# taz.de -- Debatte Flüchtlingshilfe: Wie weit reicht die Empathie? | |
> Die Deutschen helfen, die Kanzlerin wird emotional. Und doch bleiben | |
> Orte, an denen Angst herrscht. Und eben keine Empathie. Hat sie Grenzen? | |
Bild: Deutschlernen mit Merkel in einer Erstaufnahmeeinrichtung. | |
Am Dienstag hat sie dann diesen Satz gesagt. Angela Merkel steht mit ihrem | |
österreichischen Kollegen Werner Faymann vor den Journalisten in Berlin. | |
Man hat ihr viel vorgeworfen in diesen Tagen. Unter anderem, dass sie mit | |
ihrer demonstrativen Offenheit gegenüber den Flüchtlingen immer noch mehr | |
anlocke. Die Kanzlerin wirkt ein klein wenig bitter, aber auch sehr | |
entschlossen als sie dieser Kritik begegnet: „Ich muss ganz ehrlich sagen: | |
Wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir | |
in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein | |
Land.“ | |
Jetzt steht da dieser Satz. Ein großes Bekenntnis. | |
Es scheint in die Zeit zu passen, in der in Deutschland an Bahnhöfen | |
geklatscht wird, wenn Syrer, Afghanen oder Iraker ankommen. Die Empathie | |
gegenüber den Flüchtlingen ist weit verbreitet. „Dieser Optimismus leitet | |
mich, auch, wenn es dieses mal sehr, sehr schwer ist und wenn dieses mal | |
sicherlich auch noch größere Hürden zu überwinden sind“, sagt Angela Merk… | |
in jener Pressekonferenz. | |
„Weiß sie, was sie tut?“, titelte dann am Donnerstag die Zeit. Dagegen. Der | |
Ansturm sei kaum zu beherrschen. Syrer kämen, die keine Syrer seien. Und so | |
weiter. | |
Weiß sie, was sie tut: Auch dieser Satz steht jetzt da. Er klingt nach | |
einer Zeit, in der 96 Prozent der Deutschen es für wichtig hielten, das | |
„Problem der Ausländer in den Griff zu bekommen“. Das war 1992. Damals | |
organisierte ein junger Redakteur der Süddeutschen Zeitung Lichterketten. | |
Sein Name war Giovanni di Lorenzo. Er ist heute Chefredakteur der Zeit. | |
Ein Gefühl, das der Empathie Konkurrenz macht, ist die Angst. Nun ringen | |
beide Gefühle miteinander. In Angela Merkels Partei, die mit ihren | |
Bekenntnissen für viele viel zu weit gegangen ist. Und im ganzen Land. | |
## Wie lange wird das Mitgefühl halten? | |
Deutschland beherbergt derzeit 40 Prozent aller Flüchtlinge in Europa. „Wir | |
können das schaffen und wir schaffen das“, sagt Merkel immer wieder. | |
Wahrscheinlich wird sich in den Kreisen, den Städten, da wo die Flüchtlinge | |
jetzt landen, zeigen, ob die Empathie oder die Angst gewinnt. Die dafür | |
benötigten Strukturen sind in Deutschland vorhanden. Hilfsorganisationen | |
führen seit Jahren Katastrophenschutz-Übungen durch, die Lager sind voll | |
mit Betten, Zelten und Schlafsäcken, und es scheint, als wären tausende | |
ehrenamtliche Helfer auf Bereitschaft abrufbar. Doch wie lange werden die | |
Freiwilligen helfen wollen? | |
Für die taz.am wochenende ist ein Team von Autoren der Frage nachgegangen, | |
wie das Mitgefühl entsteht, wovon es abhängt und auch: wie lange es wohl | |
halten wird. Dafür haben sie München besucht, das Schlagzeilen gemacht hat | |
als eine Art Hauptstadt der Empathie. Immer noch wissen die Studenten, die | |
die freiwilligen Helfer koordinieren, gar nicht mehr wohin mit den | |
Lebensmitteln, dicken Pullovern und Kuscheltieren. Immer noch bleiben | |
Menschen stehen, sobald ein Zug mit Flüchtlingen ankommt. Schenken den | |
Asylsuchenden ein aufmunterndes Lächeln oder eine Packung Gummibären. | |
Unsere Autoren haben aber auch den Neurowissenschaftler Emile Bruneau in | |
Philadelphia in den USA getroffen, der sich seit sechs Jahren mit der Frage | |
befasst, wie man Menschen vor ihren Konflikten miteinander bewahrt. | |
Empathie könnte dafür eine Lösung sein, glaubt er. Manche Bilder lösen in | |
Menschen Mechanismen und Gefühle aus, die sie über sich und ihre Vernunft | |
hinaus wachsen lassen. Handeln aus Empathie reicht dabei weit über einen | |
guten Willen oder politisches Engagement hinaus. Das beste Beispiel dafür | |
ist John Henderson. | |
## „Ich fühle mich einfach verantwortlich“ | |
Auf dem mittlerweile berüchtigten Fernbahnhof Keleti, steht er in der | |
Woche, in der dort alle Welt hinsieht, umringt von einer Mutter mit ihren | |
beiden Kindern. Sie sind sechs und acht Jahre alt. Um sie herum kauern | |
Dutzende Flüchtende auf dem Boden. Die Frau wohnt in Budapest und ist | |
gerade gekommen, weil sie helfen will. Sie hat eine Stunde Zeit, sagt die | |
Mutter. Sie fragt: Was kann sie tun? Was können ihre Kinder tun? | |
Für eine Stunde vorbeikommen und helfen, ist das noch Hilfe – oder belastet | |
das eigentlich nur? Henderson ist überfordert. Er blickt in die Ferne, er | |
muss sich jetzt einfach entscheiden. Er presst seine Lippen aufeinander, | |
dann blickt er wieder die Frau an. Nein, sorry, gerade fällt ihm nichts | |
ein. Er kann dieser Frau, die doch so gern helfen will, gerade einfach | |
nicht helfen. | |
Henderson ist einer der wichtigsten Männer auf diesem Platz, auf dem die | |
Hilfe für die Flüchtenden seit Monaten von ehrenamtlichen Helfern | |
organisiert wird. Er übernimmt die Koordination. Täglich gehen er und seine | |
Helfer mit blauen Ikea-Tüten durch die Mengen und verteilen Bananen. Sie | |
müssen hier nicht nur Mitgefühl zeigen, sondern sich vor allem auch selbst | |
zu verteidigen wissen. Das ist keine Aufgabe für Mütter und kleine Kinder. | |
„Man muss sich im Zweifel auch wehren können.“ | |
Empathie – ist das vielleicht: Wenn es nicht nur gut gemeint ist, sondern | |
auch noch gut gemacht? Oder umgekehrt: Was ist sie wert, wenn all das | |
Mitfühlen und das Helfen wollen sich nur im Gefühl verlieren? | |
„Es ist eigentlich eine einfache Sache“, sagt Henderson. „Ich sehe in die | |
Augen der Kinder, die täglich hier ankommen, und möchte helfen. Sie sind | |
nett und lustig und hochgradig traumatisiert. Ich fühle mich einfach | |
verantwortlich.“ | |
## Zäune werden gebaut, meterhoch | |
An anderen Orten dominiert statt Empathie und Verantwortung nur die Angst. | |
Angst vor Islamisierung und Terrorismus, Angst vor Kontrollverlust oder | |
einfach nur Angst vor dem Unbekannten. Johanngeorgenstadt an der | |
tschechischen Grenze ist einer dieser Orte. Auch dort waren unsere | |
Reporter, weil der Stadtrat sich vor drei Wochen gegen eine neue | |
Flüchtlingsunterkunft ausgesprochen hat. Die Bewohner der kleinen Stadt im | |
Erzgebirge haben erst am Montag wieder protestiert gegen eine Unterbringung | |
für 150 Asylsuchende. | |
Friedliche Demonstrationen sind als Abwehr oder Folge einer Empathie-Welle | |
nur der erste Schritt. Es gibt nach wie vor Brandanschläge auf | |
Flüchtlingsunterkünfte. Zäune werden gebaut, meterhoch und mit Stacheldraht | |
versehen. Warum lösen die Bilder von Flüchtlingen in manchen Menschen | |
Empathie aus und in anderen nicht? | |
Und kann es auch zu viel Empathie geben? | |
In München jedenfalls fühlt sich der Oberbürgermeister mittlerweile | |
überfordert und von Bund und Ländern im Stich gelassen. Und an diesem | |
Wochenende beginnt das Oktoberfest. | |
Was glauben Sie? | |
Wie weit reicht die Empathie? | |
Diskutieren Sie mit! | |
Die Titelgeschichte „Die Macht des Mitgefühls“ lesen sie in der [1][taz.am | |
wochenende vom 19./20. September 2015]. | |
18 Sep 2015 | |
## LINKS | |
[1] /Ausgabe-vom-19/20-September-2015/!161071/ | |
## AUTOREN | |
Martin Kaul | |
Theresa Volk | |
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