologische Jugend, aber es war auch eine jener
Illusionen, für die biologische Jugend anfällig macht. "Die Angst, alt zu
werden", notierte Susan Sontag in ihr Tagebuch, "entspringt der Einsicht,
dass man nicht das Leben lebt, das man zu leben wünscht. Es ist ein anderer
Ausdruck für das Gefühl, die Gegenwart zu missbrauchen." Sie war damals
gerade achtundzwanzig.
Es ist ein Glück, solchen Beginner-Generationen anzugehören. Aber auch ein
Fluch. Man macht reinen Tisch, begründet mit Wucht eine neue Zeitrechnung,
im Sinne des "positiven Begriffs von Barbarentum", von dem Walter Benjamin
sprach, jener Walter Benjamin übrigens, dem Susan Sontag gewiss nicht
zufällig einen ihrer großen Essays widmete. Aber man hat dann, wenn die
dichten Jahre vorbei sind, das Milieu, aus dem man schöpfte, zerfallen und
der Zeitbruch vollzogen ist, oft auch seine Zukunft hinter sich -
wenigstens läuft man leicht der Grandiosität von drei, vier Saisons
hinterher. Und geht als Denkmal dessen durch die Welt, der man in seinen
Zwanzigern war. Das bleibt auch den Besten nicht erspart, selbst wenn sie
viel daransetzen, sich regelmäßig neu zu erfinden. "Die Sechziger waren
eine grandiose Zeit, die wichtigste meines Lebens", sagte Sontag einmal.
Und an anderer Stelle schrieb sie von "jener inzwischen mythischen Epoche,
die als die Sechzigerjahre bekannt ist". Nur, damals, als die Epoche
lebendig war, "waren es eben noch nicht die Sechzigerjahre".
Als Autorin war Susan Sontag originell und unoriginell zugleich, man kann
auch sagen: modern und modisch. Stets war sie auf der Suche, türmte fast
obsessiv Wissen auf, entdeckte neue Autoren - landete dabei aber doch bei
dem, was spätestens kurz danach dem Zeitgenössischen gut und teuer sein
würde: bei Godard und Ingmar Bergman, bei Roland Barthes, Joseph Brodsky,
Cioran, Canetti. Auch sie blickte zurück: in ihrem Benjamin-Essay, auf
Dostojewski, Rilke, Pasternak, Paul Valéry, André Gide. Ihre Essayistik
orientierte sich an den formalen Kategorien, die diese Vorbilder etabliert
hatten, was freilich auch heißt, dass ihr Stil nicht wirklich "jung" war -
ein Susan-Sontag-Essay hatte in etwa jenes formale Niveau, wie es seit den
Dreißigerjahren etabliert war, etwa auf den Seiten der Neuen Rundschau, um
nur ein Beispiel zu nennen. "Jung" waren eher die Themen: Film, Fotografie,
Happenings. Sie war von fast altmodischer Gelehrsamkeit, aber vom Jargon
des Akademischen früh geheilt. Es war unverkennbar positiv geurteilt, wenn
sie über Roland Barthes schrieb: "Indem er sich von den Theorien
verabschiedete, legte er auch weniger Gewicht auf den zur Moderne
gehörenden Standard der Schwerverständlichkeit."
Jeder Essayist schreibt, wenn er über einen anderen schreibt, immer auch
über sich. Bei Susan Sontag war diese Eigenart nur besonders ausgeprägt,
aber vielleicht lag das an einer Leidenschaftlichkeit, die es ihr nicht
möglich machte, diese Spuren des Selbst hinter Subtilitäten zu verbergen.
Es schreit, gerade da, wo sie am besten ist, förmlich aus ihr heraus: So
will ich auch sein! So präsentiert der packendste Essay des eben posthum
erschienenen Aufsatzbandes den unorthodoxen Trotzkisten Victor Serge.
Der als Sohn russischer Emigranten in Belgien geborene Schriftsteller und
Revolutionär ist einer der großen, vergessenen Helden des zwanzigsten
Jahrhunderts. Erst kämpfte er aufseiten der Bolschewiki, dann aufseiten der
trotzkistischen Poum im Spanischen Bürgerkrieg, aber auch Trotzki verstieß
ihn, weil er sich keiner Dogmatik unterordnen wollte. Und zeitlebens war er
ein ebenso produktiver wie großartiger Stilist, der Romane, Pamphlete,
Biografien schrieb. Mit regelrechter Verehrung schreibt Sontag über Serge
"und die Fragen, denen er seinen Scharfblick, seine Redlichkeit, seinen
Mut, seine Niederlagen widmete - Wie soll man leben? Wie kann man seinem
Leben einen Sinn geben? Wie kann man den Unterdrückten ein besseres Leben
verschaffen?".
Man geht anders durchs Leben, wenn man seine Niederlagen noch vor sich hat.
Und gewiss auch hat die Zeit größere Niederlagen für Menschen wie Serge
bereitgehalten als die ihre für Leute wie Sontag. Aber doch war die
Generation der jungen Sontag die letzte, die von einem vorbehaltlosen
Bekenntnis zu ihrem Zeitalter geprägt war. Es ist, zumal für kulturell
Moderne, eine Frage von eminenter Relevanz: Wie steht man zu seinem
Zeitalter? Kann man modern sein ohne Zukunftspathos? Wie ist es um den
Index der Zeit bestellt, wenn die Illusionen verbraucht sind und an den
"Fortschritt" nur mehr Arbeitgeberfunktionäre glauben, die mit diesem eine
Mischung aus Globalisierung, Deregulierung der Arbeitsmärkte und
Computerisierung meinen? Modernes Bewusstsein, zumal wenn es mit
rebellischem Elan legiert ist, war, um es mit Benjamins Worten zu sagen,
immer getragen von Kritik der Gegenwart bei gleichzeitig "rückhaltlosem
Bekenntnis" zu dieser - oder einfacher gesagt, von utopischem
Fortschrittsbewusstsein. "Die Moderne war", schreibt Susan Sontag in
"Dreißig Jahre später" über die Sixties, "immer noch eine lebenssprühende
Idee. (Das war vor den Kapitulationen, die sich in der Vorstellung der
,Postmoderne' verkörpern)." Weiter: "Wie wundervoll das alles im Rückblick
erscheint. Wie sehr man sich wünschte, dass ein wenig von der Kühnheit, dem
Optimismus, der Verachtung für den Kommerz überlebt hätte. […] Die Zeit, in
der wir leben, wird nicht als utopischer Moment erfahren, sondern als das
Ende - genauer gesagt, als die Zeit unmittelbar nach dem Ende - jedweder
Ideale. […] Heute kommt den meisten Menschen allein schon die Idee des
Ernsthaften (und des Ehrenhaften) kurios vor, ,unrealistisch'."
Sontag hat wohl verstanden, dass sie verstrickt war in die Prozesse, deren
Resultate sie so beklagte. Sie modellierte sich zur Medienintellektuellen
mit Glamour, war aber damit Teil der Auflösung aller Seriosität in das
Spiel mit der Beachtung. "Der Einfluss, den ein Schriftsteller heutzutage
ausüben kann, ist rein zufälliger Art. Er ist nichts weiter als ein
Bestandteil der Prominentenkultur", führte Sontag in einer ihren letzten
Reden aus.
Doch in den Sechzigerjahren war ihr noch nicht klar, "dass der Ernst selbst
anfing, in der Kultur insgesamt an Glaubwürdigkeit zu verlieren, und dass
ein Teil der mehr auf Verstöße abzielenden Kunst, die mir zusagte, dazu
diente, frivole, lediglich am Konsum ausgerichtete Verstöße zu
unterstützen."
Das Künstler-Ich war selbst ein konsumierbares Produkt geworden, und auch
die Autorin mit der Witterung für das "Next New Thing" wurde zu einer
stilisierten Marke, die Aufmerksamkeit dafür bekommt, wie sie etwas sagt,
für ihre Gestik, ihre Theatralik - schön und cool. Im Fernsehzeitalter
agiert der öffentliche Intellektuelle stets, auch wenn keine Kamera auf ihn
gerichtet ist, als wäre eine Kamera auf ihn gerichtet.
Der gesellschaftliche Wandel, der die Voraussetzung für Sontags Kultstatus
war, bewirkte auch, dass die Wörter auf zunehmend schwankendem Boden
standen. Was genau sie sagte, war nicht so wichtig, oder besser, es war im
Notfall austauschbar, sofern nur der Sound passte und die Figur stimmig
war: "Der Anspruch, möglichst das letzte Wort zu haben, wohnt allem
kraftvollen Formulieren inne." Sontag hat das früh und eher instinktiv
erkannt. In ihr Tagebuch schrieb sie über die Fortschritte an einem Essay
über Pornografie, den sie gerade in Arbeit hatte. "Ich komme ans Ende der
Besprechung. […] Sie ist okay. Freilich, ich glaube kein Wort von dem, was
ich sage." Die moderne Infotainmentkultur winkte da bereits, in der weniger
zählt, was jemand sagt, und mehr, wie er oder sie es sagt.
Es hat in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern in den letzten
beiden Jahrzehnten eine erschreckende Verschiebung von moralischen
Einstellungen gegeben. Ihr Markenzeichen ist die Diskreditierung jedweden
Idealismus, ja des Altruismus selbst, und hoher Maßstäbe aller Art,
kultureller wie moralischer", schrieb Sontag Ende der Neunzigerjahre in
Beantwortung eines Fragebogens. Gewiss hat das mit dem ideologischen
Klassenkampf von oben zu tun, der es schaffte, alles Streben jenseits
nackten Eigennutzes mit dem Flair des Lächerlichen zu umgeben und umgekehrt
das Gewinnstreben mit einem Heroismus der kalten Schneidigkeit zu
verbinden. Schon John Maynard Keynes wusste: Dass die Lehre des radikalen
Marktliberalismus, "in die Praxis übersetzt, spartanisch und oft
widerwärtig war, verlieh ihr einen Anspruch von Tugend".
Seit Keynes hat der Kapitalismus seine widerwärtigen Seiten nicht verloren,
im Gegenteil, aber doch sein asketisches Ideal. Der brutale
Herrenreitergestus ist der Freihandelsapologie zwar geblieben - schließlich
habe man kalten Herzens die Realitäten "zur Kenntnis zu nehmen", aber die
Härte ist auch von einer Korona der Frivolität umkränzt. Denn im
Konsumismus ist der Kapitalismus ein Bündnis mit den Lastern eingegangen -
die Konsumtionsspirale hält auch am Laufen, wer Hardcore-Pornos schaut,
tonnenweise Fastfood in sich hineinstopft oder sich eine private
Flugzeugflotte hält. "Ich sehe Vielversprechendes in den Aktivitäten der
jungen Leute", sagte Sontag in ihrer berühmten Rede "Whats happening in
America?", "dazu gehört sowohl ihr Interesse an Politik […] wie auch die
Art, zu tanzen, sich zu kleiden, ihre Haare zu tragen, Randale und Liebe zu
machen." Der Spaß erschien damals noch als Spielart der Subversion. Heute
ist er der Motor der Konsumnachfrage.
Die Moral hat einen schweren Stand, weil ihr Bündnis mit dem Fortschritt
zerbrach. Die Moral hat etwas Leichtes und Kräftiges zugleich, wenn sie von
der Gewissheit getragen ist, dass sie die Geschichte auf ihrer Seite hat
und der Fortschritt zur moralischen Verbesserung der Menschheit beiträgt,
kurzum: wenn sich die Moral selbst "mit den Realitäten" im Bunde weiß.
Moral mit Modernismus gepaart ergibt Optimismus. Auf sich allein gestellt
neigt sie zum Moralisieren. Moral, die den Wind im Rücken wähnt, kann sich
im Impliziten begnügen. Bläst ihr der Wind aber ins Gesicht, wird die Moral
schnell als Moralismus ostentativ, sie herrscht einen an, geht einem auf
die Nerven. "Es ist korrumpierend, wenn man schon in der Absicht, zu
moralisieren, schreibt, mit dem Ziel, die moralischen Standards der
Menschen zu heben", notierte Susan Sontag Ende der Fünfzigerjahre.
Mit dem Hang zur Selbststilisierung, besessen davon, eine zu sein, die sie
selbst bewundern kann, prätendierte Sontag zunehmend, "in den Ruinen der
Geschichte" (New York Review of Books) zu stehen. Aber Melancholie ist ein
ungesundes Weltverhältnis. Modernität ist auch ein Willensakt. Die Dichte
der Sprache, die Sontag in den Sechzigerjahren schrieb, in diesen Essays,
in denen jeder Satz ein Hackenknall war und jede These wie ein Degenhieb
saß, könnte uns auch daran erinnern, dass der unbedingte Wille, modern zu
sein, auch schierer Voluntarismus ist. Rimbauds "Il faut être absolument
moderne" ("Wir müssen unbedingt modern sein") klingt hier nach. Die
"Moderne" hatte ihre besten Momente, wenn genügend Menschen diesen
Willensakt aufbrachten. Selbstredend, wir wissen, um Marx zu
paraphrasieren, die Menschen machen ihre Moderne selbst, aber sie machen
sie nicht aus freien Stücken. Doch sie machen ihre Umstände schon auch in
demselben Maße, wie die Umstände sie machen.
Wir sollten wieder modern sein.
ROBERT MISIK, Jahrgang 1966, lebt als
Journalist und Schriftsteller in Wien
LITERATUR: Susan Sontag: "Zur gleichen Zeit". Hanser Verlag 2008, 296
Seiten, 21,50 Euro
Daniel Schreiber: "Susan Sontag. Geist und
Glamour". Aufbau-Verlag 2007, 342 Seiten,
22,95 Euro
Annie Leibovitz: "A Photographers Life".
Schirmer/Mosel 2006, 472 Seiten, 78 Euro
Sontags Bücher erschienen auf Deutsch im Hanser Verlag, als Taschenbücher
im Fischer Verlag
22 Aug 2008
## AUTOREN
Robert Misik
## TAGS
Psychologie
Tagebücher
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