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# taz.de -- Leslie Jamisons Essay über Empathie: Schmerz und Mitgefühl
> In einer aufregenden Mischung aus Essay, Reportage und Erzählung erkundet
> Leslie Jamison die letzten Winkel der menschlicher Psyche.
Bild: Der Ausdruck emotionaler Teilhabe ist von Mensch zu Mensch verschieden.
Vermutlich wird niemand bestreiten wollen, dass das Zeigen von Empathie
eine menschliche Regung ist, die den Menschen als ein Wesen auszeichnet,
das ihn von anderen unterscheidet. Aber dass die emotionale Teilnahme am
Schmerz eines anderen sehr unterschiedlich sein kann und vom Gegenüber auch
unterschiedlich wahrgenommen wird, dass Empathie nicht nur als reines und
nobles Mitgefühl auftritt, das ohne Hintergedanken auskommt und nicht durch
psychische Defekte verformt wird, diesen Uneindeutigkeiten und Abweichungen
folgt Leslie Jamison in einer herausragenden Mischung aus Essay, Reportage
und Erzählung bis in die letzten Winkel menschlicher Psyche.
Sie schreibt nicht mit dem distanzierten Blick eines Außenstehenden,
sondern begibt sich in Situationen, aus denen sie nicht unversehrt wieder
herauskommt, sie erkundet an sich selbst, was die Empathie mit ihr
angesichts unfassbaren Schmerzes oder des unfassbaren Schicksals anderer
anstellt. Und ihre Reflexionen sind immer erhellend.
Ihre „Empathie-Tests“ stellt die 1983 geborene Leslie Jamison, die mit
ihrem Buch in den USA großen Erfolg hatte, an merkwürdigen Orten an – wie
an der Universität, wo sie für Medizinstudenten als Patientendarstellerin
auftritt. Sie muss in das Leben eines ihr fremden Menschen eintauchen, muss
sich ihm anverwandeln, seine Krankheitssymptome nachempfinden und möglichst
echt vortäuschen. Ihre Spezialität ist eine Konversionsstörung, die durch
die Trauer über den Tod des Bruders hervorgerufen wurde und sich in
Krampfanfällen äußert, die von den Studenten als Schwangerschaftssymptome
missverstanden werden. Leslie Jamison bekommt dafür in der Stunde 13,50
Dollar.
Während es sich hier noch um eine Art Spiel handelt, begibt sie sich auf
einer Konferenz, die zur Morgellons-Krankheit abgehalten wird, in eine
„merkwürdige Grauzone der Anteilnahme“. Bei der Morgellons-Krankheit
handelt es sich nämlich um ein Kuriosum, denn für die Symptome –
„entzündliche Stellen, Juckreiz, Müdigkeit, Schmerzen, das Gefühl,
wimmelnde Insekten auf der Haut zu haben“, mit der Folge von Bläschen- und
Schorfbildung bis hin zur Entstellung – erfanden die Ärzte, die nichts
feststellen konnten, irgendwann den Begriff des
„Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms“. Die Frage stellte sich, welche
Wirklichkeit als Voraussetzung für Mitgefühl gelten darf: „Ist der Begriff
Empathie gerechtfertigt, wenn man der Tatsache des Leidens eines Menschen
Glauben schenkt, nicht aber der behaupteten Ursache dieses Leidens?“
## Keine eindeutigen Antworten
Jamison hat keine eindeutigen Antworten darauf, die eine Vereinfachung
bedeuten, wo Zweifel angebracht sind. „So wie die Dinge liegen, kann ich
mich keinen Zentimeter bewegen und keinen Satz zu Ende bringen, ohne in
eine Krise der Zuschreibungen und mitschwingenden Bedeutungen zu trudeln.“
Die Unklarheit über die Genese verführt dazu, dem eigenen Mitgefühl
skeptisch gegenüberzustehen.
Und dennoch ist die Krankheit real, wie Jamison in ihren Interviews mit
Morgellons-Patienten zeigt, die ihre Selbstzerstörung betreiben, weil
nichts ihr Leiden lindert. Sie sind auf sich selbst zurückgeworfen,
entwickeln Obsessionen und fragwürdige Therapien im Umgang mit einer
eigentlich inexistenten Krankheit, weshalb ihr ganzes Leben darauf
ausgerichtet ist, etwas gegen die Schmerzen zu finden, das hilft und sie
aus ihrer Fokussierung auf die Krankheit reißt.
In einer anderen Reportage versucht Leslie Jamison herauszufinden, was
Menschen dazu treibt, am Barkley Marathon teilzunehmen, der wahrscheinlich
als der härteste der Welt gilt. Dieser Lauf durch die Wildnis im Norden von
Tennessee geht auf James Earl Ray zurück, den Mann, der Martin Luther King
erschossen hat. Er wurde nach einem Gefängnisausbruch nach einundfünfzig
Stunden gut dreizehn Kilometer entfernt wieder eingefangen.
Wenn man die undurchsichtigen und willkürlichen Aufnahmebedingungen
geschafft hat, nimmt man besser einen Kompass mit, Schmerztabletten,
Wachhaltetabletten und Elektrolyttabletten. Ins Leben gerufen wurde die
jährlich stattfindende Veranstaltung von einem Mann, „der sich der Idee des
Schmerzes so radikal verschrieben hat, dass er andere dafür rekrutiert,
nach ihm, dem Schmerz, zu streben“, um den Körper auf existenzielle Weise
wahrzunehmen, bis der Verstand „vor Schmerz taub und gläsern geworden ist“.
## Offene Herzen
Während der selbst zugefügte Schmerz beim Marathon gesellschaftliches
Ansehen genießt, erscheint der Schrei von Ritzern nach Aufmerksamkeit als
Verbrechen, zumindest als aufdringlich und trivial – „so, als wäre es
fundamental egomanisch, sich nach Aufmerksamkeit zu sehnen. Aber ist dieser
Wunsch nicht ein grundlegender Wesenszug des Menschen? Und ist
Aufmerksamkeit nicht eines der größten Geschenke, die wir anderen machen
können?“
Leslie Jamison bringt die Unsicherheit in gesellschaftlich
festgeschriebenes Denken zurück, sie betrachtet die dunkle Kehrseite und
plädiert für „offene Herzen“, für eine Bereitschaft, sich dem Zustand
emotionaler Abgeklärtheit zu verweigern. Ihre Überzeugungskraft ist
erstaunlich, denn sie folgt keinen auf der Hand liegenden Argumentationen,
ihr Stil ist dicht, präzise und an manchen Stellen sehr poetisch, ihre
Reflexionen erfordern an einigen Stellen durchaus eine intellektuelle
Anstrengung, weil sie nie nach einfachen Lösungen strebt, sondern in alle
Richtungen denkt, und dennoch entwickelt ihr Schreiben einen Sog, der einen
nicht mehr loslässt. Was vielleicht auch daran liegt, dass sie sich für
ihre Recherchen an unbeachtete und der Öffentlichkeit verborgen gebliebene
Orte begibt und Dinge verhandelt, die nicht schon hundertmal verhandelt
wurden.
„Seit Susan Sontag und Joan Didion hat niemand aufregendere Essays
geschrieben“, schreibt Daniel Schreiber, und man kann ihm nur zustimmen,
denn Leslie Jamison trifft mit ihren „Empathie-Tests“ einen Nerv bei jedem
von uns.
14 Oct 2015
## AUTOREN
Klaus Bittermann
## TAGS
Psychologie
Essay
Empathie
Sachbuch
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Philosophie
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Burnout
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